“Sich in seinem Bett erleichtern, ist mit einem prompten Vergnügen verbunden, aber nachher ist man in Verlegenheit. Geben Sie mir einen Nachttopf, sagte ich, eine vase de nuit. Die Wörter vase de nuit waren mir sehr lieb, nun ja, recht lieb, während recht langer Zeit, sie brachten mich auf Racine oder Baudelaire -- ich bedaure, ich war belesen, und durch sie kam ich dahin, wo das Wort aufhört, das könnte von Dante sein."
(Samuel Beckett: Erste Liebe)
Adorno (“nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch”) konnte Beckett anerkennen und bestehen lassen, weil Auschwitz in dessen Stücken mitgedacht und enthalten ist. Aber was kann eigentlich nach Beckett noch kommen? Ist mit seinen Texten wie Das letzte Band nicht ein Nullpunkt der Literatur erreicht? Der letzte Solipsist monologisiert noch ein Weilchen, um sich und den Zuhörern die Zeit zu vertreiben, und dann macht sich nach den letzten einsilbigen und unsinnigen Wörtern Schweigen breit. Beckett bringt das Theater und die Literatur zum Verstummen. Das letzte Band dreht sich leer auf der Spule. Es ist längst alles gesagt, oder es lässt sich sprachlich nicht ausdrücken; es gibt nichts mehr zu sagen.
Wie kommt man aus der Sackgasse wieder heraus, wenn man das stumme Warten satt hat? Vielleicht im Rückwärtsgang. Im Fall Becketts kann man sich mal seine frühen Texte anschauen und findet da so schön anarchische Geschichten wie die obige.
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Die Werke von Samuel Beckett rutschen anscheinend mehr und mehr dem Vergessen entgegen, in dem viele seiner Figuren am liebsten endlich versunken wären.
Warten auf Godot taucht vielleicht noch hin und wieder auf dem Spielplan irgendeines Stadttheaters zwischen Anklam, Olpe und Sindelfingen auf, gedruckt steht es ungefähr auf Platz 40.000 der Amazon-Verkaufsliste, Murphy auf Rang 72.400, Watt auf Platz 413.000.
Aber vielleicht ist es zu früh, Beckett, den “Schriftsteller der Hoffnungslosigkeit” (A.Alvarez) endgültig abzuschreiben. Es könnte Anlaß für die sehr beckettsche, nämlich absurde Hoffnung bestehen, daß eine Wiederentdeckung seiner Werke als “radikalster literarischer Ausdruck des gegenwärtigen Weltzustands” (Adorno) noch einmal kommen wird bzw. bereits “draußen vor der Tür” steht und wartet.
Adorno (“Der Theodor, der Theodor...”) hat in seinen Noten zur Literatur unter dem gestelzten Bombast seines idiosynkratischen Jargons sich nicht entschlagen, manches Gescheite zu Beckett und dem Endspiel zum Besten zu geben. Sehr eindrücklich treffend erscheint mir z.B. seine Charakterisierung von Becketts Figuren als “Fliegen, die zucken, nachdem die Klatsche sie schon halb zerquetscht hat. – Die ganz auf sich zurückgeworfenen Subjekte... bestehen in nichts anderem als den armseligen Realien ihrer zur Notdurft verhutzelten Welt.”
“Bedeuten? Wir, etwas bedeuten?” fragt Clov im Endspiel und lacht. “Der war gut.”
Dazu Adorno: “Die individualistische Position gehörte zum Existentialismus. – Beckett verläßt sie wie einen altmodischen Bunker. Nirgendwo empfing die individuelle Erfahrung in ihrer Enge und Zufälligkeit die Autorität, sie selbst als Chiffre des Seins auszulegen.
Was aus dem Absurden wird, nachdem die Charaktere des Sinns von Dasein heruntergerissen sind, das ist kein Allgemeines mehr – dadurch würde das Absurde schon wieder Idee – sondern trübselige Einzelheiten, die des Begriffs spotten, eine Schicht aus Utensilien wie in einer Notwohnung. – Alles wartet auf den Abtransport.
Geschichtlich sind Becketts Urbilder auch darin, daß er als menschlich Typisches einzig die Deformationen vorzeigt, die den Menschen von ihrer Gesellschaft angetan werden.
Das Endspiel schult für einen Zustand, wo alle Beteiligten, wenn sie von der nächsten der großen Mülltonnen den Deckel abheben, erwarten, die eigenen Eltern darin zu finden.”
“Clov: Da ist jemand!
Ham: Geh ihn ausrotten.”
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“Schau dir die See an. – Wie sind die Wogen?”
“Aus Blei.”
“Und die Sonne?”
“Keine. – Es ist grau. – Hellschwarz, allüberall.”
“Du übertreibst.”
Wieder eins der der Menschheit noch verbleibenden Jahre neigt sich dem Ende zu. Wir werden auch im nächsten weiter fleißig an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Fukushima strahlt. Nur weiter so, schafft zwei, drei, viele Fukushimas!
Und noch viele ergebnislose “Weltklimagipfel”, und industriellen Fraß, der uns krank macht, und Wasser, das uns vergiftet.
“Réconfort cependant, et profond apaisement de penser que l’homme... disparaîtra” (Foucault, Les mots et les choses).
“Trost indes und tiefe Beruhigung, zu denken, daß der Mensch... verschwinden wird.”
Er wird, so wie die Aussichten heute sind, einmal eine Episode, ein mißratenes Experiment der Evolution gewesen sein.
Die Sterne beäugen uns schon argwöhnisch bis zornig. Man werfe in klarer Winternacht nur einen Blick hinauf zu Beteigeuze, dem Roten Überriesen in der kalten Schulter des Orion. Mit wütend gerötetem Auge funkelt er zu uns herab wie ein kalter Diamant. Er ist sechshundertsechzigmal so groß wie unsere Sonne, in unserem Sonnensystem würde sein Umfang bis an die Umlaufbahn des Jupiter reichen, und er wird sich nach Erkenntnissen der Astronomen relativ bald zu einer Supernova aufblähen und zerplatzen. Vielleicht ist er auch schon explodiert, oder es zerreißt ihn vielleicht heute oder morgen. Das würden, so es sie denn bis dahin noch geben sollte, unsere Nachfahren in etwa 600 Jahren erfahren. So lange braucht das Licht von diesem Stern, bis es bei uns eintrifft.
Zeit also, noch einmal zu den Büchern zu gehen. Ich trete ans Regal, greife:
“Fini, c’est fini, ça va finir, ça va peut-être finir”, sind die ersten Worte.
“Schluß damit, es wird Zeit, daß es endet”, die nächsten. “Und doch zögere ich... zu enden.”
“Alles ist was?”
“In einem Wort? – Aus! Pause. Na? Zufrieden?”
“Schau dir die See an.”
Doch dann wird’s hoffnungsvoller: “Ich habe einen Verrückten gekannt, der glaubte, das Ende der Welt sei gekommen. – Ich besuchte ihn manchmal in der Anstalt.”
Leider gibt es nicht nur den einen Verrückten: “Sie sind auf der Erde, dagegen gibt es kein Mittel! – Was erhoffen Sie eigentlich? Daß die Erde im Frühling wieder erwacht? Daß Meer und Flüsse wieder fischreich werden? Daß es noch Manna im Himmel gebe, für Idioten wie Sie?”
Nein. Endspiel. Beckett. 1957.
Guten Rutsch!
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Immer wieder schreibt Kleist in seinen Briefen davon, daß er die Tat höher schätze als jeden Gedanken und alles Wissen. Nachdem er im Oktober 1803 in Paris aus mangelndem Glauben an seine schriftstellerische Begabung sein aktuelles Manuskript verbrannt hat, will er (der angebliche deutsche Patriot) sich freiwillig der französischen Armee anschließen, mit dem erklärten Vorsatz, “den schönen Tod der Schlachten” zu sterben. Seiner unermüdlichen Gönnerin am preußischen Hof in Potsdam, Marie von Kleist, schreibt er als innigste Dankesbezeugung, zu der er fähig ist:
“Ich würde Ihnen den Tod wünschen, wenn Sie zu sterben brauchten, um glücklich zu werden.”
Als 1808 die Uraufführung seines bis heute erfolgreichsten Lustspiels Der zerbrochene Krug in der Regie Goethes beim Weimarer Publikum durchfiel, soll Kleist sich dermaßen erregt haben, daß er den berühmten Geheimen Rat zum Duell fordern wollte. Ob das nun der Wahrheit entspricht oder ins Reich des sächsisch-thüringischen Klatsches gehört, muß dahingestellt bleiben, dem preußischen Minister Friedrich von Raumer hat er 1811 jedenfalls schriftlich angedroht, Satisfaktion von ihm zu fordern. Es brauchte einige geharnischte Briefe vom durchaus temperamentvollen Staatskanzler Hardenberg, um Kleist zum Einlenken zu bewegen. Und auch dann noch versuchte er, fast selbst ein kleiner Kohlhaas, den mächtigen Kanzler noch durch eine Eingabe beim König zu übertrumpfen.
Mathieu Carrière war mit 15 “Der junge Törleß”, fünf, sechs Jahre später, in den wilden Siebzigern, stand er mit Orson Welles, Raquel Welch, Richard Burton und Brigitte Bardot vor der Kamera. Doch “weder ging er nach Hollywood, noch schlug er im deutschen Theater Wurzeln. Stattdessen trat er, in eigensinnigem Zickzack, mal im europäischen Kino, mal im öffentlich-rechtlichen Fernsehen auf. Er war der zackige Deutsche in „India Song“ von Marguerite Duras und ein preußischer Militärjunker in Schlöndorffs „Fangschuss“, ein zynischer Schönling in David Hamiltons „Bilitis“ und der junge Aufsteiger Karl Siebrecht in der ZDF-Kostümserie „Ein Mann will nach oben“”, gratulierte die FAZ in einem Artikel zu Carrières 60. Geburtstag. “Und während er alle diese Figuren mit nonchalanter Leichtigkeit verkörperte, schrieb er an einem sehr gelehrten, sehr komplizierten Buch über Kleist und die Literatur des Krieges”. Da war er Student und Mitarbeiter von Gilles Deleuze. Dennoch halte ich diesen Essay für einen der anregendsten, die ich über Kleist gelesen habe.
“Wie erzeugt man ein Katastrophenklima, das die Materie schreien oder singen läßt?”, ist eine der ersten Fragen, die er Kleists Texten stellt. “Beim Lesen von Kleists Dichtung gerät das Gemüt in eine stampfende, jagende Bewegung”, beobachtet er, “die Sprache wird zu einer realen Masse, die versucht, in ihrem Beschleunigungsprozess Stücke anderer realer Massen mit sich fortzureißen.” “Natura non fecit saltus – das ist das Credo seiner Feinde.”
Ein Mann, der vor einem Gewitter Schutz unter einem Baum sucht, wird von einem anderen, der bereits unter dem Baum steht, abgewiesen. Als er sich im Regen noch einmal umdreht, sieht er, wie ein Blitz in den Baum schlägt und den Mann darunter zu Asche verbrennt: “Kleist setzt Affektbewegungen an die Stelle von Gefühlszirkulation”.
“Alles, was Kohlhaas will, ist ein guter Bürger sein; aber er zeigt, daß auch der ehrenwerteste Wunsch sich in eine Kriegsmaschine verwandeln kann, wenn dieser Wunsch zum Affekt wird.” “Affekt, das ist die Aktion am Körper des Feindes.” “Affekte zirkulieren machen heißt unbewußtes Begehren produzieren”, “das Geheimnis funktioniert als Transportlogik der Affekte”: Der geheimnisvolle Zettel, überreicht von der geheimnisvollen Zigeunerin, mit den lebenswichtigen Informationen für den Kurfürsten, den Kohlhass verschlingt, um den absolutistischen Landesherrn noch auf dem Schafott ins Mark zu treffen.
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Kleist,die arme Socke. Aus einer alten und weit verzweigten Adels- und Offiziersfamilie stammend, war von Anfang nichts anderes als eine militärische Laufbahn für ihn vorgesehen. Sein Vater diente in Frankfurt/Oder als Stabsoffizier in einem preußischen Infanterieregiment. Er starb 1788. Söhnchen Heinrich, gerade mal zehn Jahre alt, kam zu einem Erzieher in die Hauptstadt Berlin, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, mit 14, ließ ihn die Mutter als Offiziersanwärter in das prestigeträchtige Regiment Garde in der Residenz Potsdam eintreten. Heinrich von Kleist, nach Aussage seines Hauslehrers Christian Ernst Martini ein “nicht zu dämpfender Feuergeist”, wurde von der Drillmaschinerie der preußischen Armee in die Mangel genommen.
Mit 15 mußte er in den Krieg, den Krieg der europäischen Reaktion gegen die revolutionäre französische Volksarmee. Später nahm er mit seinem Regiment an der Belagerung der Republik Mainzer Jakobiner teil. Nach Beendigung des Feldzugs wurde Kleist zum Fähnrich befördert und schob fortan Garnisonsdienst. An seinen alten Lehrer Martini schrieb er nach vier Jahren Drill und Exerzieren:
“... wurde mir der Soldatenstand, dem ich nie von Herzen zugetan gewesen bin, weil er etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt, so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen. Die größten Wunder militärischer Disziplin... wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung. Wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei... In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich... immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.” (Brief vom 19.3.1799)
Die klare Unterscheidung zwischen Mensch und Offizier – für einen Mann aus solcher Familie und solchem Umfeld aller Ehren wert!
Trotzdem hat die jahrelange Zurichtung durch die preußische Militärmaschine und ihren Offiziersgeist im Gemüt des jungen Mannes – Kleist war erst 21, als er den Dienst quittierte – tiefe Spuren hinterlassen. Es gibt doch kaum eine Novelle oder ein Drama von ihm, in denen nicht gekämpft oder Krieg geführt würde: Der Zweikampf, Michael Kohlhaas, Prinz Friedrich von Homburg, Die Herrmannsschlacht, Penthesilea.
Das gilt vordergründig auf der Handlungsebene, es gilt aber auch grundlegender für Kleists Art, zu denken, zu schreiben oder zu leben: Konflikte werden von ihm in seinen Texten stets polarisierend auf die Spitze und ins Extrem getrieben, zu unversöhnlichen Antagonismen, in denen die gegeneinander stehenden Kräfte aufeinander losgehen, um den anderen zu vernichten und auszulöschen.
“Wenn euer Landesherr käme, und spräche, ich will mich, mit dem ganzen Troß derer, die mir das Szepter führen helfen, vernichten – vernichten, versteht Ihr, welches allerdings der größte Wunsch ist, den meine Seele hegt”, sagt Kohlhaas, “so würde ich zu ihm sprechen: du kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich wills!”
In seinem ersten vollendeten Drama, der Familie Schroffenstein, ruft der alte Schroffensteiner:
“Sie haben mich zu einem Mörder
gebrandmarkt boshaft, im voraus. – Wohlan,
so sollen sie denn recht gehabt auch haben.”
Und handelt entsprechend.
Bei anhaltendem Interesse bitte hier entlang.
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Wieder ein Sonntagmorgen, wieder hat sich das Wetter beruhigt, der Sturm ist abgeflaut, die Wogen haben sich geglättet. Die ersten Wassersportler trauen sich bereits wieder in wackligen Fahrzeugen aufs Meer und sind froh, den Sturm los zu sein. Aber die Bora ist nicht nur ein lästiges Ärgernis und bringt in heftigen Böen von den Alpen herabstürzende Kaltluft und ebenso schnell fallende Temperaturen mit sich, sondern sie fördert auch Poesie und sogar hohe Gedankenlyrik.
Je mehr die Wolken sich heben und verziehen, desto klarer zeichnet sich in der frisch gewaschenen Luft das jenseitige Ufer des Golfs ab. Triest ist gut zu sehen, und in der Vergrößerung durch das Teleobjektiv treten sogar die Duineser Schlösser hervor.
Angeblich im Brausen der Bora will Rilke dort drüben im Winter 1911/12 die ersten Verse seiner Duineser Elegien gehört haben: "Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" – Ja, schreien muß man schon, wenn man die Bora übertönen will.
Bestimmt vornehm im Ton, aber vernehmlich in der Dringlichkeit hatte der einsame Rilke in der Pariser Wüste auch vorher schon gerufen. Er wartete wieder einmal auf eine Einladung von seiten seiner reichen Gönnerinnen. Im September 1911 wurde er endlich erhört: "Welcher Segen, dass Sie mich in Duino verbergen wollen: als ein Flüchtling, wie unter fremdem Namen, will ich mich dort aufhalten, nur Sie sollen wissen, dass ichs bin", schrieb er an Marie von Thurn und Taxis, die ihn seit der Veröffentlichung des Malte Laurids Brigge sponserte und 1910 schon einmal auf ihr Schloß in Duino nahe beim damals noch k.u.k.-österreichischen Triest eingeladen hatte. Jetzt bot sie ihm das Schloß neuerlich als Wintersitz an.
Im Oktober vor 101 Jahren traf Rilke im Wagen der Fürstin von Thurn und Taxis in Duino ein. Mitte Dezember reiste sie wieder ab, um nicht in Wien die rauschenden Opernbälle zu verpassen. Rilke: "Nun ist wieder Einsamkeit. Für mich ist's der Urstoff." Er steckte sein kleines Notizbuch ein und ging spazieren. Auch bei Sturm. Die zehn Duineser Elegien sind 1912 “ja nicht erarbeitet worden, da hat er ja nicht am Schreibtisch gesessen. Sondern die sind ihm im Toben der Bora visionär eingegeben worden”, erzählte ein begeisterter Rilke-Kenner dem Deutschlandfunk. “Das sind ja Offenbarungen. Das erinnert an Mohamed, der den Koran empfangen hat. – So sind religiöse Mythen entstanden.”
Na ja. Aber Rilkes Neunte, in jenem Winter drüben in Duino zumindest begonnen, ist wirklich großartig. Ich stehe auf der Piraner Terrasse und schaue über das von “eines Windes Lächeln” noch grau aufgewühlte Meer hinüber, während ich lese, Auszüge:
Warum, wenn es angeht, also die Frist des Daseins
hinzubringen, als Lorbeer, ein wenig dunkler als alles
andere Grün, mit kleinen Wellen an jedem
Blattrand (wie eines Windes Lächeln) –: warum dann
Menschliches müssen...?
... weil Hiersein viel ist, und weil uns scheinbar
alles das Hiesige braucht, dieses Schwindende, das
seltsam uns angeht. Uns, die Schwindendsten. Ein Mal
jedes, nur ein Mal. Ein Mal und nichtmehr. Und wir auch
ein Mal. Nie wieder. Aber dieses
ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal:
irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.
Und so drängen wir uns und wollen es leisten,
wollens enthalten in unsern einfachen Händen,
im überfüllteren Blick und im sprachlosen Herzen.
Wollen es werden. – Wem es geben? Am liebsten
alles behalten für immer . . . Ach, in den andern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber?
Bringt doch der Wanderer auch vom Hange des Bergrands
nicht eine Hand voll Erde ins Tal, die Allen unsägliche, sondern
ein erworbenes Wort...
Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, –
Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.
Sprich und bekenn.
Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm
kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem...
Drum zeig ihm das Einfache, das von Geschlecht zu Geschlechtern gestaltet,
als ein Unsriges lebt...
Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser..
... Und diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.
Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln
in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien.
Erde, du liebe, ich will. Oh glaub, es bedürfte
nicht deiner Frühlinge mehr, mich dir zu gewinnen.
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Ich bin der schwache Halm, der Wurm, der schreibt,
Ich bin die Kraft, die beide aus dem Boden treibt.
Ich bin der Regen und der Schirm
Ich habe Ängste und Gehirn.
Ich bin der Hirte und das Schaf
Ich bin das Wachen und der tiefe Schlaf.
Ich bin das Kind, das lacht, und auch der Greis,
der weinend um das Ende weiß.
Ich bin der Sitzenbleiber und der Lehrer
Ich bin Verächter und Verehrer.
Ich bin das Glas, die Rebe und der Wein
Ich bin ganz Gaumen und bin eitler Schein.
Ich bin das Blatt am Baum
Und auch der Wind, der es bewegt.
Ich bin der Kork und auch der Fluß.
Ich will nie sterben, doch ich muß.
Ich bin der Block und auch das Beil
ich bin gespalten und auch heil.
Ich bin das Schweigen und Gesang
Ich bin der Worte Überschwang.
Ich bin das Feuer, die Asche und das All
Ich bin die Falle und der Große Knall.
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"Nun hat der ständige Lebensaufenthalt in einem wohlgeordneten Staat durchaus etwas Gespenstisches; man kann weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken, ohne die ausgewogenen Hebel eines riesigen Apparats von Gesetzen und Beziehungen zu berühren; man kennt die wenigsten von ihnen, die tief ins Innere greifen, während sie auf der anderen Seite sich in ein Netzwerk verlieren, dessen ganze Zusammensetzung überhaupt noch kein Menscht entwirrt hat; man leugnet sie deshalb, so wie der Staatsbürger die Luft leugnet und von ihr behauptet, daß sie die Leere sei, aber scheinbar liegt gerade darin, daß alles Geleugnete, alles Farb-, Geruch-, Geschmack-, Gewicht- und Sittenlose wie Wasser, Luft, Raum, Geld und Dahingehn der Zeit in Wahrheit das Wichtigste ist, eine gewisse Geisterhaftigkeit des Lebens; es kann den Menschen zuweilen eine Panik erfassen wie im willenlosen Traum, ein Bewegungssturm tollen Umsichschlagens wie ein Tier."
(Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes Buch, zweiter Teil)
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Beschäftigt einen ein Thema erst einmal, dann fügt sich hin und wieder eins zum anderen, und so erhielt ich vorgestern ganz überraschend eine Einladung, an einer Veranstaltung ausgerechnet in Bethel teilzunehmen.
Also kam die Janet Fram für die Zugfahrt in die Reisetasche, und ab zum Bahnhof.
“Es lebe das Leben”, las Constanze Becker Gedichte von Frida Kahlo auf den Wegen durchs Land, und das Konzert mit den irrwischigen Javorkai-Brüdern und dem Morphing Chamber Orchestra war die reinste Ohrenweide. Andreas Scholl sang Vivaldis Stabat Mater. Zur Begleitung hier (leider nicht in einer Einspielung von ihnen) das erste der “3 Stücke in altem Stil” von Górecki, die auch zur Aufführung kamen.
"Silence was a city discipline. One did not burst into loud tuneless singing if one lived in a flat with people below, above, through this wall and that wall. One had to be 'civilised'.
In my country, Grace thought - yes, I'm saying it, in my country - the sky and cloud used to be above, the grass and the dead below, and through this wall and that wall sheep and cattle and the wind from the Southern Alps."
Country darkness fills the bowl of light to overflowing; in city darkness little silver lights swim like fish in and around the pool."
(Die "verrückte" Janet Frame in Towards Another Summer)
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Ja, es gibt schon eigenwillige bis eigenartige Menschen unter uns, vielleicht mehr als man denkt, denn die meisten dürften ihr Leben unauffällig und ungestört in der Zurückgezogenheit des Privaten verbringen, aus der vielleicht manchmal ein bizarrer Gedanke, eine schnurrige Äußerung oder eine als inadäquat empfundene Handlung hervorbrechen.
Geschieht so etwas häufiger, werden die sie Äußernden als “sozial auffällig” betrachtet und in der Anonymität der Öffentlichkeit meist geflissentlich ignoriert, wie etwa die zunehmende Zahl von Menschen, die auf Parkbänken oder in U- und Straßenbahnen der Großstädte sitzen und mit leerem Blick scheinbar Zusammenhangloses halblaut vor sich hin leiern. (Ich meine nicht die mit dem kleinen Knopf im Ohr, bei denen ich erst nach einer Weile erkenne, daß sie mit jemandem telefonieren.)
Wird das unangepaßte Verhalten der “nicht mehr Normalen” störend, legen Angehörige Therapien und Behandlungen nahe, und die bunte Fauna der Seelenklempner aller Couleurs macht sich ans Werk, die Ver- und Gestörten wieder zu unanstößig funktionierenden Mitbürgern zu schleifen.
Bleibt das Psycho engineering samt Drogenverabreichung von Psychopharmaka erfolglos, müssen die Kranken am Ende zum Wohl der Allgemeinheit aus dem Verkehr gezogen und weggesperrt werden. Nie wieder hört man von ihnen; es sei denn sie greifen zur Feder oder zu Stift und Pinsel und artikulieren ihre Erlebnisse und Traumatisierungen auf eine so faszinierende Weise, daß sie dafür mit Kunst- oder Literaturpreisen belohnt werden und so wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückkehren.
Zu Hölderlins Zeiten gab es noch keine Literaturpreise, aber das Leben einer anderen Autorin ist genau so verlaufen. Ganz am unteren Ende der Welt wurde im August 1924 im tiefsten Winter im neuseeländischen Dunedin Janet Frame von der ersten promovierten Ärztin des Landes in ein nicht sehr glückliches Dasein geholt. Der Vater war ein kleiner Mechaniker bei der Eisenbahn, der mehrfach an winzige Stationen im dünn besiedelten Süden versetzt wurde, die Mutter hatte als Dienstmädchen im Haus der Familie von Katherine Mansfield gearbeitet, bevor die Kinder kamen. Janets Bruder litt an Epilepsie, ihre beiden Schwestern ertranken im Abstand von wenigen Jahren, und die heranwachsende Janet vereinsamte zunehmend. Als sie mit 19 eine Ausbildung zur Lehrerin begann, war sie im College so isoliert, daß sie ihre Freizeit zum Teil zwischen Gräbern auf dem Friedhof verbrachte.
Nach einem Selbstmordversuch wurde sie 1945 als schizophren in das Lunatic Asylum von Seacliff eingewiesen, wo man sie über zweihundertmal mit Elektroschocks behandelte. Andere Patientinnen wurden geschlagen, wenn sie nicht “kooperierten”, zwangssterilisiert oder an der Clitoris beschnitten. Acht Jahre saß Frame in Seacliff und anderen Anstalten ein, bis die Ärzte beschlossen, ihre diagnostizierte Schizophrenie durch eine Lobotomie behandeln und die Patientin damit dauerhaft “emotional ruhigstellen” zu wollen. Der amerikanische Psychiater Walter Freeman, der die Operation in den 1940er Jahren zu einer Standardtechnik der Psychiatrie entwickelte und zu Publizitätszwecken manchmal Dutzende Patienten vor laufenden Fernsehkameras operierte, hat den “Erfolg” der Methode selbst darauf zurückgeführt, daß die Operation “die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.” (In der McCarthy-Ära hat man die Operation gern vorgenommen, um homosexuelle und kommunistische Neigungen zu behandeln.)
Der Termin für Janet Frames Verstümmelung zum irreparabel geistig und emotional zerstörten menschlichen Wrack war bereits angesetzt, als ihr völlig überraschend für ihre ersten veröffentlichten Kurzgeschichten ein renommierter Literaturpreis verliehen wurde.
Die OP wurde verschoben, Frame aber erst vier Jahre später aus den Mühlen der Psychiatrie entlassen. Die folgenden beiden Jahre verbrachte sie in einer ehemaligen Armeebaracke auf dem Grundstück von Frank Sargesons Gartenhaus in einem Vorort von Auckland, wo sie ihren ersten Roman schrieb: Owls do cry (1957, letztes Jahr in einer Neuübersetzung von Karen Nölle wieder auf Deutsch erschienen: Eulen schrein). In elf weiteren Romanen, einer dreibändigen Autobiografie und zahlreichen kürzeren Texten hat sie sich ihr Leben lang an ihren Traumata abgearbeitet und dafür literarische Anerkennung bis zu mehreren Vorschlägen für den Nobelpreis erhalten. Drei Jahre nach ihrem Tod 2004 erschien posthum ein zwölfter Roman, Towards another summer, den sie schon 1963 nach einem längeren Aufenthalt in England geschrieben hat. Sein erstes Kapitel hatte mich sofort am Wickel.
“When she came to this country her body had stopped growing... her hair that once flamed ginger in the southern sun was fading and dust-coloured in the new hemisphere”, lauten die ersten Sätze.
“It snowed. For weeks the plants in the garden had a shocked grey look that made you think they’d had a stroke and would die [...] Inside, the electric fires sucked in and blew out the same tired stuffy air, the bathroom walls glittered with damp moss [...] She looked beyond the tall flats with their floating staircases, underfloor heating, nine hundred and ninety-nine years’ lease... and stood in a suddenly-summer lane, shining. Her skin grew warm [...] And that night Grace felt on the skin of her arms and legs, her breasts and belly, and even on top of her head the tiny prickling beginning of the growth of feathers. – It was a relief to discover her true identity. For so long she had felt not-human [...] now the solution had been found for her; she was a migratory bird.”
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