Samstag, 21. Mai 2011
Distanz und Abendlicht lassen auch Brutalitäten in einem anderen Licht erscheinen und mildern den Sinn des Menschen.
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Mittwoch, 18. Mai 2011
Wann Den Haag am schönsten ist
An der Nordsee ist das Rad der Jahreszeiten in unserer Abwesenheit nicht stehengeblieben, sondern hat sich deutlich weitergedreht. Den Haag ist in seine schönste Zeit des Jahres eingetreten.
Das fahle Rotbraun der überall vorherrschenden niederländischen Ziegelsteine, die einen in unbelaubten Zeiten auf drei bis fünf Seiten einmauern: links, rechts, vorne, hinten, unten, ist grün, grün aufgebrochen vom frischen Chlorophyll in den vielen Gärten und Parks, blühende Azaleen, Flieder und Magnolien setzen weiße und purpurne Farbtupfer dazwischen. Kastanien haben viele rote und weiße Kerzen aufgesteckt, die Ulmen, in unserem Viertel häufige Straßenbäume, tonnenweise Samen abgeworfen. Man watet darin, raschelnd wie in Herbstlaub.
So sah es im Februar vor der Abreise aus:
Und so nach der Rückkehr:
So ist nichts dagegen einzuwenden, daß wir das leicht schluchzende Tirilieren der frei lebenden Kanarenvögel nun gegen das viel energischere, eindringlichere Rollen und Pfeifen der Austernfischer eingetauscht haben.
Alles grünt und wächst; auch die Hochhausneubauten am Centraalbahnhof sind schon wieder ein paar Stockwerke höher geworden. - Burj al-Hollandiya.
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Montag, 14. Februar 2011
cultuur_denhaagpuntnl
Die Ägypter haben mit ihrem erfolgreichen Aufstand nicht nur Mubarak die Schuhsohlen gezeigt, sondern auch den USA und Europa klargemacht, daß sie bestens ohne uns zurechtkommen. Die Menschen da brauchen uns nicht, erst recht nicht, wenn unsere “Hilfe” vor allem darin besteht, daß unsere Regierenden deren regierende Gewalthaber stützen. Ägypten ist in meinen Augen ein Beispiel mehr dafür, daß Nichteinmischung des Westens oft dessen beste Hilfeleistung sein könnte. Ein paar andere Länder fielen mir dazu gleich auch noch ein.
Also haben wir uns am Wochenende ganz kurzsichtig vor der eigenen Haustür umgesehen, und siehe da, was einem hier kulturell innerhalb nur einer einzigen Spielzeit so alles geboten wird, ist gar nicht so wenig und kann sich ziemlich sehen lassen. Hier eine Auswahl des aktuellen Programms von nur einem Veranstaltungsort, dem Lucent Danstheater.
Paco Penas Gitarre war gestern großartig gestimmt, und die Songs for Drella demnächst mal wieder zu hören + zu sehen, wird bestimmt auch schön.
Also haben wir uns am Wochenende ganz kurzsichtig vor der eigenen Haustür umgesehen, und siehe da, was einem hier kulturell innerhalb nur einer einzigen Spielzeit so alles geboten wird, ist gar nicht so wenig und kann sich ziemlich sehen lassen. Hier eine Auswahl des aktuellen Programms von nur einem Veranstaltungsort, dem Lucent Danstheater.
Paco Penas Gitarre war gestern großartig gestimmt, und die Songs for Drella demnächst mal wieder zu hören + zu sehen, wird bestimmt auch schön.
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Donnerstag, 12. August 2010
Timboektoe , wo Amsterdam im "Sommer" chillt
Bevor sich der Sommer, der kein Sommer war... doch, halt, die beiden ersten Juliwochen waren sonnig + warm, so viel muß man ihm lassen. Also: Bevor sich der Sommer, der zwei Wochen dauerte, endgültig in die Winterpause verabschiedet, noch einmal zum Baden ans Meer fahren, nach Timboektoe.
Timbuktu liegt gar nicht am Meer, sondern mitten in der Sahara und verschwindet jedes Jahr ein Stück weiter unter deren Wanderdünen? Weit gefehlt. Timboektoe hat zwar Dünen, aber die liegen direkt an der Nordsee; kilometerlange unverbaute Sandstrände, davor die Brandung, Surfer's Paradise, ein paar dazugehörige, günstig gelegene Strandbars, die coole Cocktails und die passende Beschallung liefern und den Surfern auch weit draußen noch per Dub, Drum'n'Bass den richtigen Rhythmus für die kleinen, kabbeligen Wellen vorgeben: wumm, wumm, wumm, wumm... He, wen stört denn bei so viel Beach Feeling, dass gleich hinterm Strand die Dünen in ebenso hohe schwarze Kokshalden übergehen, Hochöfen brennen, Kokereien qualmen, Walzwerke zischend heißen Stahl verarbeiten und hohe Fabrikschlote lange Rauchfahnen wehen lassen? Der Wind weht doch landeinwärts. Man riecht nichts außer Algen, man hört nichts (außer Techno), und man sieht nichts, wenn man sich nicht umdreht. Hej, hier ist Timboektoe, Beach'n Food, Surf'n Sports, Verhuur'n Events: "Dit weekend is het weer tijd voor Sugar Factory @ The Beach; een weekend lang chillen en feesten". -- Nordseeluft und Industriequalm, Sand und Feinstaub, Koks und Koksen, Schichtarbeit und Spaßgesellschaft, alles scheinbar widerspruchsfreie Vereinbarkeiten in Holland. Ein bißchen scheinen sie mir dem Lebensgefühl am preußischen Prenzelberg zu ähneln, wie es ichwerdeeinberliner so einfühlsam in seinem Blog beschreibt. Mit der richtigen "ironischen" Einstellung - dazu muß man jetzt beim Lesen beide Hände in Ohrhöhe heben und mit den jeweiligen Zeige- und Mittelfingern ironisch die Gänsefüßchen in die Luft kratzen - läßt sich aus jeder Scheiße Kult machen.
Timbuktu liegt gar nicht am Meer, sondern mitten in der Sahara und verschwindet jedes Jahr ein Stück weiter unter deren Wanderdünen? Weit gefehlt. Timboektoe hat zwar Dünen, aber die liegen direkt an der Nordsee; kilometerlange unverbaute Sandstrände, davor die Brandung, Surfer's Paradise, ein paar dazugehörige, günstig gelegene Strandbars, die coole Cocktails und die passende Beschallung liefern und den Surfern auch weit draußen noch per Dub, Drum'n'Bass den richtigen Rhythmus für die kleinen, kabbeligen Wellen vorgeben: wumm, wumm, wumm, wumm... He, wen stört denn bei so viel Beach Feeling, dass gleich hinterm Strand die Dünen in ebenso hohe schwarze Kokshalden übergehen, Hochöfen brennen, Kokereien qualmen, Walzwerke zischend heißen Stahl verarbeiten und hohe Fabrikschlote lange Rauchfahnen wehen lassen? Der Wind weht doch landeinwärts. Man riecht nichts außer Algen, man hört nichts (außer Techno), und man sieht nichts, wenn man sich nicht umdreht. Hej, hier ist Timboektoe, Beach'n Food, Surf'n Sports, Verhuur'n Events: "Dit weekend is het weer tijd voor Sugar Factory @ The Beach; een weekend lang chillen en feesten". -- Nordseeluft und Industriequalm, Sand und Feinstaub, Koks und Koksen, Schichtarbeit und Spaßgesellschaft, alles scheinbar widerspruchsfreie Vereinbarkeiten in Holland. Ein bißchen scheinen sie mir dem Lebensgefühl am preußischen Prenzelberg zu ähneln, wie es ichwerdeeinberliner so einfühlsam in seinem Blog beschreibt. Mit der richtigen "ironischen" Einstellung - dazu muß man jetzt beim Lesen beide Hände in Ohrhöhe heben und mit den jeweiligen Zeige- und Mittelfingern ironisch die Gänsefüßchen in die Luft kratzen - läßt sich aus jeder Scheiße Kult machen.
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Donnerstag, 5. August 2010
Himmel über Scheveningen gestern abend.
Heute morgen heller, aber knapp 17 °.
Anfang August. Hochsommer 2010 in Holland.
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Montag, 12. Juli 2010
Endspiel. Fin de partie
"Hast du es nicht satt?"
"Doch!" (Pause) "Was denn?"
"Dieses... alles."
Zugegeben, die Worte fielen nicht gestern abend, sondern in einem anderen, gleichnamigen Drama, aber gepaßt hätten sie schon auf dieses Killer-Finale in Johannesburg zwischen Spanien und den Niederlanden. Aus Gründen der Gerechtigkeit siegte diesmal am Ende die Armada, denn wofür die Niederländer den deutschen Fußball jahrzehntelang beschimpft haben: destruktives Spiel, das haben sie gestern weit über den Rahmen des Erlaubten und erst recht des Fairen hinaus selbst praktiziert und völlig zu recht wieder einmal verloren.
“Wieder Zweiter, wieder kein Weltmeister”, trauert de Volkskrant, bewahrt aber unter den Tränen genügend Klarblick, um die eigene Mannschaft einer “manchmal niederträchtigen Spielweise” anzuklagen. “Het Nederlands elftal van 2010 is een vechtmachine in het oranje”, die holländische Mannschaft von 2010 ist eine Kampfmaschine in Oranje, konstatiert die Zeitung und mahnt, es sei Zeit für eine Besinnung, was man wohl vor allem als Rückbesinnung auf die einstigen Tugenden des holländischen Fußballs verstehen soll. Der spanische Radiosender Cadena SER hatte schon während der Übertragung des Endspiels festgestellt, das Team von Bert van Marwijk habe alles vergessen wollen, was den holländischen Fußball einer früheren Generation auszeichnete. “Es glaubte, um gewinnen zu können, müßte es die eigene Geschichte verraten.”
Was dabei herauskam, beschreibt de Volkskrant so: “Verkrampft, manchmal unverschämt, mit Fouls, die mit Fußball nichts mehr zu tun haben. De Jong hätte für seinen Karatetritt gegen Alonsos Brustbein die rote Karte bekommen müssen”, und endet bitter: “Das Finale einer WM ist doch kein Spiel mehr, es ist bitterer Ernst... doorgaan tot de botten kraken, durchziehen bis die Knochen krachen, das war dieses Finale.”
In der Tat. Es war das “kartenreichste” Finale aller Zeiten, und niederländische Spieler erhielten zu recht die Mehrzahl aller Verwarnungen (8) und (nur) einen Platzverweis. Schiedsrichter Webb, über den sich Sneijder, Robben & Co. als gute Verlierer nach dem Spiel auch noch lamentierend beschwerten, hätte viel entschiedener durchgreifen müssen. Dann wären mindestens De Jong und van Bommel auch noch vom Platz geflogen. Als besagter van Bommel auf dem Weg in die Pause den Schiedsrichter ansprach, vermutete der Reporter des Guardian, der Niederländer habe sich wohl erkundigt, wie oft er noch zutreten dürfe, bevor er mit einem Platzverweis rechnen müsse. “That was the level to which the match had descended.” – Nur in einem einzigen Spiel der WM-Geschichte hat es noch mehr gelbe Karten gegeben; das war ein Achtelfinale vor vier Jahren, Portugal gegen..., richtig: Holland.
“Dutch found guilty of crimes against football”, brachte es das englische Boulevardblatt The Sun auf den Punkt. “Never mind the quality, feel the justice”, frohlockte dagegen der ebenfalls englische Telegraph. “To 1974 and 1978 can now be added 2010 in the Dutch Hall of Hurt.”
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Mittwoch, 7. Juli 2010
Natternköpfe züngeln
Es ist heiß zwischen den alten, bewachsenen Dünen, Pappelwolle fliegt umher und bedeckt flockig den sandigen Boden; ein Geruch nach warmem Pferdeschweiß steigt auf. Blaue Kerzen von Natternköpfen säumen dicht die schmalen Pfade. Ihren Namen haben sie von den wie Schlangenzungen aus den kleinen Blütenkelchen züngelnden Griffeln, und natürlich (aber-)glaubte man früher, im Amulett getragen, würden sie vor Schlangenbissen schützen. Auch sollen alle blau blühenden Pflanzen den Blitz und Donner schleudernden Göttern heilig gewesen sein, denn bläulich zuckt das Licht der Blitze. Am Vormittag hat der Wind gedreht, kommt jetzt feucht und warm aus Südwest, doch statt einer Gewitterwolke, aus der Zeus oder Thor ihre Blitzkeile schleudern könnten, entsteht draußen auf dem Meer Nebel, die berüchtigte zeevlam der holländischen Küste wallt heran. Bald ist alles wie in grauen Rauch gehüllt, die Sonne verlischt, die Temperatur fällt spürbar.
Nach ein paar Stunden löst sich der Spuk auf, und in der Nacht grollt tatsächlich ein Gewitter los, die Blitze geistern grell über den Himmel, aus dem ein Regendrusch niederrauscht. Ich denke an Maitagorry und die Schlange Leheren im Zypressenpalast und mir wird heiß, aber wer liest heute noch solche Bücher?
Nach ein paar Stunden löst sich der Spuk auf, und in der Nacht grollt tatsächlich ein Gewitter los, die Blitze geistern grell über den Himmel, aus dem ein Regendrusch niederrauscht. Ich denke an Maitagorry und die Schlange Leheren im Zypressenpalast und mir wird heiß, aber wer liest heute noch solche Bücher?
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Donnerstag, 10. Juni 2010
Bankrotterklärung in den Niederlanden
Gestern Mittag brachte die niederländische Tageszeitung de Volkskrant eine tragische Meldung, die fast einem nationalen Debakel gleichkommt: Die Amsterdamer Fahrradfabrik, die die berühmten “bakfietsen” herstellt, ist pleite, eine nationale Institution, fast ein Symbol ging den Bach runter.
Am Abend war die niederländische Katastrophe dann perfekt: die Niederländer haben ihre Maske liberaler Weltoffenheit fallen und die Hosen heruntergelassen; die rechtsliberale Partei für Freiheit und Demokratie (VVD) gewinnt bei den Parlamentswahlen fast 6 Prozent Stimmen hinzu, die fremdenfeindliche, rechtspopulistische Wilderspartei PVV hat sich mit 10 Prozent Zuwachs mehr als verdoppelt. Zusammen kommen die beiden Parteien im niederländischen Vielparteiensystem auf 36 Prozent der Stimmen. Während die Sozialdemokraten geringe Verluste erlitten, wurde die christdemokratische Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Balkenende praktisch halbiert. Die holländische Wählerschaft polarisiert sich und rückt mehrheitlich deutlich nach rechts.
Wilders, der, frisch aufblondiert, wie ein Boxchampion zur Musik von “Eye of the Tiger” in das Restaurant auf der Scheveninger Pier einmarschierte, dröhnte natürlich: “Vrienden, het onmogelijke is gebeurd. Dat betekent dat we de grootste winnaar van deze verkiezingen zijn. Dat 1,5 miljoen mensen ons hebben gekozen. Nu kan niemand meer om de PVV heen!” (“Freunde, das Unmögliche ist passiert. Das bedeutet, daß wir die größten Gewinner dieser Wahl sind. Daß uns 1,5 Millionen Menschen gewählt haben. Jetzt kommt niemand mehr an der PVV vorbei!”)
Tja, so ist das wohl. Regen und Nebel hängen heute über Den Haag. Es wird demnächst noch kälter werden hier.
Am Abend war die niederländische Katastrophe dann perfekt: die Niederländer haben ihre Maske liberaler Weltoffenheit fallen und die Hosen heruntergelassen; die rechtsliberale Partei für Freiheit und Demokratie (VVD) gewinnt bei den Parlamentswahlen fast 6 Prozent Stimmen hinzu, die fremdenfeindliche, rechtspopulistische Wilderspartei PVV hat sich mit 10 Prozent Zuwachs mehr als verdoppelt. Zusammen kommen die beiden Parteien im niederländischen Vielparteiensystem auf 36 Prozent der Stimmen. Während die Sozialdemokraten geringe Verluste erlitten, wurde die christdemokratische Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Balkenende praktisch halbiert. Die holländische Wählerschaft polarisiert sich und rückt mehrheitlich deutlich nach rechts.
Wilders, der, frisch aufblondiert, wie ein Boxchampion zur Musik von “Eye of the Tiger” in das Restaurant auf der Scheveninger Pier einmarschierte, dröhnte natürlich: “Vrienden, het onmogelijke is gebeurd. Dat betekent dat we de grootste winnaar van deze verkiezingen zijn. Dat 1,5 miljoen mensen ons hebben gekozen. Nu kan niemand meer om de PVV heen!” (“Freunde, das Unmögliche ist passiert. Das bedeutet, daß wir die größten Gewinner dieser Wahl sind. Daß uns 1,5 Millionen Menschen gewählt haben. Jetzt kommt niemand mehr an der PVV vorbei!”)
Tja, so ist das wohl. Regen und Nebel hängen heute über Den Haag. Es wird demnächst noch kälter werden hier.
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Sonntag, 18. April 2010
Ein Tag am Strand
Als ich heute morgen die Augen aufschlug, wagte ich ihnen kaum zu trauen; schon wieder tauchte die aufgehende Sonne die Zimmerwand in warme Morgenröte, und der Blick aus dem Fenster fiel auf einen klaren, blauen Himmel. Es war endgültig Zeit für einen Strandtag.
Die Atelierwerkstatt gegenüber war auch zum ersten Mal wieder geöffnet, und im "Dorf" frühstückten die ersten Mutigen auf dem Balkon.
Zu den folgenden Bildern empfehle ich als akustischen Hintergrund "The Other Side" von Dirtmusic (und bedanke mich für den Tip bei Herrn Kelly).
Also rasch auf die Räder und rein ins Dünengebiet, bloß weg von der Vergnügungsmeile an der Pier und hin zu den unberührteren Strandabschnitten. Da, wo wir schließlich den vordersten Dünenkamm überschritten, hatte unten Aphrodite soeben ihr Bad verlassen. Der Schaum lag noch rum.
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Samstag, 10. April 2010
I amsterdam
“So, mein Lieber, langsam wird es aber Zeit, daß du mal wieder unter Menschen und in eine Stadt kommst, ich meine, eine richtige Stadt”, sagte die Herzogin neulich zu mir. Nein, natürlich sagte sie es nicht; sie, nun, sagen wir mal, gab es mir zu verstehen. Indem etwa ein bunter Prospekt mit der Aufschrift “I amsterdam” wie unabsichtlich auf dem Eßtisch liegen blieb, oder ganz beiläufig die Frage kam, ob wir denn unsere Rabattkarte bei der niederländischen Eisenbahn in diesem Jahr überhaupt schon mal genutzt hätten. Als ich daraufhin etwas unwirsch die Brauen runzelte, fiel im Hinausgehen noch das Wort “Eremitendasein” rückwärts über ihre Schulter vor meine Füße und konnte da so natürlich nicht liegenbleiben. Blieb es dann aber doch. Bis schließlich ein Faltblatt mit einem sehr zierenden Kanjar, dem traditionellen Dolch der Omanis, auf meinem Schreibtisch lag. Das wichtigste Datum rot unterstrichen: die Ausstellung über den Oman in der Amsterdamer Nieuwe Kerk war nur noch eine Woche geöffnet.
Also gut, überredet. Am Bahnhof entern wir einen Zug in typisch holländisch dezenter Farbgebung. Außen knatschgelb, innen, fein aufeinander abgestimmt, blaß fliederfarben und schreilila. Im Ruheabteil, das auf jeder Fensterscheibe gut sichtbar und zweisprachig die Aufschrift Silence trägt, telefoniert eine junge Frau lauthals in ihr Handy und eine Gruppe von Austauschstudenten auf dem Weg nach Leiden plaudert munter in jenem internationalen Kauderwelsch, das Menschen überall auf der Welt in der jeweils in ihrer Mundhöhle formbaren Variante als Englisch ausgeben.
“Due to heavy passenger traffic Amsterdam Central Station is not as clean as it usually is supposed to be. We apologize for any inconvenience”, schallt es beim Aussteigen as usual aus den Lautsprechern am Bahnsteig.
Der Vorplatz vor dem ehemals prächtigen Amsterdamer Hauptbahnhof, wie in den beiden letzten Jahren permanent, noch immer eine Baustelle. Oder soll das jetzt so fertig sein? Die Ampel vor dem Übergang zur breiten Achse des Damrak zeigt gottlob Rot, sodaß ich erst einmal tief Luft holen und sie dann anhalten kann, bevor wir in den kompakten Lindwurmkörper aus dunkel wimmelnden Menschenleibern eintauchen müssen. Think positive: dürfen. Großhirn an alle: “Aufregung allmählich eindämmen. Adrenalinzufuhr stoppen. Blutdruck langsam senken. Fertig machen!”
Grün.
Gefühlte Stunden später tauchen wir auf dem Dam aus dem Darm der Großstadt. Unterwegs gab es noch zusätzlich ein paar arteriosklerotische Verengungen, denn es ist Lenz, niederl. lente, da werden auf einen Schlag die Straßenbauetats aller holländischen Städte und Kommunen gelenzt. Überall, wo es nach dem Winter etwas auszubessern gibt, wird ausgebessert. Alles auf einen Streich. In Den Haag ist die halbe Innenstadt aufgerissen, Leiden war ganz rot-weiß gestreift von all den Straßenabsperrungen. Amsterda(r)m ist auch keine Ausnahme. Vom Rijksmuseum ist derzeit nur eine vergröbernd gerasterte Silhouette sichtbar, weil jedes Türmchen auf groteske Weise mit Gerüsten umbaut wurde. Das Koninklijk Paleis te Amsterdam ist völlig hinter den mittlerweile üblichen Fototapeten der Fassade und einer Nachbildung der Berliner Mauer als Bauzaun verschwunden. Von der Fassade der Nieuwe Kerk hängt auf einem Riesensemitransparent ein Riesenkanjar. Für die Ausstellung hat Seine Majestät Sultan Qabus bin Said offenbar gnädig ein kleines Kabinett ihres Palasts in Maskat ausräumen lassen. In zierlich ausgeführter arabischer Schönschrift hängt auch der lange und verehrungswürdige Stammbaum der seit 1744 regierenden Dynastie aus. Diskret verschwiegen kein Hinweis darauf, weshalb der männlich-mächtige Stamm am regierenden letzten Sproß kein fruchtbares Zweiglein ausgetrieben hat. Lawrence, Thesiger und andere Araberliebhaber hätten diesbezüglich wohl gleich Lunte gerochen. Mit dreißig hat seine königliche Hoheit der Sultan in einem dezent leisen Putsch jedenfalls seinen Vater vom Thron gestoßen und regiert das Land seit vierzig Jahren allein, aber, zugegeben, nicht unklug mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl.
Viele der Exponate hatten wir schon an Ort und Stelle im Oman gesehen, aber da ein Schwerpunkt der Ausstellung das ausgedehnte Seehandelsnetz der Omanis durch die Jahrhunderte bildete, gab es noch einige höchst phantasieanregende Zutaten aus holländischen Archiven; detaillierte Stiche von Hafenansichten und arabischen Schiffstypen und sogar ein paar alte Portolankarten aus dem 16. Jahrhundert, die die Agenten der VOC den Portugiesen geklaut oder von ihnen abgekupfert haben. Grafisch besonders schön fand ich die Afrikakarten, die der französische Kartograph und Enzyklopädist Jacques-Nicolas Bellin 1740 im Auftrag des Comte de Maurepas gestochen hat.
Aber wir sind ja nicht in einer richtigen Stadt, um uns in Museen und Archiven zu verkriechen, nicht wahr? Ich schlage der Herzogin vor, uns, wo wir nun schon mal da sind, doch gleich nach einem passend frühlingshaften Kleidungsstück für sie umzusehen. Ernte darob nun meinerseits einen unwirschen Blick unter drohend zusammengeschobenen Brauen. Ich weiß, wie lästig es ihr ist, mehr als ein Geschäft und mehr als einmal eine Umkleidekabine aufzusuchen, und stehe unter entsprechend hohem Zeit-, Finde- und Erfolgsdruck. (Aber die fast knöchellange, wasserdichte Winterkutte muß sich doch bei diesen Frühlingstemperaturen allmählich zur Ein-Frau-Sauna entwickeln und durch etwas Luftdurchlässigeres ersetzt werden.)
Wir betreten den ersten Laden, und sie braucht gar nichts zu sagen. Ich weiß schon: was dieses Frühjahr den Frauen aufs Auge bzw. auf die Figur gedrückt werden soll, ist definitiv nicht für meine Liebste entworfen worden. Ebensowenig wie der inzwischen vorletzte Schrei der vergangenen Saison und der davor... Fast verachtungsvoll scannt ihr Blick die Kleiderständer ab. Bevor sie sich mit einem “Nichts dabei” gleich wieder zum Ausgang wenden kann, werfe ich mich in eine Seitengasse zwischen Tops und Trenchcoats. Hm, nö, naja, vielleicht hat sie sogar recht. In komischen Silhouetten sollen sich die Frauen in diesem Frühjahr sehen lassen. Und die Farben, bäh, überwiegend öde. Aber wenn der modebewußte Mann in dieser Saison nach Ansicht amsterdamenhafter Schaufensterdekorateure in Ferrarirot und Veilchenlila gewandet herumlaufen soll, müssen die Frauen wohl oder übel farblich etwas zurücktreten. Haben die jetzt nach dem Vorbild führender Politiker alle ihr Coming out hinter sich und wollen nun die Gayisierung der Männerwelt auch am Körper der wenigen verbliebenen Heteros vollenden? Gut, hier aber befinden wir uns in der Abteilung DOB, und was ist das denn da, was da ganz verloren in der offenbar falschen Kollektionsecke hängt und sich dadurch erst recht von den untragbaren Fummeln abhebt? Ganz schlicht, wie es Hoheit am liebsten hat, aber doch mit einem leichten Schwung Eleganz, wie... Komma! – ? – Guck mal, gefällt dir das? – Ja. – ? – Echt jetzt? – Ja. – Würdest du‘s mal anprobieren? – Ja. – Vorhang. – ? – Was meinst Du? Steht es mir? – Hinreißend. – Gut. Dann nehmen wir‘s.
Shoppingtour durch Amsterdam nach 10'30'‘ erfolgreich abgeschlossen. Europarekord.
Es bleibt noch reichlich Zeit bis zum Essen, zu dem wir mit einer befreundeten holländischen Journalistin verabredet sind. Apathisches Pflastertreten, das die Herzogin “sich durch eine Stadt treiben lassen” nennt, wird mir nicht erspart bleiben. Manchmal wird man zu schnell fündig.
Wenn man keine Amphibie ist und kein Boot zur Verfügung hat, mögen die ehemaligen Übertage-Abwasserkanäle, in A‘dam kehlig Grachten genannt, manchem Straßenzug vielleicht einen malerischen Blickfang verleihen; in erster Linie aber sind sie Verkehrshindernisse für alle anderen Verkehrsteilnehmer als Freizeitkapitäne. Sie nehmen so viel Raum ein, daß an beiden gerade noch fahrbahnbreiten Rändern Straße, Parkraum, Radweg und Bürgersteig unterkommen müssen. Um Letztere aus unumgänglichen Sicherheitsgründen von Vorletzteren abzutrennen, wurden zusätzlich im 3-Meter-Abstand Reihen von Pollern mit Gußeisenanmutung ins Pflaster gerammt, zwischen denen man als Fußgänger unablässig Slalom laufen muß, weil man permanent abgestellten Fahrrädern (mindestens zu dritt aneinandergekettet), säuglingslüftenden Kinderwagen, großzügig vorspringenden Freitreppen, Bauschuttcontainern und Bergen von Müllsäcken auf den Gehwegen ausweichen muß. Wagt man sich aber aus der Deckung der Eisenpoller wird man gnadenlos von den in Holland per se im (Vorfahrts-)recht befindlichen Radfahrern niedergeklingelt.
“Geruhsam, dieses Sich-treiben-lassen, nicht wahr”, sage ich.
“Mmh”, macht die Herzogin versonnen und genießt es wirklich.
Es gibt Unterschiede zwischen Mann und Frau, die man sich vorher nicht träumen läßt. Und siehe, es ist gut so.
Das Restaurant lag gleich in der Nähe des Museumplein und lockte mit einem leicht anrüchigen Namen, der nach “Fleischbeschau und Damen” klang: L‘Entrecôte et les Dames. Im Etablissement herrschte allerdings ein striktes Regiment. Die jungen Damen hatten von der Geschäftsführung einheitlich einen sehr leuchtend roten Lippenstift verordnet bekommen und die Anweisung, sich die Haare auf die leicht nachlässige französische Art hochzustecken, die immer ein, zwei Strähnen wie unabsichtlich verspielt in den Nacken fallen läßt. Ihr Auftreten sprühte allerdings nicht vor pariserischem Charme. Als eine von ihnen neben unserem Tisch Aufstellung nahm und ich nach der Karte fragte, wurde ich beschieden, die “Rules of the house” sähen nur ein einziges Menü vor; wir dürften allerdings wählen, ob wir im Hauptgang Fisch oder Fleisch wollten. Dazu gebe es, auf gut deutsch, Fritten.
Unsere Gastgeberin wurde ein wenig blaß, aber um ein anderes Restaurant mit größerer Auswahl zu suchen, war es bereits etwas spät, denn wir wollten anschließend noch ins Konzert; also wählten wir Fisch oder Fleisch. Ich erdreistete mich noch, zu fragen, welche Sorten Fisch denn im Angebot wären, wurde aber sofort jeglicher Illusion beraubt: “Seezunge. (Punkt)” Nach dem Fleisch brauchte ich da natürlich nicht mehr zu fragen.
Dafür wandelte mich nach dem ersten Glas Wasser das seltsame Verlangen an, wir könnten zum Essen ein Glas Wein trinken, und eine Art Sommelier erschien an meiner Seite und fragte: “Are you familiar with our system of winedrinking, Sir?”
“I‘d prefer to drink it from a glas”, antwortete ich höflich.
Das System aber sah vor, uns in jedem Fall eine ganze Flasche vom Hauswein auf den Tisch zu stellen und anschließend das Getrunkene am Pegel abzulesen. Das steigert natürlich den Umsatz, war nun aber auch recht so. Der Salat war frisch und knackig, die Senfmayonnaise dazu erstaunlich lecker; anschließend wurden mit großer Geste und weißer Serviette über dem Unterarm unsere Fish & Chips serviert. Ein bißchen fühlte ich mich wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern oder wie ganz früher in der Mensa: Stammessen I oder II?
Doch das Mahl erfüllte seinen Zweck, und anschließend brauchten wir nur noch über die Straße zu rollen, um das Concertgebouw zu erreichen, wo an diesem Abend, wie üblich begleitet von einem für finnische Verhältnisse geradezu quicksilbrig temperamentsprühenden Pekka Lehti am Kontrabaß, Markku Lepistö mit seinen verschiedenen chromatischen und diatonischen Akkordeons aufspielte. Eine bezaubernde Mischung aus eigenen Kompositionen, mal lebhaft, mal träumerisch, nachdenklich bis meditativ, dazwischen eine traditionelle Polka mit virtuosen Improvisationseinlagen oder ein schön verspielter Walzer auf seinen dreijährigen Sohn, Tango natürlich, mal finnisch, mal Piazzolla. Zwei Mann, zwei Instrumente, keine Minute eintönig.
Als wir aus dem kleinen Konzertsaal kamen, hatte es draußen zu regnen begonnen. Also mit der Tram zum Bahnhof, die Züge nach Den Haag verkehrten noch immer im Halbstundentakt und pünktlich. Im warmen Neonlicht des blaß fliederfarbenen Großraumabteils schmiegte sich die Herzogin müde und zufrieden an meine Schulter.
“He, das war eigentlich ein ganz schöner Tag”, sagte ich.
“Mmmhh”, schnurrte sie mit geschlossenen Augen zurück. “Und zur Belohnung dürfen wir gleich mit den Rädern durch den Regen nach Hause fahren.”
Also gut, überredet. Am Bahnhof entern wir einen Zug in typisch holländisch dezenter Farbgebung. Außen knatschgelb, innen, fein aufeinander abgestimmt, blaß fliederfarben und schreilila. Im Ruheabteil, das auf jeder Fensterscheibe gut sichtbar und zweisprachig die Aufschrift Silence trägt, telefoniert eine junge Frau lauthals in ihr Handy und eine Gruppe von Austauschstudenten auf dem Weg nach Leiden plaudert munter in jenem internationalen Kauderwelsch, das Menschen überall auf der Welt in der jeweils in ihrer Mundhöhle formbaren Variante als Englisch ausgeben.
“Due to heavy passenger traffic Amsterdam Central Station is not as clean as it usually is supposed to be. We apologize for any inconvenience”, schallt es beim Aussteigen as usual aus den Lautsprechern am Bahnsteig.
Der Vorplatz vor dem ehemals prächtigen Amsterdamer Hauptbahnhof, wie in den beiden letzten Jahren permanent, noch immer eine Baustelle. Oder soll das jetzt so fertig sein? Die Ampel vor dem Übergang zur breiten Achse des Damrak zeigt gottlob Rot, sodaß ich erst einmal tief Luft holen und sie dann anhalten kann, bevor wir in den kompakten Lindwurmkörper aus dunkel wimmelnden Menschenleibern eintauchen müssen. Think positive: dürfen. Großhirn an alle: “Aufregung allmählich eindämmen. Adrenalinzufuhr stoppen. Blutdruck langsam senken. Fertig machen!”
Grün.
Gefühlte Stunden später tauchen wir auf dem Dam aus dem Darm der Großstadt. Unterwegs gab es noch zusätzlich ein paar arteriosklerotische Verengungen, denn es ist Lenz, niederl. lente, da werden auf einen Schlag die Straßenbauetats aller holländischen Städte und Kommunen gelenzt. Überall, wo es nach dem Winter etwas auszubessern gibt, wird ausgebessert. Alles auf einen Streich. In Den Haag ist die halbe Innenstadt aufgerissen, Leiden war ganz rot-weiß gestreift von all den Straßenabsperrungen. Amsterda(r)m ist auch keine Ausnahme. Vom Rijksmuseum ist derzeit nur eine vergröbernd gerasterte Silhouette sichtbar, weil jedes Türmchen auf groteske Weise mit Gerüsten umbaut wurde. Das Koninklijk Paleis te Amsterdam ist völlig hinter den mittlerweile üblichen Fototapeten der Fassade und einer Nachbildung der Berliner Mauer als Bauzaun verschwunden. Von der Fassade der Nieuwe Kerk hängt auf einem Riesensemitransparent ein Riesenkanjar. Für die Ausstellung hat Seine Majestät Sultan Qabus bin Said offenbar gnädig ein kleines Kabinett ihres Palasts in Maskat ausräumen lassen. In zierlich ausgeführter arabischer Schönschrift hängt auch der lange und verehrungswürdige Stammbaum der seit 1744 regierenden Dynastie aus. Diskret verschwiegen kein Hinweis darauf, weshalb der männlich-mächtige Stamm am regierenden letzten Sproß kein fruchtbares Zweiglein ausgetrieben hat. Lawrence, Thesiger und andere Araberliebhaber hätten diesbezüglich wohl gleich Lunte gerochen. Mit dreißig hat seine königliche Hoheit der Sultan in einem dezent leisen Putsch jedenfalls seinen Vater vom Thron gestoßen und regiert das Land seit vierzig Jahren allein, aber, zugegeben, nicht unklug mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl.
Viele der Exponate hatten wir schon an Ort und Stelle im Oman gesehen, aber da ein Schwerpunkt der Ausstellung das ausgedehnte Seehandelsnetz der Omanis durch die Jahrhunderte bildete, gab es noch einige höchst phantasieanregende Zutaten aus holländischen Archiven; detaillierte Stiche von Hafenansichten und arabischen Schiffstypen und sogar ein paar alte Portolankarten aus dem 16. Jahrhundert, die die Agenten der VOC den Portugiesen geklaut oder von ihnen abgekupfert haben. Grafisch besonders schön fand ich die Afrikakarten, die der französische Kartograph und Enzyklopädist Jacques-Nicolas Bellin 1740 im Auftrag des Comte de Maurepas gestochen hat.
Aber wir sind ja nicht in einer richtigen Stadt, um uns in Museen und Archiven zu verkriechen, nicht wahr? Ich schlage der Herzogin vor, uns, wo wir nun schon mal da sind, doch gleich nach einem passend frühlingshaften Kleidungsstück für sie umzusehen. Ernte darob nun meinerseits einen unwirschen Blick unter drohend zusammengeschobenen Brauen. Ich weiß, wie lästig es ihr ist, mehr als ein Geschäft und mehr als einmal eine Umkleidekabine aufzusuchen, und stehe unter entsprechend hohem Zeit-, Finde- und Erfolgsdruck. (Aber die fast knöchellange, wasserdichte Winterkutte muß sich doch bei diesen Frühlingstemperaturen allmählich zur Ein-Frau-Sauna entwickeln und durch etwas Luftdurchlässigeres ersetzt werden.)
Wir betreten den ersten Laden, und sie braucht gar nichts zu sagen. Ich weiß schon: was dieses Frühjahr den Frauen aufs Auge bzw. auf die Figur gedrückt werden soll, ist definitiv nicht für meine Liebste entworfen worden. Ebensowenig wie der inzwischen vorletzte Schrei der vergangenen Saison und der davor... Fast verachtungsvoll scannt ihr Blick die Kleiderständer ab. Bevor sie sich mit einem “Nichts dabei” gleich wieder zum Ausgang wenden kann, werfe ich mich in eine Seitengasse zwischen Tops und Trenchcoats. Hm, nö, naja, vielleicht hat sie sogar recht. In komischen Silhouetten sollen sich die Frauen in diesem Frühjahr sehen lassen. Und die Farben, bäh, überwiegend öde. Aber wenn der modebewußte Mann in dieser Saison nach Ansicht amsterdamenhafter Schaufensterdekorateure in Ferrarirot und Veilchenlila gewandet herumlaufen soll, müssen die Frauen wohl oder übel farblich etwas zurücktreten. Haben die jetzt nach dem Vorbild führender Politiker alle ihr Coming out hinter sich und wollen nun die Gayisierung der Männerwelt auch am Körper der wenigen verbliebenen Heteros vollenden? Gut, hier aber befinden wir uns in der Abteilung DOB, und was ist das denn da, was da ganz verloren in der offenbar falschen Kollektionsecke hängt und sich dadurch erst recht von den untragbaren Fummeln abhebt? Ganz schlicht, wie es Hoheit am liebsten hat, aber doch mit einem leichten Schwung Eleganz, wie... Komma! – ? – Guck mal, gefällt dir das? – Ja. – ? – Echt jetzt? – Ja. – Würdest du‘s mal anprobieren? – Ja. – Vorhang. – ? – Was meinst Du? Steht es mir? – Hinreißend. – Gut. Dann nehmen wir‘s.
Shoppingtour durch Amsterdam nach 10'30'‘ erfolgreich abgeschlossen. Europarekord.
Es bleibt noch reichlich Zeit bis zum Essen, zu dem wir mit einer befreundeten holländischen Journalistin verabredet sind. Apathisches Pflastertreten, das die Herzogin “sich durch eine Stadt treiben lassen” nennt, wird mir nicht erspart bleiben. Manchmal wird man zu schnell fündig.
Wenn man keine Amphibie ist und kein Boot zur Verfügung hat, mögen die ehemaligen Übertage-Abwasserkanäle, in A‘dam kehlig Grachten genannt, manchem Straßenzug vielleicht einen malerischen Blickfang verleihen; in erster Linie aber sind sie Verkehrshindernisse für alle anderen Verkehrsteilnehmer als Freizeitkapitäne. Sie nehmen so viel Raum ein, daß an beiden gerade noch fahrbahnbreiten Rändern Straße, Parkraum, Radweg und Bürgersteig unterkommen müssen. Um Letztere aus unumgänglichen Sicherheitsgründen von Vorletzteren abzutrennen, wurden zusätzlich im 3-Meter-Abstand Reihen von Pollern mit Gußeisenanmutung ins Pflaster gerammt, zwischen denen man als Fußgänger unablässig Slalom laufen muß, weil man permanent abgestellten Fahrrädern (mindestens zu dritt aneinandergekettet), säuglingslüftenden Kinderwagen, großzügig vorspringenden Freitreppen, Bauschuttcontainern und Bergen von Müllsäcken auf den Gehwegen ausweichen muß. Wagt man sich aber aus der Deckung der Eisenpoller wird man gnadenlos von den in Holland per se im (Vorfahrts-)recht befindlichen Radfahrern niedergeklingelt.
“Geruhsam, dieses Sich-treiben-lassen, nicht wahr”, sage ich.
“Mmh”, macht die Herzogin versonnen und genießt es wirklich.
Es gibt Unterschiede zwischen Mann und Frau, die man sich vorher nicht träumen läßt. Und siehe, es ist gut so.
Das Restaurant lag gleich in der Nähe des Museumplein und lockte mit einem leicht anrüchigen Namen, der nach “Fleischbeschau und Damen” klang: L‘Entrecôte et les Dames. Im Etablissement herrschte allerdings ein striktes Regiment. Die jungen Damen hatten von der Geschäftsführung einheitlich einen sehr leuchtend roten Lippenstift verordnet bekommen und die Anweisung, sich die Haare auf die leicht nachlässige französische Art hochzustecken, die immer ein, zwei Strähnen wie unabsichtlich verspielt in den Nacken fallen läßt. Ihr Auftreten sprühte allerdings nicht vor pariserischem Charme. Als eine von ihnen neben unserem Tisch Aufstellung nahm und ich nach der Karte fragte, wurde ich beschieden, die “Rules of the house” sähen nur ein einziges Menü vor; wir dürften allerdings wählen, ob wir im Hauptgang Fisch oder Fleisch wollten. Dazu gebe es, auf gut deutsch, Fritten.
Unsere Gastgeberin wurde ein wenig blaß, aber um ein anderes Restaurant mit größerer Auswahl zu suchen, war es bereits etwas spät, denn wir wollten anschließend noch ins Konzert; also wählten wir Fisch oder Fleisch. Ich erdreistete mich noch, zu fragen, welche Sorten Fisch denn im Angebot wären, wurde aber sofort jeglicher Illusion beraubt: “Seezunge. (Punkt)” Nach dem Fleisch brauchte ich da natürlich nicht mehr zu fragen.
Dafür wandelte mich nach dem ersten Glas Wasser das seltsame Verlangen an, wir könnten zum Essen ein Glas Wein trinken, und eine Art Sommelier erschien an meiner Seite und fragte: “Are you familiar with our system of winedrinking, Sir?”
“I‘d prefer to drink it from a glas”, antwortete ich höflich.
Das System aber sah vor, uns in jedem Fall eine ganze Flasche vom Hauswein auf den Tisch zu stellen und anschließend das Getrunkene am Pegel abzulesen. Das steigert natürlich den Umsatz, war nun aber auch recht so. Der Salat war frisch und knackig, die Senfmayonnaise dazu erstaunlich lecker; anschließend wurden mit großer Geste und weißer Serviette über dem Unterarm unsere Fish & Chips serviert. Ein bißchen fühlte ich mich wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern oder wie ganz früher in der Mensa: Stammessen I oder II?
Doch das Mahl erfüllte seinen Zweck, und anschließend brauchten wir nur noch über die Straße zu rollen, um das Concertgebouw zu erreichen, wo an diesem Abend, wie üblich begleitet von einem für finnische Verhältnisse geradezu quicksilbrig temperamentsprühenden Pekka Lehti am Kontrabaß, Markku Lepistö mit seinen verschiedenen chromatischen und diatonischen Akkordeons aufspielte. Eine bezaubernde Mischung aus eigenen Kompositionen, mal lebhaft, mal träumerisch, nachdenklich bis meditativ, dazwischen eine traditionelle Polka mit virtuosen Improvisationseinlagen oder ein schön verspielter Walzer auf seinen dreijährigen Sohn, Tango natürlich, mal finnisch, mal Piazzolla. Zwei Mann, zwei Instrumente, keine Minute eintönig.
Als wir aus dem kleinen Konzertsaal kamen, hatte es draußen zu regnen begonnen. Also mit der Tram zum Bahnhof, die Züge nach Den Haag verkehrten noch immer im Halbstundentakt und pünktlich. Im warmen Neonlicht des blaß fliederfarbenen Großraumabteils schmiegte sich die Herzogin müde und zufrieden an meine Schulter.
“He, das war eigentlich ein ganz schöner Tag”, sagte ich.
“Mmmhh”, schnurrte sie mit geschlossenen Augen zurück. “Und zur Belohnung dürfen wir gleich mit den Rädern durch den Regen nach Hause fahren.”
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