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Montag, 6. April 2015
Seelsorge für Islandpferde

Kirche von Búðir, Snæfellsnes, Ísland
Da nun einmal Ostern ist, in Island traditionell das Fest der letzten Schneestürme, hier noch etwas Erbauliches zur Seelsorge am Gletscher:

‟Vorläufig möchte ich nur hervorheben, daß die Kirche aus Holz ist und ursprünglich mit Wellblech verkleidet war; davon ist jedoch nur noch das eine oder andere Stück übriggeblieben”, notiert der Entsandte des Bischofs in seinem Bericht. ‟Kistenbretter in den Fenstern; die Außentür fest zugenagelt. Der Kirchhof sieht auch ziemlich verwahrlost aus; kein Kreuz bildet mehr einen rechten Winkel mit seinem Fundament; diese Monumente, einige aus verrostetem Eisen, andere aus morschem Holz, sehen alle wie betrunken aus.” Nein, um die Seelsorge scheint es zumindest aus dem Blickwinkel der Kirche am Gletscher nicht gut bestellt zu sein. Der Pfarrer repariert lieber Primuskocher oder ist unterwegs, um Pferde zu beschlagen.

Doch seine Gemeindeschafe sind’s zufrieden: ‟Sira Jón hat früher wenig verkündet, und jetzt verkündet er noch weniger. Zum Glück würde manch einer sagen. Nun ist es aber nicht so, daß wir hier gegen Lehren sind, und am allerwenigsten, wenn man sich nicht nach ihnen zu richten braucht.”

Der Pfarrer in der Gemeinde am Gletscher scheint in der Tat weniger ein Mann der Theorie als der handfesten Praxis zu sein. ‟Am 18. Juni, als Professor Doktor Otto Lidenbrock hierherkam, war der Gemeindepfarrer eifrig damit beschäftigt, ein Pferd zu beschlagen, und das war er auch jetzt wieder. Der Hufschmied war von der gleichen Art wie sein Vorgänger und beschlug das Pferd zu Ende, ehe er Gäste begrüßte. Das Pferd war ein großknochiger Gaul, der gerade in der Frühjahrsmauser war und noch nicht wieder gut im Futter stand.”


‟Um hross veit maður ekki nema eitt með vissu”, erklärt der Gletscherpfarrer. ‟Von einem Pferd weiß man nur eins mit Sicherheit: Es gehört keiner Kirchengemeinde an, ist nicht getauft, nicht erlöst; meist sitzt ein Betrunkener im Sattel. Obendrein besteht kein Bedarf für Pferde in einem Land, in dem Betrunkene und Nichtbetrunkene dazu übergegangen sind, Auto zu fahren. Dennoch hält man dieses Tier weiter, um damit großzutun, es zu quälen, darüber Lobgedichte zu machen und es zu essen... Meines Erachtens gehört das Beschlagen von Pferden zur Seelsorge.”
Die meisten pferdehaltenden Isländer nehmen die Seelsorge für ihre vierbeinigen Freunde ernst. So respektieren sie im allgemeinen, daß die Tiere ein Recht auf menschenfreien Urlaub haben. Man reitet sie im Winter bei Stallungen in der Nähe der Stadt und im Sommer auf dem Land ober bei Distanzritten übers Hochland; aber am Ende des Sommers kommen die allermeisten Pferde bis Weihnachten in weitläufige, offene Weidegebiete, wo man sie monatelang frei laufen läßt, damit sie sich ein wenig vom Menschen entwöhnen und ihren eigenen Willen wieder frei ausleben können. ‟Unsere Pferde brauchen das, sonst verlieren sie ihren eigenwilligen Charakter”, haben mir im Lauf der Jahre etliche Isländer versichert. Ich bin überzeugt, daß sie richtig und im Sinn der Tiere handeln.

‟Ja, ein wie gut geschnitztes Geschöpf ist doch das Pferd, so schön geformt, daß schon ein halber Strich mehr mit dem Schnitzmesser das ganze Werk zerstören würde”, wußte auch der weise Laxness. ‟Sieh dir den Huf an, in dem alle Finger der Welt sich vereinen: Klaue und Kralle, Hand und Patsche, Tatze und Flosse, Finne und Flügel. Sicherlich deshalb weil das Pferd etwas so Vollkommenes ist, hängt sein Wahrzeichen, das Hufeisen, bei uns über allen Türen, das Wahrzeichen von Glück, Fruchtbarkeit und Weib, das Gegenstück vom Kreuzeszeichen.”

‟Mit das Schönste und Großartigste, was man auf dem Lande erleben kann, ist der der Anblick von Pferden, die durchgehen, besonders viele zuhauf... Dann traben sie los, als flüchteten sie vor einem langsam fließenden glühenden Lavastrom, doch jede Bewegung ist blitzartig, als sei Wind in den Nerven... Plötzlich scheint es wie Feuer unter den Hufen dieser seltsamen Tiere zu fließen, sie rasen dahin wie der leibhaftige Sturm, über Geröll, Sümpfe und Schluchten, tauchen im Bruchteil eines Atemzugs den Rand des Hufs in den Brand, der unter ihren Füßen lodert, setzen über Wasserläufe, Klüfte und Klippen, rasen steile Abhänge hinauf, bis sie rettungslos eingeklemmt zwischen Steinblöcken ganz oben auf einem steilen Felsgrat stehen, sterben und gefressen werden von Vögeln.”

(Halldór Laxness: Atomstation)

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Freitag, 3. April 2015
Wo Behausungen wieder zu Erde und Staub werden

Auf dem Weg hinaus in die Wildnis gelangt man natürlich nach und nach in die Grenzbereiche der Zivilisation. In Regionen, die deren Segnungen noch nicht erreicht haben oder in denen etwas ihnen Widerstand leistet. Das kann sich selbst in der Osterzeit gegen fortschrittliche materielle Errungenschaften wie Eiserschalensollbruchstellenverursacher richten, aber auch gegen kulturelle Standards wie den Gebrauch von Messer und Gabel oder gar gegen zentrale Werte unserer christlich-abendländischen Kultur wie die Abhaltung von Gottesdiensten.
‟Es muß da im Westen etwas untersucht werden”, sagte der Bischof. ‟Die Seelsorge am Gletscher.” Der zuständige Pfarrer dort hält keinen Gottesdienst ab, er tauft und beerdigt nicht und, was noch verdächtiger ist, er hat seit zwanzig Jahren sein Gehalt nicht mehr abgeholt. ‟Jetzt gehen Gerüchte um, daß er erlaubt hat, eine Leiche auf den Snæfellsgletscher zu schaffen.”

‟Wir sind am Gletscher; der Fahrer sagt: ‘Hier müssen Sie aussteigen.’ Auf der anderen Seite der Straße, nach dem Meer zu, hinter einem Wiesenhügel, ist ein grasfreier, mit Schotter bedeckter Platz. Dort steht ein alter Schuppen, etwa zwei mal drei Meter groß, mit Wellblech verkleidet. Er ist verschlossen. Abend; Nebel hat sich auf die Bergränder gelegt. Außer dem Schuppen gibt es keine Anzeichen menschlicher Behausungen, nur eine morsche, in die Erde eingelassene Holzbank aus drei Planken an der einen Seite neben der Schuppentür... Der Nebel ist überall vom Gebirge herabgekommen und nirgends dunkler als da, wo nach der Karte der Gletscher sein soll.”

"Es war ein langer Gebäudekomplex, aus vielen einzelnen Bauten bestehend; ein länglicher Vorbau von Osten nach Westen, aus Holz, mit Wellblech verkleidet; Fenster und Tür auf der Seite, die zum Meer hin lag. Daran schlossen sich unförmige hölzerne Schuppen an, die allmählich in eine unendliche Anzahl baufälliger oder bereits zerfallener Grassodenhütten übergingen; die entferntesten verwuchsen mit den grünen Hügeln auf der Hauswiese."

(Halldór Laxness: Seelsorge am Gletscher)

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Dienstag, 31. März 2015
Drang ins Freie

‟I felt a sharp need to reach somewhere remote, where starlight fell clearly, where the wind
could blow upon me from its thirty-six directions, and where the existence of human presence
was minimal or absent.”

(R. MacFarlane)

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Samstag, 28. März 2015
Brünhilds Eldborg
Eldborg í Hnappadal
Da ich gerade in einem Kommentar das Nibelungenlied erwähnt habe: Auf dem Photo sieht man schön deutlich einen seiner Schauplätze. Den Ringwall von Brünhilds Schildburg, auf dem einmal die Waberlohe brannte.
Na ja, einer hübsch passenden Phantasie zufolge jedenfalls. Bekanntlich ist Brünhild im Nibelungenlied die stolze Königin von Island, nur hatte der Dichter des Nibelungenlieds von Island keinerlei Vorstellung und phantasierte sich und seinen Zuhörern ein ziemlich märchenhaftes höfisches Königreich um die Burg ‟Isenstein” zusammen. Die Dichter der Eddalieder über Siegfried (Sigurd) und Brünhild im Norden dürften mehr von Island gehört haben und sich besser auskennen. Einschlägig ist besonders das Lied von der Walküre Sigrdrifa (Sigrdrífumál), die man mit Brünhild gleichsetzt. Es beginnt so:
‟Sigvrþr reiþ vp a Hindarfiall oc stefndi svþr til Fraclandz; a fiallino sa hann lios mikit, sva sem eldr brynni, oc liomaþi af til himins. Enn er hann com at, þa stoþ þar scialdborg oc vp or merki.”
In der Übersetzung von Karl Simrock: ‟Sigurd ritt hinaus nach Hindarfiall und wandte sich südwärts gen Frankenland. Auf dem Berge sah er ein großes Licht gleich als brennte ein Feuer, von dem es zum Himmel emporleuchtete. Aber wie er hinzukam, stand da eine Schildburg und oben heraus ein Banner.”

Das bis zum Himmel leuchtende Feuer kommt noch in weiteren Eddaliedern vor, einmal in Skírnismál:

Mar gefðv mer þa
þann er mic vm myrcqvan beri
visan vafrloga

Simrock übersetzt:
"Gib mir dein rasches Ross, das mich sicher
Durch die flackernde Flamme führt".
An anderer Stelle, in der nicht im Codex Regius enthaltenen Fjölsvinnsmál, behält er indes das Nomen bei und läßt den Wächter Fiölswidr fragen:
"Welch Ungethüm ists, das vor dem Eingang steht,
Die Waberlohe umwandelnd?"
Hier haben wir sie also zweimal, die seltsame ‟Waberlohe”. Snorri Sturluson erzählt nun in seiner Edda: Als Gunnar (Gunther) später mit Sigurd und Gefolge kam, um Brünhild zu freien, mußte er zur Mannesprobe durch diese Waberlohe reiten, doch da sein Pferd es nicht schaffte, ritt Sigurd in seiner Gestalt und an seiner Statt auf seinem Pferd Grani durchs Feuer.
In den 1980er Jahren haben Walter Hansen und der Fotograf Eberhard Grames eine Reise durch Island unternommen und geleitet von der falschen Annahme, daß die Eddalieder in Island entstanden seien, nach Orten gesucht, die als reale Vorbilder für topographische Angaben in den Eddaliedern und anderen alten Texten gedient haben könnten. Grames hat tolle Fotos gemacht, und Hansen hat in ihrem Buch Asgard etliche scheinbar gut passende Zuschreibungen vorgenommen. In der Eldborg (‟Feuerburg”) im Hnappadalur meinten sie, die versteinerten Überreste und Schlacken von Brünhilds Schildburg mit der Waberlohe gefunden zu haben.
Hier hebt sie sich gerade dunkel und gut sichtbar von den noch verschneiten Bergen im Hintergrund ab. In den steilen Randwällen des Kraters nisten übrigens gern Raben.

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Dienstag, 24. März 2015
Raus aus der Stadt!

Heftige Stürme, hochragende Berge vor winzigen Höfen, eisige Nächte mit Nordlicht, Sonnenfinsternisse, unberechenbare Vulkanausbrüche – die Natur in Island gibt einem recht bald ein Gefühl zurück, das wir in unserem alltäglichen Leben in Mitteleuropa längst verloren haben: ein kleiner, verschwindend kleiner Teil von etwas zu sein, das größer, viel größer ist als wir, diese weltbeherrschende und -verderbende Spezies.
Dieses Gefühl kann erschreckend wirken. Es kann sich aber auch zu einem beglückenden und trügerischen Gefühl der Verbundenheit mit diesem Größeren, das wir Natur nennen, entwickeln. Trügerisch, weil wir aus dem Umstand, Teil von etwas zu sein, oft die Erwartung von Anteilnahme ableiten. Doch Anteilnehmen kann nur etwas, das selbst empfindet. Der Lavastrom, der sich noch immer als unaufhaltsamer Brei aus glühflüssigem Gestein über das Land wälzt, zeigt, welche Gefühle die Natur hegt.

Am Morgen, nachdem der Sturm abgezogen war, bedeckte eine dünne Schicht Neuschnee die gerade erst von Eis und Schnee befreite Erde. Am Himmel zog eine dunkel blaugraue Wolkenwand nach Nordwesten, dahinter war der Himmel klar und in der Frühe noch zart hellblau. Die Frostluft knisterte bei jedem Atemzug in der Nase wie der gefrorene Schnee unter den Füßen oder die Spikes der Autoreifen auf der Straße.
Früher brauchte man keine halbe Stunde zu fahren, um aus der Stadt hinaus in Gegenden zu kommen, in denen einem beim Wandern den ganzen Tag lang kein Mensch begegnete. Das ist nicht mehr so. In der Zwischenzeit hat Reykjavík neue Wohnviertel und Gewerbegebiete weit ins Land vorgeschoben wie Lava. Und die Zahl der Touristen, die das ganze Jahr durchs Land gekarrt werden, hat in meinen Augen eine kritische Größe erreicht. Doch seit sie alle z.B. im Blindflug durch den Tunnel unter dem Hvalfjörður rauschen, ist es im Fjord selbst wieder einsamer geworden. Wer weiß schon noch, daß sich in einer engen Kluft in seinem hintersten Teil Islands höchster Wasserfall versteckt? Schmal, aber fast 200 Meter hoch, im Winter nur ein Rinnsal unter Eispanzern. Und selbst wer es in einem Reiseführer liest, macht sich selten die Mühe.
Der Anblick des magischen Snæfellsjökuls jenseits des Faxaflói am Morgen der Sonnenfinsternis war zu unwiderstehlich gewesen. Ich mußte da hinaus.
á Mýrum
Hinter dem engen und oft tückisch stürmischen Trichter des Hvalfjörður, der vom Meeresspiegel übergangslos 800 Meter in die Höhe ragenden Steinhalde des Hafnarfjalls und der Brücke über den Borgarfjörður breitet sich das Land in die herrliche Weite der Moore, die sanft in den Atlantik gleiten. Im Westen zur Linken also die Löngufjörur, die ‟langen Strände” aus (in Island seltenem) goldgelbem Sand, und der in Ufernähe hellgrüne, mit zunehmender Tiefe blaue Atlantik, um mich herum die wie ein Schneeleopard gelbbraun und weiß gefleckten Feuchtwiesen der Moore und weit voraus die noch völlig verschneite Bergkette aus Vulkangipfeln, die das Rückgrat der Halbinsel Snæfellsnes bildet. Es atmet sich unheimlich leicht und frei in dieser Weite.

Zwei Tage vor meinem Abflug nach Island hatte ich im englischen Guardian einen sehr sympathischen Artikel über die Präzision und die poetische Kraft fast vergessener gälischer topographischer Begriffe gelesen. Für einen ‟schmalen Wasserlauf in einem Moor, der durch Vegetation so gut wie vollständig zugedeckt wird” kennt das Gälische ein Wort: chaochan. Rionnach maoim ist der Ausdruck für ‟Schatten ziehender Wolken, die an einem hellen, windigen Tag über Moore wandern”. Worte, für die ich in Island viel Verwendung hätte, wenn ich sie aussprechen könnte. Jede Sprache kennt spezielle Ausdrücke für charakteristische Phänomene in der natürlichen Umgebung ihrer Sprecher: snjór, fönn, hjarn, mjöll sind nur einige isländische Namen für verschiedene Zustandsformen von gefrorenem Niederschlag, die wir in der Regel alle nur mit ‟Schnee” übersetzen, weil den meisten von uns die differenzierende Beobachtung und Benennung abgehen; anders als im Alpenraum, wo man noch zwischen Schnee, Firn, Harsch usw. zu unterscheiden vermag.

Der Guardian-Artikel stammt von Robert MacFarlane, einem englischen Reiseschriftsteller der jüngeren Generation, Jahrgang 1976. Vor dem Abflug steckte ich mir noch schnell sein drittes Buch in den Rucksack. Obwohl es von den Britischen Inseln handelt, dachte ich, es könnte eine nach Island passende Lektüre sein. Der Titel: The Wild Places.
‟Anyone who lives in a city”, las ich darin noch im Flugzeug auf einer der ersten Seiten, ‟will know the feeling of having been there too long.”
Oh, ja, Mr. MacFarlane hatte mir etwas zu sagen.

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Samstag, 21. März 2015
Sonnenfinsternis betrachten: ✓
Sonnenaufgang am 20.3.2015 über der Insel Viðey vor Reykjavík

Als am Vorabend die Sonne unterging, war der Himmel über Reykjavík noch bedeckt. Keine guten Aussichten auf ihre Verfinsterung am nächsten Tag. Doch als nach einer frostklaren Nacht der Morgen anbrach, ging die Sonne goldfunkelnd an einem blauen Himmel auf, den nur ein paar Schleierwolken in großer Höhe leicht trübten. Aus dem Fenster im Obergeschoß konnte ich sogar den Snæfellsjökull jenseits des Faxaflói in 120 Kilometern Entfernung klar sehen. Doch dann wurde der Glanz der Sonne zusehends matter, das Licht trüb wie an einem bedeckten Tag, obwohl der Himmel fast ohne Wolken war.

Esoteriker aufgemerkt: Ihr könnt künftig an die Wissenschaft glauben. Sie hat das Eintreten der Sonnenfinsternis auf die Minute genau vorhergesagt. Die isländischen Ásatrúamen, die sich aus Versatzstücken überlieferter vorchristlicher Göttermythen eine (staatlich anerkannte) eigene Religion zusammengezimmert haben, die angeblich vor allem mit Trankopfern ausgeübt wird, sahen das düstere Ereignis am Himmel seltsamerweise als gutes Omen für den ersten Spatenstich zu ihrem neuen Tempel in Reykjavík an.

Sonnenfinsternis am 20.12.2015, durch den Deckel einer Kaffeedose betrachtet

Etwa eine Dreiviertelstunde, nachdem sich der Mond vor die Sonne zu schieben begonnen hatte, wurde es dann merklich dunkler. Um 9.38h Ortszeit, als die schwarze Scheibe 98% der Sonne verdeckte, wurde es dämmerig wie im ersten Morgengrauen. Man hielt unwillkürlich kurz den Atem an. In meiner Nähe stand ein alter Mann und betrachtete das Schauspiel durch den Plastikdeckel einer Kaffeedose (funktionierte bestens). Dazu murmelte er: ‟Ich verstehe, daß die Menschen früher bei so einer Finsternis gedacht haben, der Jüngste Tag würde heraufdämmern.” Aber die schwarze Mondscheibe wanderte weiter und gab die Sonne wieder frei. Die Vögel hatten nicht einmal zu singen aufgehört.

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Donnerstag, 19. März 2015
Nordlicht sehen: ✓
Danke für die Gratulation, vor allem an mark793! Mich freut das, wenn Menschen hier über längere Zeit mitlesen und mit meinem Geschreibsel etwas anfangen können. Es motiviert, auch im neunten Jahr noch weiterzumachen.
Übrigens gab es zur Feier des Blogjubiläums noch fulminantes Nordlicht über Island zu sehen. Fotos davon (über mein eigenes unten hinaus) gibt es hier. Und das erste Kreuzfahrtschiff des Jahres ist auch eingetroffen, denn morgen früh wollen wir hier alle eine fast totale Sonnenfinsternis erleben (Bedeckungsgrad in Reykjavík: 98%). Die Schutzbrillen dafür sind seit langem ausverkauft. Unverbesserliche Optimisten, diese Isländer.

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Montag, 16. März 2015
Abstrakt? - Im Gegenteil.

In der Morgendämmerung kommt der Sturm aus Südost fauchend angesprungen wie ein schwarzer Panther. Er schüttelt die Bäume und läßt sie hin und her peitschen, als wären sie Grasbüschel. Er reißt dem Land das weiße Leichentuch vom fahlgelben Gesicht. Noch tief im Haus spüre ich seine Böen auf den Trommelfellen.
Die ersten Flüsse treten über die Ufer, im Westen fällt für eine Stunde der Strom aus: Leitungen zerfetzt, Masten gekappt. Im Garten hat der Sturm einer alten Lärche einen kräftigen Arm abgerissen. Gezackt, verdreht, mit ragenden Splittern klafft die frische Wunde hell im dunklen Stumpf. Die alte Lärche bleibt nicht der einzige Baum, der ‟Federn” lassen muß in diesem Sturm, der sich zum Orkan auswächst. Laut Beaufort-Skala gelten Windgeschwindigkeiten über 33 m/s als Orkan. Hier werden in Böen gerade 45 m/s oder über 160 km/h erreicht.
Als Zahl ist das vielleicht doch abstrakt. Sobald man vor die Tür geht, spürt man die Windfaust sehr real.

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Sonntag, 15. März 2015
Flóki und die Raben
Nach der Mitte des 9. Jahrhunderts hörte ein Norweger namens Flóki davon, daß andere Wikinger auf ihrer Fahrt zu den Britischen Inseln und weiter zu den Färöern von einem Sturm zu einer bis dahin unbekannten Insel noch weiter im Westen verschlagen worden waren. Die Insel sei nach allem, was sie gesehen hätten, unbewohnt, sähe aber sehr vielversprechend aus. ‟Þeir lofuðu mjög landið”, sie lobten das Land sehr.
Flóki entschloß sich, mit allem, was er mitnehmen konnte, zu dieser unbekannten Insel auszuwandern. Warum er diesen verwegenen Entschluß traf, wird in den für die früheste Zeit wortkargen Quellen nicht erklärt. Vielleicht läßt sich aus seinem Namen etwas ableiten. Flóki wird nämlich in den Quellen nie mit seinem Vatersnamen bezeichnet, sondern nach seiner Mutter Sohn der Vilgerðr genannt. Das ist nicht exzeptionell, kommt aber doch eher selten vor. Meist, weil der Vater entweder sehr früh gestorben, unbekannt oder unbedeutender war als die Mutter. Letzteres könnte bei Flóki der Fall gewesen sein, denn seine Mutter war eine Tochter des Hörða-Kári. In seinem Namen gab dieser Kári zu erkennen, daß er der führende Mann des kleinen Königreichs Hordaland war, einer der wichtigsten Regionen des um diese Zeit gerade erst in einem Einigungsprozeß befindlichen Norwegen. Der isländische Historiker Snorri Sturluson hielt in seiner Geschichte der norwegischen Könige aus dem 13. Jahrhundert, der Heimskringla, fest: ‟Menn þeir voru á Hörðalandi margir og göfgir er komnir voru af ætt Hörða-Kára.” - ‟Viele vornehme/edle Männer in Hordaland stammten aus der Familie des Hörða-Kári”, und Snorri zählt vier Söhne und zwei Töchter namentlich auf. Über einen der Söhne, Þórður hreða, ist eine eigene Saga in Island erhalten, ein Enkel Káris war jener hoch angesehene Úlfljótur, der den Isländern später das erste Gesetzbuch bringen sollte. Besserer Abstammung als in seiner mütterlichen Linie konnte dessen Cousin Flóki also kaum sein.
Der Segen einer mächtigen Verwandtschaft kann sich bekanntlich auch als Fluch erweisen, und es kann gut sein, daß Flóki durch die Söhne Káris und deren Söhne einen eigenen Weg zu einer führenden Machtstellung in Hordaland verstellt sah und sich daher dazu entschloß, lieber sein eigenes Königreich auf einer unbewohnten Insel zu gründen. An Mitteln dazu fehlte es ihm anscheinend nicht. Erstens besaß er mindestens ein seetüchtiges Schiff, und ein solches war ein Vermögen im Gegenwert eines größeren Bauernhofs wert. Zweitens besaß er Vieh, das er mit auf die Reise nahm, und drittens Leute, denen er befehlen konnte, ihn zu begleiten. Außer all dem nahm er noch etwas mit an Bord: ‟hann bjósk af Rogalandi at leit a Snjólands; þeir lágu í Smjörsundi. Hann fekk at blóti miklu ok blótaði hrafna þrjá, þá er honum skyldu leið vísa.” Dieser Version des isländischen ‟Buchs von der Landnahme” (Landnámabók, Hauksbók) zufolge veranstaltete Flóki unmittelbar vor seiner Abreise ein großes Opferfest. Bei dem weihte er drei Raben, ‟die ihm den Weg zeigen sollten”. Auf der Hauswiese des Hofs Straumen am Smørsund auf der Grenze zwischen Horda- und Rogaland steht heute noch eine steinerne Wächte, wie sie Flóki anläßlich dieses Opferrituals errichtet haben soll.
Drei Raben, einer Gottheit geweiht, mutmaßlich Odin, als dessen heilige Vögel und Kundschafter sie zu jener Zeit galten. In Haustlong, einem heidnischen Skaldengedicht des 9. Jahrhunderts, wird Odin selbst als Hrafn-áss, ‟Rabenase”, bezeichnet. In einigen Wissensgedichten der Lieder-Edda tragen Odins Raben sprechende Namen:

‟Huginn ok Muninn
fliúga hverian dag
iörmungrund yfir”

‟Huginn (‟Gedanke, Klugheit”) und Muninn (‟Erinnerung”) / fliegen jeden Tag / über die Welt”, heißt es etwa in den Grimnismál. Und im Anfang der Heimskringla erläuterte Snorri:
‟Hann átti hrafna tvá, er hann hafði tamit við mál; flugu þeir víða um lönd ok sögðu honum mörg tíðindi. Af þessum hlutum varð hann stórliga fróðr.” – Odin ‟hatte zwei Raben, die er sprechen gelehrt hatte. Sie flogen weit umher und trugen ihm viele Neuigkeiten zu. Dadurch erlangte er großes Wissen.”
"Odin von Lejre", ca. 900-950, knapp 2cm groß
In altnordischen Dichtungen und Sagas wimmelt es von Belegen dafür, daß Raben Krieger in den Kampf begleiteten, und es gibt selbst bildliche Darstellungen dieses Vorgangs, etwa auf Helmblechen aus Vendel. Auf einer erst vor fünf Jahren im ältesten dänischen Königssitz, Lejre, ausgegrabenen silbernen Miniatur aus dem frühen 10. Jahrhundert sitzt ziemlich unverkennbar Odin auf einem Thron (Hochsitz), und auf jeder Seitenlehne (am starken, geraden Schnabel erkenntlich) hockt ein Rabe.
Flóki nahm also drei, wahrscheinlich Odin geweihte Raben mit auf seine Fahrt ins Ungewisse. Sie erreichten zunächst die Shetland-Inseln, dann die Färöer, diese winzige Inselgruppe im Nordatlantik, die so zielsicher anzupeilen angesichts der kaum vorhandenen Navigationsinstrumente damals keine geringe seemännische Leistung war. Dort verheiratete er seine Tochter, heißt es im Landnahmebuch. Eine andere Tochter soll auf den Shetlands ertrunken sein. Flóki war also kein ganz junger Mann mehr, wenn er Töchter im heiratsfähigen Alter besaß. Von Torshavn segelte er weiter nach Westen. Irgendwo in der landlosen Wasserwüste da draußen holte Flóki einen der Raben aus seinem Käfig und ließ ihn frei. Der Rabe flog schnurstracks in Richtung der Färöer zurück. Flóki hielt weiter westlichen Kurs. Tage später ließ er den zweiten Raben fliegen. Der stieg hoch in die Luft, kreiste mehrmals ums Schiff und ließ sich dann auf der Rah nieder.
Wiederum Tage später ließ Flóki zum dritten Mal einen Raben fliegen. Der stieg auf, kreiste ums Schiff und flog dann Richtung Nordwesten davon. Flóki änderte den Kurs in seine Richtung, und so erreichten sie Island an seinem südöstlichsten Horn. Odins Raben hatten ihnen den Weg gezeigt. Und Flóki wurde wegen seines großen Vertrauens in sie später Hrafna-Flóki genannt.

Er und seine Mannschaft segelten die Südküste entlang, sahen das weite, karge Tiefland und den hoch gewölbten riesigen Gletscher dahinter, umsegelten die nackte Lava der Halbinsel Reykjanes an der Südwestspitze und fuhren, sehr angetan, über die breite Meeresbucht dahinter, in die zwischen Wiesen und Wäldern ein breiter Fluß mündete. ‟Das muß ein großes Land sein, das wir hier gefunden haben”, sagte ein Mann aus der Besatzung, Faxi, nach dem dieser weite Golf heute noch heißt.
Sie sahen den majestätischen Snæfellsjökull auf seiner Landzunge über dem Wasser schweben, umrundeten auch diese Halbinsel und liefen in den breiten Fjord auf ihrer Nordseite ein. In einem grünen Seitenfjord mit einem Süßwassersee an der Südküste der Westfjorde landeten sie. Im See und im Fjord gab es mehr Lachse und Forellen zu fangen, als sie essen konnten. Im niedrigen Buschwald konnten sie Schneehühnern und anderen Vögeln, am Wasser fetten Eiderenten und Wildgänsen nachstellen. Das Wetter muß den Sommer über derart mild gewesen sein, daß sie es nicht für nötig hielten, für das mitgebrachte Vieh Heu zu machen und größere Vorräte anzulegen. Vor lauter Jagdeifer ‟vergaßen” sie es, heißt es in der Landnámabók. Das sollten sie im nachfolgenden Winter bitter bereuen. All ihr Vieh verhungerte und ging ein. Auch das Frühjahr fiel hart und kalt aus. Flóki erkundete das weitere Umland. Als er einen hohen Berg erklommen hatte, fiel sein Blick nach Norden in einen Fjord, der noch immer voller Treibeis war. ‟Von da an nannten sie die Insel Island.” Den anschließenden Sommer verlebten sie wieder gut im Vatnsfjörður, doch bevor der Winter kam, gaben sie auf, beluden ihr Schiff und segelten leichter zurück, als sie gekommen waren. Gleich in der weiten Bucht südlich der Halbinsel Snæfellsnes fanden sie auf einer Insel einen frisch angetriebenen Wal, und mit diesem Berg von Fleisch überwinterten sie noch ein weiteres Mal, ehe sie im folgenden Frühjahr nach Norwegen zurückkehrten. ‟Als sie dort nach dem neuen Land gefragt wurden, äußerte sich Flóki abfällig, Herjólfr zählte Vor- und Nachteile auf, doch Þórólfr sagte, in jenem Land tropfe Butter von jedem Grashalm. Deswegen nannte man ihn Þórólfr Butter.”

Si non e vero...

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Donnerstag, 12. März 2015
Spätwinter, die isländische Variante

Snjór Schnee

Snjór, snjór, Schnee, Schnee.
Brímhvít mjöll. Gischtweiße Flocken.
Eins og frosin lík af ljósum Wie gefrorene Leichen von Licht,
eins og haf af hvítum rósum wie ein Meer weißer Rosen
hylur mjöllin spor þín öll. decken Flocken all deine Spuren zu.

(Steinn Steinarr)

Die Isländer sind vom Wetter vieles gewöhnt und können mit seinen Launen gut umgehen, aber nachdem es gestern selbst in der Stadt mehrere Busse von der Straße geweht hatte, brach so gut wie alles zusammen. Der gesamte Busverkehr wurde eingestellt, außerhalb der Stadtgrenzen steckten ohnehin längst Hunderte Autofahrer in Schneeverwehungen fest. Im Westen warf der Sturm einen schweren LKW samt Hänger einfach um, und dann wurden auch ganze Stadtviertel vollkommen unbefahrbar. Ein ausgerücktes Kamerateam des Fernsehens sah an einer Kreuzung, wie ein Fahrer ausstieg und begann, das Chaos tatkräftig mit klaren Anweisungen an die anderen zu organisieren, um die Kreuzung frei und den Verkehr zum Abfließen zu bringen. Ein Interview, so berichtete der Reporter, hätte der Mann abgelehnt. Er sei ein Mann des Volkes und nicht der Medien. Diese Anekdote hätte man im deutschen Fernsehen sicher nicht erwähnt. Zwei in ihrem Auto eingeschlossene Teenager, die der Reporter stattdessen befragte, meinten nur, sie hätten die Nase von diesem Winter gestrichen voll, und das ist so ziemlich einhellig der Tenor, den auch ich hier zu hören bekomme. Anläßlich dieses neuerlichen Winterüberfalls haben die Meteorologen einmal nachgezählt: Seit Anfang November sind nicht weniger als 37 ausgewachsene atlantische Sturmtiefs über die Insel gefegt, und es hat den ganzen Winter über nie mehr als 3 ruhige Tage in Folge gegeben. Stabile Kaltluftsysteme über Kanada und Sibirien schicken ein Sturmtief nach dem anderen Richtung Island, und der Winter ist noch lange nicht vorbei, auch wenn sich allmählich die Frühjahrstagundnachtgleiche ankündigt.

Und wer hat seinen Spaß in diesen weißen Stürmen? Die Raben.
Ihnen gefällt es hier, im Sommer wie im Winter. Der Überlieferung zufolge sind sie womöglich die eigentlichen Entdecker der Insel. Jedenfalls steht unbezweifelbar fest, daß Vögel Island lange vor den Menschen gefunden und besiedelt haben. Und schließlich waren Raben den Menschen bei deren Entdeckung der Insel behilflich und zeigten ihnen den Weg.
Raben im Schneetreiben über Laugardalur

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