Ich sage es gleich, ich halte nicht sehr viel von David Herbert Lawrence. Lady Chatterley’s Lover ist ein Schmachtschinken und seine Reisebücher, nun ja, die Etruscan Places habe ich irgendwann zur Seite gelegt, und in Sea and Sardinia geht mir der dauerexaltierte Ton auf die Nerven. Aufregung aber nicht aus Begeisterung, sondern aus Ablehnung. Man fragt sich, warum der Kerl, seine arme Frau im Schlepptau (eine entfernte Verwandte Manfred von Richthofens übrigens), überhaupt nach Sardinien gereist ist; und man findet eigentlich bloß die Antwort, weil er Sizilien, den Ätna und vor allem die Sizilianer noch schlimmer fand:
“das stumpfste Volk der Erde”, “bar jeden Gefühls”. Einerseits.
“So entsetzlich leibhaft miteinander. Da ergießt sich einer über den andern wie zerlassene Butter über Pastinaken.” Andererseits. Und wo Lawrence schon außer Rand und Band beim Verdammen in Bausch und Bogen ist, gleich auch Italien in toto:
“so sanftmütig wie gekochte Makkaroni.”
Sardinien gefällt ihm erst ab dem Augenblick, in dem er plötzlich zu erkennen meint: “das war Cornwall”.
Es geht doch nichts über merry old England. Wiedererkennen, anheimeln ist eben der höchste Genuß des Touristen. “Niagara? Hat mich gleich an unser Schaffhausen erinnert.” Man kennt solche Sprüche. “Et fählt bloß vom Balkon die Aussicht op dä Dom.”
Sardinien “war so ähnlich, daß meine alte Sehnsucht nach keltischen Landschaften in mir wach wurde... viel hinreißender, aufrührender als der liebliche Glanz von Italien”. Einerseits. Doch er liebt die “Rundungen” von Granit in den “keltischen Landschaften”, “und ich hasse die ausgezackte Dürre des Kalksteins”. Andererseits. Ja, was denn nun?
Die Emphase seiner Ablehnung läßt den Erzähler völlig widersprüchliche Urteile zusammenklauben, wie sie ihm impulsiv gerade einfallen, als wüßte er nicht mehr, daß er drei Seiten vorher genau das Gegenteil behauptet hat. Bei einem überlegten Schriftsteller ist solche Widersprüchlichkeit nicht unbeabsichtigt, sondern stilisiert, Stil und letztlich Pose: Seht her, was für ein komplexer, sogar in sich widersprüchlicher Geist ich doch bin!
In dieser Pose läßt sich Lawrence zu Sätzen hinreißen, die selbst in Anbetracht der anderen Zeitläufte, Ansichten und Redeweisen damals zwischen den Weltkriegen, den, der sie äußert und auch noch auf Papier druckt, auf ewig verdächtig machen. Vehement widerspricht er im Vorübergehen der Abschaffung der Todesstrafe: “ein großer Fehler.” “Wäre ich Diktator würde ich den Älteren sofort hängen lassen... weil der sichere Herzensinstinkt einen Mann als übel erkennt, würde ich diesen Mann vernichtet haben.” Lukaschenko & Spießgesellen könnten es nicht besser ausdrücken.
Aber wichtiger ist ihm eine andere, daraus resultierende Frage: Wo gibt es überhaupt noch Männer?
“Mit Schrecken begreift man, daß die männliche Rasse in Europa fast ausgestorben ist. Da gibt es nur noch Helden nach dem Vorbild Christi und Frauenverehrer wie Don Juan und gleichheitswütigen Barbaren. Den alten, harten, unzähmbaren, männlichen Schlag gibt es nicht mehr. Seine stolze Eigenheit wird erdrückt. Die letzten Funken verglühen in Sardinien und Spanien. Und übrig bleibt das Herden-Proletariat und die Herden-Gleichheit der Mischlinge”.
Das ist mir vielleicht ein Brüderle.Nun könnte man diesen D.H. Lawrence natürlich einfach in die Literaturgeschichte entsorgen und dem großen Vergessen darin überlassen, wenn der Kerl nicht manchmal Sätze in den Raum stellte wie Monolithe. Da stehen sie so vollendet, daß man kein Jota daran ändern will und kann. Das merkt man spätestens, wenn man sie einmal mit ihren Übersetzungen vergleicht, wie es Hans-Ulrich Treichel in seinem Sardinien-Buch mit dem ersten Satz von Lawrence tut. “Es überkommt einen – man muß reisen”, hat Georg Goyert übersetzt. Das ist ein Satz, untadelig, aber kein Monolith. Das Original schlägt man auf, und da steht einleitungslos und herrlich anti-pascalsch:
“Comes over one an absolute necessity to move.”
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Vor einem Jahr kam an einem sonnigen, aber kalten Wintersonntag Leben in die Haager Frederik Hendriklaan, kurz “Fred” genannt. Vor der Buchhandlung Paagman bildete sich eine lange Schlange: Redmond kam.
Redmond, das war Redmond O’Hanlon, Doktor aus Oxford, Fellow of the Royal Geographical Society und Autor solch umwerfend (komisch) erzählter Reisebücher wie Redmonds Dschungelbuch oder Kongofieber (mein erklärter Favorit). Aber, verriet er, die Reiseschriftstellerei habe ihn zu viel gekostet. In erster Linie Gesundheit. Er habe auf seinen Reisen so gut wie jede erdenkliche Tropenkrankheit durchgemacht. Und anschließend sei erst die richtige Härte gekommen: auf jedes seiner Bücher habe er mühselige Jahre seines Lebens verwandt. Jetzt sei er zu alt, um noch einmal in den Dschungel aufzubrechen, und das Bücherschreiben werde er auch besser lassen. “I can’t think of any author who wrote a good book after 60.”
Und das von einem Mann, der angeblich mit Ian McEwan dicke befreundet ist. Ich denke, da läßt ihn sein literaturgeschichtliches Gedächtnis überhaupt ziemlich im Stich, aber für sich hat Redmond O’Hanlon eine Alternative gefunden. Neuerdings erzählt er auf seine unverwechselbar britische Art Reise- und Entdeckergeschichten im Fernsehen. Zum 150. Jahrestag von Darwins “Ursprung der Arten” segelte er 2009-2010, begleitet von einem Filmteam des holländischen Senders vpro und Darwins Ururenkelin Sarah, auf einem Dreimaster Darwins Reise mit der Beagle nach. Die begleitende Fernsehserie hat ihn in den Niederlanden sehr populär gemacht, und daher also die Schlangen vor Paagmans, als sich O’Hanlon voriges Jahr mit Alexander Reeuwijk über dessen Buch “Darwin, Wallace und die anderen” und die Evolution unterhielt. Unverzichtbar dabei: O’Hanlons alter Rucksack, aus dem er nicht nur seine Reisekamera zog, sondern auch andere Utensilien wie Einmachgläser mit eingelegten Giftschlangen, Würmern und ähnlichen Hokuspokus, um seine amüsanten Extemporationen zu Kuriositäten der Evolution anschaulich zu illustrieren.
“Da ist zum Beispiel die Chagassche Krankheit, übertragen von mehreren Arten von Mordwanzen, die einen in Gesicht oder Hals beißen und dann, vollgesogen, am Einstich koten. Wenn man sich kratzt, reibt man die Hinterlassenschaft und eine Ladung Protozoen in den Blutkreislauf; ein Jahr oder auch zwanzig Jahre später beginnt man an unheilbaren Schädigungen von Herz und Gehirn zu sterben [...]
Am beharrlichsten aber schwamm der Candiru durch die Träume meiner unruhigen Nächte, der Zahnstocherfisch, ein winziger Wels. – Solltest du am Amazonas einmal zuviel getrunken haben und beim Schwimmen unwillkürlich urinieren, so hält dich jeder heimatlose Candiru, angezogen vom Geruch, für einen großen Fisch und schwimmt aufgeregt deinen Urinstrom hinauf, hinein in deine Harnröhre wie ein Wurm in sein Loch, hebt seine Kiemendeckel und stellt ein paar rückwärtsgerichteter Stacheln auf. Der Schmerz, heißt es, sei von ganz besonderer Art. Man muß in ein Krankenhaus, bevor die Blase platzt, und dort einen Chirurgen bitten, den Penis abzunehmen.”
(aus: Redmonds Dschungelbuch)
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9| "Wenn hier vom Einzelnen gesprochen wird, dann ist der Mensch damit gemeint... der freie Mensch. – Dieser Mensch ist keine Ausnahme, stellt keine Elite dar. Er verbirgt sich vielmehr in jedem.
Wer Katastrophen entronnen ist, der weiß, daß er es im Grunde der Hilfe von einfachen Menschen verdankt, über die der Haß, der Schrecken, der Automatismus der Gemeinplätze nicht Macht gewann.
[Es ist] schließlich so, daß auf der Galeere, auf der wir leben, das Funktionale immer wieder von Menschen durchbrochen wird, sei es durch ihre Güte, sei es durch ihre Freiheit oder durch ihren Mut zur unmittelbaren Verantwortung. – Durch dieses Auftauchen aus den Funktionen leben wir.
Man kann sich jedoch nicht darauf beschränken, im oberen Stockwerk das Wahre und das Gute zu erkennen, während im Keller den Mitmenschen die Haut abgezogen wird... und zwar aus dem Grunde, weil das unerhörte Leiden von Millionen Versklavter zum Himmel schreit. – Um solche Dinge schwindelt man sich nicht herum.
10| “Der Mensch... muß die Punkte kennen, an denen er sich seine souveräne Entscheidung nicht abkaufen lassen darf.
Jeder Komfort muß bezahlt werden. Die Lage des Haustiers zieht die des Schlachttiers nach.
Das zeigt sich in den Phasen stärkster Bedrohung, in denen die Apparate den Menschen nicht nur im Stich lassen, sondern ihn in einer Weise umstellen, die ohne Aussicht scheint. Dann hat er zu entscheiden, ob er die Partie verloren geben oder sie aus innerster und eigener Kraft fortsetzen will. In diesem Fall entschließt er sich zum Waldgange."
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“Meine Eltern waren vor meiner Geburt genauso verantwortungslos wie danach. Nachdem sie sich bei Großmutter durch ein gewaltiges Weihnachtsessen mit elf Gängen geschlemmt hatten, zeugten sie mich ohne die geringste Vorstellung, wozu sie mich überhaupt haben wollten. Das läßt sich am besten dadurch beweisen, daß sie mir ein deutsches Kindermädchen besorgten, daß mir Deutsch als erste Sprache beibrachte.
Ich hatte drei ältere Brüder. Keiner von ihnen sprach Deutsch. Mein Vater hatte in Dresden studiert und sprach Deutsch, hatte mir aber ungewöhnlich wenig zu sagen. Meine Mutter sprach ein ganz leidliches Schuldeutsch, aber sie war nicht oft zu Hause. Mein Vater mochte die Art nicht, wie das Kindermädchen nach Berliner Manier das R in Fenster verschluckte, und darum begann er ironisch, mich auf Französisch Beau zu rufen. Meine Brüder, die weder Deutsch noch Französisch konnten, machten aus Beau Bobo, und mit diesem Namen, der am besten zu einem Schimpansen paßt, sollte ich unter Menschen leben, von denen die meisten ein B als P aussprechen. Für sie war ich Popo oder Pupu und das bedeutet auf Finnisch Hase. Es ist aber nicht leicht, ein Hase unter Menschen zu sein, die sich für Gottes auserwählte Helden halten.”
8| “Die Grundfrage in diesen Wirbeln lautet, ob man den Menschen von der Furcht befreien kann. Das ist weit wichtiger, als ihn zu bewaffnen oder mit Medikamenten zu versorgen. Macht und Gesundheit sind beim Furchtlosen. Dagegen belagert die Furcht auch die bis an die Zähne Gerüsteten, ja gerade sie.
Die Furcht wird immer der große Partner im Dialoge bleiben, wenn der Mensch mit sich zu Rate geht. Sie strebt dabei zum Monologe, und erst in dieser Rolle behält sie das letzte Wort.
Wird sie dagegen in den Dialog zurückverwiesen, dann kann der Mensch mitsprechen. Damit fällt auch die Einbildung umstellt zu sein. Es wird außer der automatischen immer noch eine andere Lösung sichtbar sein. Das heißt... die freie Entscheidung ist wiederhergestellt.
Ob er aber ein Schicksal habe oder als Ziffer gelte, das ist die Entscheidung, die heute zwar jedem aufgezwungen wird, doch die er allein zu fällen hat.
Der Mensch muß wissen... ob er sein So-Sein höher als sein Da-Sein schätzt."
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7| "Die Furcht nimmt immer die Maske, den Stil der Zeiten an. Das Dunkel der Weltraumhöhle... die Hexen- und Dämonenschwärme des Mittelalters sind Glieder der ewigen Kette der Angst, an die der Mensch wie an den Kaukasus geschmiedet ist... Und immer erscheint sie ihm in höchster, lähmender Wirklichkeit. – Nun ist die Welt der Schauplatz von Mikrobenheeren; die Apokalypse droht wie je zuvor... Der alte Wahn blüht in Psychosen.
Menschliche Furcht zu allen Zeiten... ist Furcht vor der Vernichtung, ist Todesfurcht. Das hören wir bereits von Gilgamesch... Die Überwindung der Todesfurcht ist daher zugleich die Überwindung jedes anderen Schreckens.
Wenn es dem Menschen gelingt, hier Raum zu schaffen, so wird sich die Freiheit auch auf jedem anderen Felde geltend machen, das die Furcht regiert.”
Hohe Verluste mögen nicht länger tragbar oder hinnehmbar sein, wenn man denn schon unbedingt den von Bastian Sick schon vor Jahren gestellten und zu recht angeprangerten “Silbenbarbaren” zu Wort kommen lassen will – aber “nicht darstellbar”? Welcher Berufsschönfärber aus der Marketingabteilung von DuMont hat denn das abgesondert? Die Formulierung legt nahe oder offen, daß es gar nicht um die Verluste und ihre bitteren realen Folgen etwa für die Belegschaft geht, sondern lediglich um deren Darstellbarkeit. Aber die ist doch kein Problem. Verluste lassen sich in Zahlen oder Grafiken ganz einfach und in aller wünschenswerten Deutlichkeit darstellen. “Darstellbar” meint hier etwas anderes, nämlich daß sich die Verluste vor den Geldgebern und deren McKinsey-consultants nicht länger rechtfertigen lassen. Doch wenn sich schon Zeitungsmenschen wie der alte Neven DuMont so ausdrücken, weil sie so denken, dann soll sich mit all ihren Blättern der Teufel den Allerwertesten wischen.
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5| “Die Furcht gehört zu den Symptomen unserer Zeit... Tatsächlich hängen wachsender Automatismus und Furcht ganz eng zusammen, und zwar insofern, als der Mensch zugunsten technischer Erleichterungen sich in der Entscheidung beschränkt. Das führt zu mannigfaltiger Bequemlichkeit. Notwendig muß aber auch der Verlust an Freiheit zunehmen.
Die Absicht in allen Systemen richtet sich auf... Zähmung und Dressur im Sinne des Kollektivs. Daß aber gerade das Kollektiv als das Unmenschliche auftritt, gehört zu den Erfahrungen, die wenigen erspart bleiben.
Die Menschen sind im Kollektiven und Konstruktiven auf eine Weise eingebettet, die sie sehr schutzlos macht. Sie geben sich kaum darüber Rechenschaft, wie ganz besonders stark in unserer Zeit der Aufklärung die Vorurteile geworden sind. Dazu kommt das Leben aus Anschlüssen, Konserven und Leitungen; die Gleichschaltungen, Wiederholungen, Übertragungen. – Plötzlich kommt dann die Ächtung, oft wie aus heiterem Himmel: Du bist ein Roter, Weißer, Schwarzer, ein Russe, Jude, Deutscher...
Wenn man in diesen Jahren an jedem beliebigen Punkt Europas mit Bekannten oder Unbekannten im Gespräch zusammensitzt, so wird... man bald erkennen, daß fast alle diese Männer und Frauen von einer Panik erfaßt sind... daß sie sich mit einer Art Besessenheit in ihre Furcht hineinstürzen... und bei voller Freiheit schon darauf sinnen, durch welche Mittel und Listen sie sich die Gunst des Niederen erwerben können, wenn es zur Herrschaft kommt. Und mit Entsetzen ahnt man, daß es keine Gemeinheit gibt, der sie nicht zustimmen werden, wenn es gefordert wird.
Nun sind aber dieselben Menschen nicht nur ängstlich, sondern fürchterlich zugleich. Die Stimmung wechselt von der Angst zu offenem Hasse, wenn sie jenen schwach werden sehen, den sie eben noch fürchteten. – Die Panik wird sich noch verdichten, wo der Automatismus zunimmt... sie wird durch Netze verbreitet, die mit dem Blitz wetteifern. Schon das Bedürfnis, mehrere Male am Tag Nachrichten aufzunehmen, ist ein Zeichen der Angst.”
6| “Die Welt ist so beschaffen, daß immer wieder das Vorurteil, die Leidenschaften Blut fordern werden, und man muß wissen, daß sich das niemals ändern wird... ewig unterhält die Dummheit ihr Tribunal. Man wird hinausgeführt, weil man die Götter verachtete, dann weil man ein Dogma nicht anerkannte... Dieser Prozeß ist ewig, und die Banausen, die in ihm als Richter saßen, trifft man auch heute an jeder Straßenecke, in jedem Parlament.”
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3|”Die Ausweitung der Polizei zu Heeren wird auf den ersten Blick seltsam erscheinen in Reichen, in denen der Beifall so überwältigend geworden ist. Sie muß also ein Zeichen dafür sein, daß die Potenz der Minderheit gewachsen ist.
Je näher der Anteil der guten Stimmen den hundert Prozent kommt, desto größer wird die Zahl der Verdächtigen, denn es ist anzunehmen, daß nun die Träger des Widerstandes aus einer statistisch faßbaren Ordnung hinüberwechselten in jene unsichtbare, die wir als den Waldgang ansprechen. Nunmehr muß jeder überwacht werden.
Wären die großen Massen so durchsichtig, so gleichgerichtet in den Atomen, wie die Propaganda es behauptet, dann wäre nicht mehr an Polizei vonnöten, als wie ein Schäfer Hunde für eine Herde braucht. Das ist nicht der Fall, denn es verbergen sich Wölfe in der grauen Herde, das heißt Naturen, die noch wissen, was Freiheit ist.”
4|
Soll der Geier Vergißmeinnicht fressen? –
Seht in den Spiegel: feig,
scheuend die Mühsal der Wahrheit,
dem Lernen abgeneigt, das Denken
überantwortend den Wölfen,
der Nasenring euer teuerster Schmuck...
Gelobt sein die Räuber: ihr
einladend zur Vergewaltigung,
werft euch aufs faule Bett
des Gehorsams. Winselnd noch
lügt ihr. Zerrissen
wollt ihr werden. Ihr
ändert die Welt nicht.
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1| “Wir leben in Zeiten, in denen ununterbrochen fragestellende Mächte an uns herantreten. Und diese Mächte sind nicht nur von idealer Wißbegier erfüllt... Man wird das an der Entwicklung verfolgen können, die vom Wahlzettel zum Fragebogen führt.
Die Beteiligung erscheint gefährlich, wo man die Wissenschaft des Fingerabdrucks und durchtriebene statistische Verfahren in Rechnung ziehen muß. Warum soll man denn wählen in einer Lage, in der es keine Wahl mehr gibt. Die Antwort lautet, daß unserem Wähler durch den Wahlzettel Gelegenheit geboten wird, sich an einem Beifall spendenden Akt zu beteiligen.
Diktaturen ist der Nachweis wichtig, daß die Freiheit, Nein zu sagen, bei ihnen nicht ausgestorben ist... Diktaturen können von der reinen Zustimmung nicht leben... bei hundert Prozent guter Stimmen [würde] der Terror sinnlos werden... Zwei Prozent weisen nach, daß zwar die Guten in ungeheurer Mehrheit, doch auch nicht gänzlich ungefährdet sind.
Das ist der Punkt, an dem der Wahlzettel zum Fragebogen wird... Man darf gewiß sein, daß jene zwei Prozent nach den Regeln der doppelten Buchführung auch in anderen Registern als denen der Wahlstatistik in Erscheinung treten, wie etwa in den Namenslisten der Zuchthäuser und Arbeitslager.”
2| “Wir wollen uns damit begnügen, die eigenartige Figur des Mannes zu betrachten, der ein solches Lokal in der festen Absicht, mit Nein zu stimmen, betreten hat.
Indem unser Wähler sein Kreuz an die gefährlichste Stelle setzte, tat er gerade das, was der übermächtige Gegner von ihm erwartete. Das ist die Tat eines gewiß tapferen Menschen, aber zugleich eines der zahllosen Analphabeten in den neuen Machtfragen... Er gab, indem er sich dabei ganz unverhältnismäßig gefährdete, dem Gegner die erwünschten Aufschlüsse.
Der Wähler steht vor der Klemme, daß er zur freien Entscheidung eingeladen wird durch eine Macht, die sich ihrerseits nicht an die Spielregeln zu halten gedenkt... Daher kann niemand ihm einen Vorwurf machen, wenn er nicht auf die Fragestellung eingeht und sein Nein verschweigt. Er ist dazu berechtigt nicht nur aus Gründen der Selbsterhaltung, sondern es kann sich in diesem Verhalten auch eine Verachtung dem Machthaber gegenüber offenbaren.
Man könnte fragen, ob denn die eine, auf dem Stimmzettel vermerkte Absage sinnlos sei? – Nein, eine solche Stimme kann nicht verloren gehen... Sie wird den Gegner nicht erschüttern, doch verändert sie jenen, der sich zu ihr entschloß.”
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Der Kahn legt ab
Aus dem Dunkel unten quirlt gelblich leuchtendes Wasser herauf
Stell dir ein Fahrzeug vor,
das auf Luft schwimmen kann
wie ein Schiff auf Wasser.
Für seine Besatzung sind wir
Tiefluftungeheuer.
Detail:
Der Kahn trägt den Namen Framtiden, "Die Zukunft"
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“Und nun noch ein Blick aufs Wetter.” Ja, es ist ein nicht zu unterschätzendes Gesprächsthema, auf dessen kommunikative und narrative Funktionen Ihr Laubacher Feuilleton gebührend hinweist, werter Herr Stubenzweig. Gewichtige Zeugen und Belege von Robert Musil bis Karl-Heinz Köpcke werden dort angeführt, und selbst der alte Schüttelspeer findet Erwähnung: “bei Shakespeare zeigt es immer das Wetter an, wenn der Säftehaushalt im Mikro- oder Makrokosmos nicht stimmt”.
Die Beobachtung ist sicher richtig, aber trotzdem: Shakespeare? Macht es einen Autor nicht schwerer Unzuverlässigkeit verdächtig, wenn er sich – wie die Bibel – als Zitatenlieferant für buchstäblich alles und jedes verwerten läßt? Was läßt sich denn, frage ich mich, mit Shakespeare nicht belegen? Der war sich doch für nichts Hahnebüchenes zu schade. Ich führe nur eines der bekanntesten Beispiele an: “our ship hath touch'd upon / The deserts of Bohemia.”
Wer’s nicht kennt, reibt sich ungläubig die Äuglein. Doch in der Tat, bei Shakespeare liegt Böhmen, eine der binnenländischsten Regionen Mitteleuropas, am Meer. Unmißverständlich auch die Regieanweisung in Shakespeares Wintermärchen über der dritten Szene des dritten Akts: Bohemia. A desert country near the sea. “Böhmen, eine wüste Gegend am Meer”, übersetzte Wieland texttreu und (hoffentlich) wider besseres Wissen.
Daß Böhmenkönig Ottokar II. Přemysl 1269 durch Erbvertrag Kärnten und die slowenische Krajina an sich gebracht hat und sein Einfluß damit bis an die Adria heranreichte, wird man kaum gelten lassen dürfen. Die Episode war dafür denn doch etwas zu kurzlebig. Gerade weil er sich so breit machte, unterlag Ottokar bei der Wahl zum deutschen König 1273 gegen Rudolf von Habsburg, kam in die Reichsacht, als er seine Niederlage nicht anerkennen wollte, und mußte nach einem Aufstand gegen ihn schon 1276 im Frieden von Wien auf seine sämtlichen Ansprüche außerhalb Böhmen-Mährens verzichten.
Etwaige historische Verhältnisse braucht man zugunsten Shakespeares auch gar nicht zu bemühen, gilt es doch längst als erwiesen, daß er auch in diesem Fall wieder einmal lediglich nur geklaut und schlecht abgeschrieben hat. Diesmal aus Robert Greenes Novelle Pandosto von 1588, in der auch Schlesien, Silesia, irrtümlich mit Sicilia verwechselt wurde und der Titelheld “provided a navy of ships and sailed into Bohemia”.
“It was this close following of his model that led Shakespeare into many of his anachronisms and geographical errors”, stellte der Herausgeber des Pandosto, Percy G. Thomas, fest. “No doubt, Shakespeare, in his indifference to such matters, went one more than the novelist”.
Der Erste, der sich über des größten Dramatikers aller Zeiten mangelnde Grundlagenkenntnisse in Erdkunde lustig machte, war natürlich sein Rivale Ben Jonson. Als er sich im Winter 1618/19 bei seinem schottischen Landsmann William Drummond auf dessen Burg Hawthorne Castle in Midlothian aufhielt, ließ er bei den Tischgesprächen die Bemerkung fallen: “Sheakspear, in a play, brought in a number of men--, saying they had suffered Shipwrack in Bohemia, wher ther is no sea neer by some ioo miles.”
Das wußte damals jeder; im gleichen Jahr war schließlich der Prager Fenstersturz in aller Munde. Und die Herren Slavata, Fabricius und von Martinitz waren offenkundig nicht ins Meer, sondern nur in den Graben der Prager Burg gestürzt.
Aber was schert die Wirklichkeit schon die Dichter? Natürlich haben sie aus Shakespeares Bock noch poetische Filetstückchen geschnitten.
Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich's grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder...
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.
Zugrund - das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Wie waren wir überhaupt auf all das gekommen? Ach ja, das Wetter...
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