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Sonntag, 16. Mai 2010
Deutsch-französische Fremdheit
Bald fünfzig Jahre sind seit der Umarmung von Adenauer und De Gaulle und dem Elysée-Vertrag von 1963 vergangen, Deutschland und Frankreich gelten als Doppelmotor der europäischen Einigung und fördern den bilateralen Austausch vor allem im schulischen Bereich und in der Kultur mit allen erdenklichen Mitteln, aber im Bereich der Literatur können sie trotzdem herzlich wenig miteinander anfangen. Deutsche Literatur hat dem Vernehmen nach in Frankreich den Ruf, spröde und “unsexy” zu sein, entsprechend wenig wird sie übersetzt und gelesen. Die Franzosen bevorzugen nach wie vor ihre eigenen Schriftsteller. 4 der 5 belletristischen Topseller kamen im letzten Jahr von einheimischen Autoren (die Ausnahme: Dan Brown). Von ca. 8600 2008 in Frankreich erschienenen Romanen waren 3440 oder 40% Übersetzungen, darunter aber kamen nicht mehr als 130 aus Deutschland, das sind etwa 4%. Umgekehrt sieht es nicht viel besser aus. Auch bei uns stammen zwei von drei Romanübersetzungen aus dem Englischen. Das Französische nimmt immerhin noch den zweiten Platz ein, aber nur mit einem Anteil von knapp 10% aller übersetzten Titel, und das im Jahr, in dem Le Clézio den Nobelpreis erhielt. Im Gesamtranking des Buchimports nach Deutschland rangiert Frankreich u.a. hinter Irland und Tschechien auf Platz 9. Zu unterschiedlich sind diesseits und jenseits des Rheins offenbar die Erwartungen an das, was man sich jeweils unter einem gut lesbaren Buch vorstellt. Was die Franzosen offenbar als eine wohlgesetzte und wohlklingende literarische Sprache goutieren, klingt in unseren Ohren häufig abgehoben bis verschwiemelt. Mein letzter Versuch macht da keine Ausnahme. Ich hab‘s mal mit dem neuen Roman des Figaro-Kritikers und Hobbykochs Sébastien Lapaque versucht, der doch ein Jahr nach seinem Amtsantritt in Il faut qu‘il parte so schön mit Sarkozy und seiner «bêtise néo-libérale» abgerechnet hat, daß er anschließend mehr als fünfzig Drohungen von Fresseeinschlagen bis Umbringen erhielt.
Diesmal bringt er lieber selbst um, literarisch zumindest: “Du wirst sterben, heute noch, du weißt es nur noch nicht”, beginnt sein neuer Roman Les identités remarquables. So schön knackig fängt es an, aber schon nach drei Seiten geht‘s dann los:

Tu t‘étais lié avec Laroque, heureux et fier de vous savoir les derniers de votre date à vous passionner ainsi pour les ídees générales, la crise de la culture et les problèmes historiques... Ce qui ne t‘a jamais coupé de la matière dont nos corps sont faits. Il y avait beaucoup de filles dans ta vie, tu t‘es efforcé de ramener cette multitude à l‘unité, même quand cela t‘est apparu un sacrifice...”
Klingt irgendwie gut, nicht? Aber in meiner unbeholfenen Übersetzung kommt hoffentlich in etwa rüber, was da (in einem Kriminalroman) wie ausgedrückt wird: “Du hattest dich mit Laroque zusammengetan, glücklich und stolz in der Überzeugung, daß ihr die Letzten eures Alters wart, die sich leidenschaftlich für die großen Ideen, die Krise der Kultur und die historischen Probleme interessierten... Das aber hat dich nie von dem Stoff abgeschnitten, aus dem unsere Körper gemacht sind. In deinem Leben hat es viele Mädchen gegeben, du hast dir Mühe gegeben, diese Vielheit auf eine Einheit zurückzuführen, auch wenn es dir wie ein Opfer erschien... C‘est affreux de laisser s‘eloigner toutes ces réalités qu‘on a follement aimées sous les tours des roues dentées du temps. Es ist schrecklich, sich von all diesen wirklichen Dingen, die man so unsterblich geliebt hat, unter den Umdrehungen der Zahnräder der Zeit entfernen zu lassen.” - Puh, der Autor ist noch in seinen Dreißigern, die Person, von der er spricht 27! Selbst als er seinem Freund ein Hühnchen kocht, geht das nicht ohne permanente Subtilitäten bei der Zubereitung wie dem begleitenden hochgeistigen Kulturgeschwafel über “le jeu subtil de Nicolas Cage” und die Genialität von Scorsese. “Voilà bien un homme chez qui l‘on n‘a pas à déplorer l‘éclipse de l‘imagination et l‘appauvrissement de l‘esprit critique”. - Mon dieu, ist es da verwunderlich, daß ich mir zum literarischen Reisebegleiter durch Paris lieber Henry Miller erkoren habe?

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Freitag, 14. Mai 2010
"De par le roi défense à Dieu de faire miracle en ce lieu"
Ach, sie lieben ja doch die großen Worte und die große Pose, die lieben kleinen Französchen. Sie singen und springen wie eh und je und tragen auch weiße Höschen. Wir haben den Ring der ehemaligen Stadtmauer König Philippe Augustes auf dem linken Seineufer hinter uns gelassen und folgen dem Lauf des Biberflüßchens hangauf, das nur noch als Abwasserkanal zugedeckelt unterirdisch durch die Darmwindungen von Paris fließen darf und längst ebenso aus dem Stadtbild verschwunden ist wie die Mauern aus dem 13. Jahrhundert. Hinter der Böschung eines ehemaligen Festungsgrabens, der Contrescarpe, bummeln wir ein eher beschauliches, schmales Gäßchen hinauf. Seine Häuser sind von den Bauverordnungen des Barons Haussmann sichtlich nicht betroffen worden; sie sind schmaler, niedriger, im Erdgeschoß fast immer kleine Läden, die Türen weit geöffnet, Stände und Stellagen davor, die den Gehweg noch schmaler machen und die Straße zugleich um die Verkaufsräume der Läden erweitern. Menschen gehen ein und aus, mit Einkaufstüten bepackt, aus denen Stangen von Porree und Baguettes ragen. Es ist ein kleineres, alltäglicheres Treiben hier als auf den großen Prachtstraßen, aber der Franzose Eric Hazan beschwört auch noch oder gerade hier zwischen den schmalen Häusern der Rue Mouffetard den “endlosen Kampf zwischen dem Geist des Raumes und dem Geist der Zeit”.
Die alten Läden, die Marktstände, die Bäume auf den Resten des kleinen Friedhofs bei der Kirche des hl. Medardus, wo in den 1720er Jahren die “Konvulsiven” in Trance halbnackt auf den Gräbern tanzten, bis König Louis XV. ein Schild aufstellen ließ, daß es “auf Befehl des Königs bei Gott verboten ist, an diesem Ort Wunder zu machen”, “diese ganze Palette von Epochen, Stilen und Ereignissen verleiht diesem Ort einen Geist, der sich mit keinem anderen vergleichen läßt”, schreibt Hazan.
Wir nehmen‘s auch eine Nummer kleiner, freuen uns an dem herrlichen Angebot von frischestem Obst und Gemüse, Deftigem und Delikatessen, wir staunen, daß es schon französische Erdbeeren gibt, die einander so ähnlich sehen, als kämen sie aus dem Klonlabor, und doch Aroma haben, und wir lassen uns schließlich in einem kleinen Straßencafé zwischen den Marktständen vor der Kirche nieder, bestellen einen knackigen Salat mit Ziegenkäse, Brot dazu und einen von diesen leichten Roséweinen, die sich in Frankreich als schlichte Tafelweine erstaunlicherweise sogar oft trinken lassen. Es ist Mittag, die Tische füllen sich zusehends mit Angestellten, die rasch eine Kleinigkeit essen, einen Kaffee trinken oder auf einer der Bänke in dem winzigen Kirchhofgärtchen für eine halbe Stunde die warme Frühlingssonne genießen wollen. Wer hätte das gedacht, aber so schön kann Paris sein.

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Montag, 10. Mai 2010
Der älteste Baum von Paris
In dem kleinen Park um die alte Kirche steht ein alter Baum. Er ist so alt, daß nur noch ganz wenige Äste Blätter tragen, und sein Stamm ist vom Alter so krumm und gebeugt, daß man ihm eine als Baumstamm getarnte Zementstütze unter die Achsel geschoben hat, damit er nicht umfällt. Wie man nachlesen kann, ist er der älteste lebende Baum von Paris. Doch so alt wie die ältesten erhaltenen Teile der Kirche ist er natürlich nicht. Die ursprüngliche Kapelle der Merowinger wurde 886 beim Sturm auf die Stadt von den Normannen abgefackelt. Die Ruinen schenkte der dritte Kapetingerkönig Heinrich I. 1045 dem Kapitel von Notre Dame, das sie an das Kloster Longpont in der Picardie weitergab. Zisterziensermönche von dort errichteten eine neue Kirche, von der heute noch die romanische Apsis aus dem Jahr 1175 erhalten ist.
So alt kann der Baum davor nicht sein, denn zu jener Zeit war die Art in Europa noch nicht heimisch. Der Baum ist eine Robinie, die erste oder zweite Robinie in Europa, denn Robinien wuchsen ursprünglich nur in Nordamerika. Die Wikinger oder Normannen haben sie nicht von dort mitgebracht, aber nachdem Champlain am Sankt-Lorenz-Strom die erste dauerhafte französische Kolonie in Kanada gegründet hatte, erteilte die Hofgärtnerei des Königs den Auftrag, Pflanzen aus La Nouvelle France für die königlichen Gärten über den Atlantik heranzuschaffen. 1623 erhielt der kgl. Hofgärtner Jean Robin Setzlinge einer unbekannten Baumart, von denen er einen in den Botanischen Garten der Sorbonne und einen zweiten neben St. Julien-le-pauvre pflanzte. Als später Linné die Art klassifizierte, benannte er sie nach ihrem ersten Pflanzer Robinie. Auf deutsch nennt man sie wegen ihrer schönen Blüten auch Silberregen, und dieser schönen Blüten wegen wollten auch andere Monarchen und Aristokraten sie bald in ihren Parks haben. 1640 wurde das erste Exemplar nach England geliefert, und dreißig Jahre später wurden Setzlinge im Arboretum des Berliner Lustgartens neben dem Schloß gepflanzt. Ihr Holz gilt als widerstandfähiger und dauerhafter als Eiche, und die erste Robinie auf europäischem Boden, die, wenn auch altersgebeugt, noch immer vor der alten Kirche von St. Julien steht, beweist ihre Langlebigkeit.

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Freitag, 7. Mai 2010
Zeichen am Himmel über Paris
Allonsenfants, geht‘s denn hier überhaupt nicht weiter? - Aber ja, wie der synchronisierte Franzose in deutschen Kinos mit gleichbleibender Penetranz zu antworten pflegt. Zwar können einen Großstädte manchmal tagelang verschlucken, aber wir sind noch immer unterwegs, von der Höhe Bellevilles hinab zur Bastille, vom Centre Pompidou zum Centre ville, vom Boulevard zum Bau(m)haus.
Centre Pompidou Und dann stehen wir auf einmal vor Unserer Dame und stellen fest, die Menschen, die sich da in zierlichen Reihen wie am Schnürchen um die Rabatten schlängeln, genießen nicht die warme Frühlingssonne, sondern harren auf Einlaß. Aber wie hieß es noch: “Denken! Nicht mit Glauben begnügen: weiter gehen.” Wir gehen weiter. Noch einen Schritt zurück in der Zeit. Doch auch der Fassade des Justizpalasts hängt da, wo sich der Eingang zur Sainte-Chapelle befinden soll, ein langer Bandwurm von Wartenden aus dem Maul. Bon, das Wetter ist eh viel zu schön, spatzwandeln wir also zum Bug der Insel, lassen uns auf dem Pont Neuf den leicht kühlenden Luftzug über der Seine zufächeln, und blicken uns um.
“Wie hat sich Paris in den letzten zehn Jahren verändert?” fragt Monsieur Hazan, um sein Buch über die Stadt irgendwie zu beginnen. Wunderliche Frage; ist doch alles noch da: Notre Dame, Sacré Cœur, Triumphbogen, und fröhlich grüßt der Eiffelturm... Aber dieses pyramidenförmige Gewächshaus vor dem Louvre stand doch beim letzten Mal noch nicht da. Das Centre Pompidou befand sich noch im Bau, und das tut es heute noch, ist ja schließlich immer noch eingerüstet, n‘est-ce pas? Das Quartier Latin auf dem linken Ufer habe sich seit den Neunzigern kaum verändert, behauptet Hazan. Mein letzter Besuch liegt noch viel länger zurück, und sauberer, aufgeräumter als damals ist es allemal, da hat M. Hazan schon recht, aber es gefällt mir trotzdem in den historischen, engen Gassen, auch wenn Hazan meint, es passiere gar nichts mehr auf dem Rive gauche. Man schlendert gelassener, weniger behelligt von Lärm und Autoverkehr als auf den Boulevards auf dem rechten Ufer, und in dem winzigen Park um Saint-Julien-le-Pauvre unmittelbar gegenüber Notre Dame finde ich meine kleine Ruheoase.
Der Platz ist so alt, daß von genau hier einst die beiden wichtigsten Fernstraßen der Römer in Gallien ausgingen, nach Südosten die Heerstraße nach Burgund sowie die Nordsüdverbindung von Soissons nach Orléans. Auf dieser Straße war im Jahr 463 der letzte römische Heermeister für Gallien, Aegidius, von seinem befestigten Legionslager Augusta Suessionum gegen die Westgoten bei Orléans gezogen. 23 Jahre später wurde sein Sohn Syagrius vor der eigenen Haustür in Soissons von den Franken unter Chlodwig geschlagen und damit die letzte weströmische Enklave beseitigt. Syagrius floh über die Loire zu den Westgoten, wurde aber zu seinem Entsetzen von deren König Alarich II. an die Franken ausgeliefert. Chlodwig ließ ihn hinrichten. Der erste König aller Franken machte Paris erstmals zur Hauptstadt. Nach seinem Tod teilten die Söhne das Frankenreich 511 wie einen geschlachteten Ochsen in vier gleiche Teile; Orléans und Soissons wurden neben Reims wieder Hauptstädte ihrer Teilreiche, Paris blieb Residenz des primus inter pares, Childebert. Vielleicht ließ schon er an der Straßenkreuzung am südlichen Seineufer für Reisende ein Hospiz mit kleiner Kapelle anlegen, ehe Paris unter den fortgesetzten Reichsteilungen und Bruderkriegen der nachfolgenden “langhaarigen Merowinger” wieder an Bedeutung verlor. Als der dort regierende Charibert 567 ohne männlichen Erben starb, entfesselten sein Bruder Sigibert von Austrien in Reims und sein bei der Reichsteilung benachteiligter Halbbruder Chilperich von Neustrien in Soissons eine jahrelange blutige Fehde. Beide heirateten Schwestern, die Töchter des Westgotenkönigs, doch ließ Chilperich seine Frau bald auf Anstiften seiner langjährigen Geliebten Fredegunde erdrosseln, und daraus entwickelte sich eine Familientragödie, die nicht nur im Nibelungenlied Spuren hinterließ, sondern auch fast die zerstörerischen Ausmaße des in ihm geschilderten Untergangs erreichte und beinah zum Aussterben der Merowingerdynastie geführt hätte. Als sich der Geschichtsschreiber Gregor, Bischof von Tours, im Jahr 577 in Paris aufhielt und Quartier im Hospiz von St. Julien genommen hatte, erschienen am Himmel Zeichen: zwanzig Lichtstrahlen gingen im Osten auf und wanderten über den nördlichen Himmel nach Westen; einer von ihnen überragte die anderen, löste sich dann aber plötzlich auf.
Credo, interitum Merovechi pronuntiassent
(Ich glaube, sie kündigten den Tod des Merowech an).”



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Freitag, 30. April 2010
SDF

“Le vieux Paris n‘est plus (la forme d‘une ville
change plus vite, hélas! que le cœur d‘un mortel)”

(Baudelaire: “Le Cygne”)

150 Jahre ist der Nahezu-Komplettumbau von Paris her, aber so lange hat die Öffnung und Lüftung der Stadtareale nicht angehalten. Und Barrikaden wurden durch die Pariser Kommunarden schon im Jahr nach Haussmanns Absetzung wieder errichtet, höher und solider als die alten. Vor allem aber ist die Stadt schon längst wieder viel zu knapp an (bezahlbarem) Wohnraum. In seinem Buch Die Erfindung von Paris (L‘invention de Paris, 2002), das uns ein bißchen als Führer dient, beschreibt Eric Hazan, wie Paris seit dem Mittelalter immer wieder seine Grenzen gesprengt hat. Insgesamt sechs Mauerringe haben es nacheinander umschlossen wie Zwiebelringe, und mehrfach wurden die alten, zu eng gewordenen Mauern geschleift und die dadurch entstandene Fläche anschließend zum innerstädtischen Verkehrsring ausgebaut, wie es beispielsweise Haussmann mit seinen Boulevards an Stelle der alten Stadtmauer aus dem 14. Jahrhundert tat. Draußen wurde dann in gehöriger Entfernung vom alten jeweils ein neuer Mauerring gebaut, der neu zu erschließende Wohnflächen einschloß. So hatte erst kurz bevor Haussmann seinen radikalen Stadtumbau begann, der damalige Premierminister Thier 1840 eine komplett neue Stadtbefestigung mit nicht weniger als 17 Forts weit draußen im Glacis errichten lassen. Als auch das Haussmannsche Paris wieder aus allen Nähten zu platzen drohte, mußte auch diese bisher letzte Mauer um Paris weichen.
Vor fünfzig Jahren, 1960, ernannte die damalige französische Regierung einen Beauftragten für eine neuerliche Modernisierung und Erweiterung der Stadt und ließ entsprechende Pläne ausarbeiten. Um diese Zeit mußte Paris Jahr für Jahr 200.000 Zuwanderer aufnehmen. Dabei fehlten schon Hunderttausende von Wohnungen und an die 800.000 bestehende waren kaum mehr zu sanieren und abbruchreif. “Gas- und Elektrizitätsnetz sind überlastet, die Trinkwasserzufuhr ist an heißen Sommertagen gefährdet. Jährlich müssen 50 000 Anträge auf Telephonanschlüsse zurückgestellt werden”, schrieb der Spiegel damals in einem Report. Zu dieser Zeit war die eigentlich von Anfang an überholte Thier-Stadtmauer von 1840 schon längst abgerissen, und ihrem Verlauf folgend baute man bis 1973 den achtspurigen Boulevard Périphérique, den heute jeder, der mit dem Auto nach Paris fährt, hassen gelernt hat. Urbanistisch funktioniert er nach wie vor als Stadtmauer, denn er markiert nach wie vor die offizielle Stadtgrenze, und wer jenseits, in den Trabantenvorstädten der Banlieue, lebt, darf sich zumindest im östlichen Halbrund auch wirklich ziemlich effektiv ausgesperrt fühlen. Hazan nennt die Périphérique dort zutreffend “an unbridgeable barrage of concrete and noise... where the only human beings on foot are natives of Lviv or Tiraspol trying to survive by begging at the traffic lights. The gulf between Paris and the banlieue remains a yawning one in this sector, for reasons that are political in the strong sense. The present population of the former Paris ‘red belt‘ is now for the greater part of ‘immigrant origin‘, i.e. made up of Blacks and Arabs; the very people, or their relatives, who had been driven out of the city by renovation and rising rents... The combined action of town planners, property speculators and police has never stopped pressing the poor, the ‘dangerous classes‘, further from the centre of the city.”

In der Stadt lebt relativ konstant eine Bevölkerung von zwei bis drei Millionen Bürgern, draußen ist die Zahl der Umwohner inzwischen auf gut zehn Millionen angewachsen. “Eine koordinierte städtebauliche Planung der Region wurde dadurch nicht erleichtert, die Stadt franste meist einfach nur aus, die "Banlieue", war bald kein Ort mehr, sondern "bloß eine Entfernung". Dass sie existiert, nehmen manche Bewohner der Innenstadt nur wahr, wenn die perspektivlose Jugend, die dort wohnt, randaliert.” (Sascha Lehnartz am 19.7.2009 in der Welt)
Der Druck von draußen nach drinnen ist immens, denn natürlich möchte jeder aus den No-future-Ghettos der Banlieue dahin, wo die Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten liegen, in die Stadt, und dort rückt man so eng zusammen, wie es nur eben geht. Das 11. Arrondissement östlich von Bastille und Place de la Republique, durch das wir gerade liefen, wies schon bei der Volkszählung vor fast zwanzig Jahren eine Bevölkerungsdichte von 40.627 Einwohnern/km² auf. Das sind zehnmal so viele wie in München und immerhin noch dreimal so viele wie in Kreuzberg. Die Zahl der innerstädtischen Einwohner explodiert nur darum nicht vollends, weil einfach der verfügbare Wohnraum viel zu begrenzt und kaum mehr erweiterbar ist. Der sichtbarsten Folge davon begegnen wir auf unserem Spaziergang auf Schritt und Tritt: SDF‘s. Früher hießen sie einmal Clochards und sahen alle aus und sangen wie Georges Moustaki, le métèque. Doch ihr Nimbus wurde dann irgendwann genauso fadenscheinig und verschlissen wie ihre Kleider und müffelte auch ein wenig, weshalb die Verwalter menschlichen Elends sie in ihrer Beamtensprache mit einer aseptisch-technisch klingenden Abkürzung bedachten: SDF = sans domicile fixe = ohne festen Wohnsitz.
Im vergangenen Winter sind allein in Paris mehr als 300 solcher Obdachloser auf offener Straße erfroren. Wie viele es von ihnen gibt, weiß keiner ganz genau, weil sich unter ihnen natürlich eine Dunkelziffer von Illegalen ohne Papiere aufhält. Die der Hilfsorganisation Emmaüs angeschlossene Fondation Abbé Pierre hat letztes Jahr wieder eine Sozialerhebung zur Obdachlosigkeit in Frankreich durchgeführt. Sie kam zu dem Ergebnis, daß es landesweit mindestens 100.000 SDF‘s gibt, rechnet aber noch einmal mehr als 500.000 Menschen hinzu, die ebenfalls kein festes Heim haben. 50.000 Franzosen etwa leben dauerhaft in Hotelzimmern und Pensionen, 40.000 in provisorischen Unterkünften wie Wohncontainern und Baracken, 100.000 in Wohnwagen und auf Campingplätzen usw. Insgesamt rechnet die Stiftung vor, daß mehr als 3,5 Millionen Franzosen in prekären Umständen hausen. Am größten ist die Wohnungsnot in Paris. Da ist das Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt so verheerend, daß schon Menschen in fester Anstellung auf der Straße in Zelten leben, weil sie einfach keine Wohnung bekommen. Zelte kann man überall in der Stadt finden, selbst auf den Mittelstreifen der Boulevards. Eins sah ich zum Beispiel direkt am Fahrbahnrand des Boulevards des Invalides zwischen Musée Rodin und Invalidendom.

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Mittwoch, 28. April 2010
Misère de Paris und Haussmannisierung
Am nächsten Morgen brachen wir zu einem ausgedehnteren Spaziergang Richtung Innenstadt auf. Ich wußte noch nicht, daß er zehn Stunden dauern würde. Aber ich habe den Verdacht, die Duracelldame an meiner Seite führte von Anfang an nichts anderes im Schilde.
“Come in and find out!” (Nachdem die Parfümeriekette Douglas durch eine Umfrage entdeckte, daß die meisten Kunden ihren Slogan als “Komm rein und find wieder raus!” verstanden, ließ sie ihn rasch fallen.) Ich hingegen fand als erstes heraus, daß der berühmte Schlager (ich kenne die Fassung von Jacques Dutronc, und die von Vanessa Hachloum finde ich auch schlimm) "Il est cinq heures, Paris s‘éveille" eine glatte Lüge ist. Paris schlief, tief und fest. Die Boulangerie an der Ecke hatte geöffnet, wo man diesen in die Länge gezogenen Weißmehlteig bekommt, der nach dem Backen maximal zwei Stunden frisch und genießbar bleibt, ehe man ihn nur noch an die Tauben verfüttern kann, die sich darum natürlich zu einer allgegenwärtigen und nur vorzeitig an Herzverfettung sterbenden Pariser Plage entwickelt haben.
Die einzige, die in Paris niemals schläft, ist die Müllabfuhr. Doch selbst durch ihren unermüdlichen Einsatz schafft sie es lediglich, die Straßen der Stadt oberflächlich von groben Verunreinigungen zu befreien. Und auch wenn ständig irgendwo reichlich Wasser durch die Rinnsteine gespült wurde, drängte sich zumindest in den östlichen Stadtteilen bald unweigerlich das Bild auf, Paris sei zwar nicht die große Hure Babylon, aber doch eine von langer, nächtlicher Schicht flügelmüde heimkehrende Bordsteinschwalbe. Ihre Wimperntusche lief in schwarzen Rinnsalen das Gesicht hinab, der Stuck auf den Wangen bröckelte, der Lippenstift auf der Fassade war verwischt, die Haare hingen ihr in fettigen Strähnen auf die mit Graffiti tätowierten Schultern, und an dem einstmals imposanten Vorbau war einiges in Schräglage geraten. Wer sich mit ihr einließ, wurde das Gefühl nicht mehr los, daß sich die eigene Haut mit einem Schmutzfilm aus rußigem Staub und Fett überzog.
Es war die gleiche dunkle Tönung, die auch die Menschen an Kleidung, Gesicht und Händen aufwiesen, die an den Straßenrändern aus Zelten oder notdürftig mit Bindfaden zusammengehaltenen Kartons und Plastikplanen krochen oder sich in der Kühle des Aprilmorgens benommen und fröstelnd von Parkbänken aufrappelten.

“The Place St. Sulpice, so quiet and deserted, where toward midnight there came every night the woman with the busted umbrella and the crazy veil; every night she slept there on a bench under her torn umbrella, the ribs hanging down, her dress turning green, her bony fingers and the odor of decay oozing from her body; and in the morning I‘d be sitting there myself, taking a quiet snooze in the sunshine, cursing the goddamned pigeons gathering up the crumbs everywhere.”
(Henry Miller, Tropic of Cancer)

Seinebrücken um 1750 Das gleiche Bild also schon damals vor 82 Jahren im Frühling 1928, und das gleiche Elend jahrhundertelang. Mit Beginn des 16. Jahrhunderts war Paris zur bevölkerungsreichsten Stadt Europas angewachsen. In den beiden folgenden Jahrhunderten verdoppelte es seine Einwohnerzahl, die nach der Revolution von 1789 bald die Millionengrenze überstieg. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts brach die Infrastruktur, insbesondere Wasserver- und -entsorgung, unter dem Bevölkerungsüberdruck fast zusammen. 1832 starben 20.000 Menschen an einer ersten Choleraepidemie; weitere folgten. Das Elend, den Schmutz, die hygienischen Verhältnisse, die Enge, den Gestank in den Armeleutequartieren können wir uns heute in Europa vorerst kaum mehr vorstellen, denn es wurde in Frankreich nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom Juni 1848 der notorische Putschist Louis Napoleon Bonaparte zum Staatspräsidenten gewählt, der sich nach dem Vorbild seines Onkels nach nur drei Jahren per Staatsstreich zum zweiten Kaiser der Franzosen putschte und den Baron Haussmann zum Präfekten des Départements Seine ernannte, um Paris “aufzuschlitzen” und dem überbläht gärenden Ballon die Miasmen abzulassen. In den nicht einmal zwanzig Jahren seiner Amtszeit hat Haussmann das Gesicht von Paris bekanntlich vollkommen verändert. Als erstes schlug er gewaltige Schneisen durch das Dickicht der Großstadt: ein breites Straßenkreuz sollte sie in übersichtlichere Quadranten aufteilen wie ein römisches Legionslager. Es sind die Boulevards von der Gare de l‘Est nach Süden über die Île de la Cité und auf dem südlichen Seineufer weiter als Boulevard Saint Michel, sowie in Ost-West-Richtung von der Place de la Nation über Bastille, Louvre und Tuilerien zu den Champs Elysées. Das alte Herz von Paris wurde durch dieses Kreuz durchschnitten, und genau das war Teil des Plans. Die Île de la Cité ließ Haussmann geradezu ausweiden. Charles Meryon, 1868 Tausende von Wohnhäusern wurden abgerissen, insbesondere wurden auch die Wohnungen auf den bis dahin stets überbauten Brücken rasiert, und die alte Stadtinsel, die Keimzelle, wurde von einem Wohnviertel zu einem Behördenviertel umgebaut, allein der Platz vor der Kathedrale Notre Dame um das Vierzigfache seiner alten Fläche vergrößert, damit die Zahl der Bewohner auf der Insel um mehr als zwei Drittel sank. Insgesamt wurden 15.000 Häuser abgerissen und 117.000 Familien aus der Innenstadt in Elendsviertel am Stadtrand zwangsumgesiedelt. An die Stelle des alten, übervölkerten Zentrums sollte kein neues treten. Stattdessen ließ Hausmann in den Stadtvierteln Breschen reißen, von denen als Knotenpunkten strahlenförmig ausgehende breite Straßen die Viertel miteinander vernetzten. Damit alle Viertel von neu in der Stadt errichteten Kasernen der Armee, auf die gestützt Napoleon III. regierte, schnell erreicht werden konnten, legte Haussmann auf den Resten der spätmittelalterlichen Stadtmauer Charles V. einen weitgespannten Halbring aus dreißig Meter breiten Boulevards um das Machtzentrum am nördlichen Seineufer. “Der wahre Zweck der Haussmannschen Arbeiten war die Sicherung der Stadt gegen den Bürgerkrieg. Er wollte die Errichtung von Barrikaden in Paris für alle Zukunft unmöglich machen”, schrieb Walter Benjamin in seinen Einleitungsexposés zum Passagen-Werk, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In der Tat hat Haussmann selbst in einem Schreiben an den Kaiser als ein Ziel seiner “Stadtsanierung” angegeben: “défendre Paris contre l'invasion des ouvriers de la province.”
Benjamin daher weiter: “Die Breite der Straßen soll ihre [der Barrikaden] Errichtung unmöglich machen und neue Straßen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und Arbeitervierteln herstellen.” 32.000 neu aufgestellte Gaskandelaber und 15.000 sonstige Straßenlaternen sorgten dafür, daß etwaige Aufrührer auch nicht im Schutz der Nacht ihren Umtrieben nachgehen konnten.

J‘ai le culte du Beau, du Bien, des grandes choses, / De la belle nature inspirant le grand art”, schrieb Haussmann fast zynisch in seinen eitlen Memoiren mit dem Titel Bekenntnisse eines alt gewordenen Löwen: “Ich pflege den Kult des Schönen, Guten, der großen Dinge, / der schönen Natur, die große Kunst inspiriert.”
“Haussmanns urbanistisches Ideal waren die perspektivischen Durchblicke durch lange Straßenfluchten. Es entspricht der im XIX. Jahrhundert immer wieder bemerkbaren Neigung, technische Notwendigkeiten durch künstlerische Zielsetzungen zu veredeln”, merkte Benjamin dazu an. “Die Institute der weltlichen und geistlichen Herrschaft des Bürgertums sollten... ihre Apotheose finden, Straßenzüge wurden vor ihrer Fertigstellung mit einem Zelttuch verhangen und wie Denkmäler enthüllt.”
Einen Teil der Stadtzerstörung, Stadtsanierung und Zurichtung für den Bürgerkrieg im großen Maßstab durch den Artiste démolisseur, wie sich Haussmann selbst nannte, haben wir am Vorabend gesehen: Der Canal Saint-Martin hatte den Revolutionären von 1848 als Wassergraben zur Verteidigung gegen das anrückende Militär gedient. Haussmann ließ ihn in seinem unteren Verlauf um sechs Meter tiefer graben und anschließend mit dem breiten Boulevard Richard Lenoir zudeckeln, um Schußfeld und eine weitere Aufmarschstraße gegen die Arbeiter im roten Osten der Stadt zu schaffen.
Die breiten Boulevards, das Netz der Kanalisation unter der Oberfläche, die einheitliche Traufhöhe, Geschoßzahl und Fassadengestaltung der großen Bürgerhäuser, alles, was das unverwechselbare Gesicht von Paris bis heute prägt, existiert erst seit 150 Jahren und trägt die persönliche Handschrift von Georges-Eugène Baron Haussmann, der das in römischer Zeit gegründete alte Paris weitgehend ausradiert hat. Bei seiner Absetzung im März 1870 saß die Stadt auf einem Schuldenberg von 1.518.799.082 Francs, der erst 1929 vollständig abgetragen war.

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Montag, 26. April 2010
Belleville
Tatsächlich, die Bäume stehen bei unserer Ankunft in Paris schon in voller Blüte - die wenigen Bäume, denn viele hat die Stadt im Vergleich zu ihrer Fläche, zu ihren Einwohnern und ihren Autos nicht gerade aufzuweisen. Zudem sind die allermeisten Platanen, die sind so schön resistent gegen Abgase, aber blühen sie?
Die Kastanien auf der Place des Vosges dagegen stehen wirklich in der vollen Pracht ihrer weißen Kerzen, in dem winzigen Park auf dem linken Seineufer gegenüber Notre Dame schüttet der Blauregen seine Pracht von den Pergolen, und auf dem eingezäunten Grünstreifen in der Mitte des Boulevard Richard Lenoir blüht sogar Flieder, doch sind viele seiner Äste rücksichtslos abgebrochen und geplündert worden. Als wir durch die Porte de Montreuil in die Stadt fahren, wölbt sich hinter der hohen Friedhofsmauer des Père Lachaise und über den noch darüber aufragenden Spitzdächern seiner Mausoleen ein Baldachin aus frischem Grün.
Aber wir halten uns nicht bei den Toten auf, es gibt mehr als genug Lebende im ehemaligen Arbeitervorort Belleville. Nachdem die Arbeiter von Belleville auf den Barrikaden von 1848 und der Commune 1871 zusammenkartätscht und füsiliert worden waren, übernahmen Einwanderer ihre Wohnungen; zuerst viele aus der Türkei geflohene Armenier und Griechen, dann Juden und Nordafrikaner (unter ihnen die Großmutter von Edith Piaf, die 1915 in Belleville zur Welt kam) und in den letzten Jahrzehnten Chinesen und vor allem Schwarzafrikaner. Ich weiß noch nicht, wie es auf den Champs-Elysées aussieht, aber Henry Millers “dark-eyed houris” bevölkern definitiv die Straßenschluchten von Belleville, in denen es überall nach Essen riecht, in jeder Straße anders. Überhaupt, so kommt es mir vor, dreht sich das Leben hier ganz überwiegend um die primären Dinge: Essen, Trinken, Wohnen. Und um wenig mehr. Bäcker, Schlachter (darunter viele koscher oder halal), Gemüseläden, Bars, kleine Imbißläden, billige Restaurants, billige Filialen von Supermarktketten ziehen sich den Hang des Hügels hinauf und hinab, auf dem der kleine Champion aus den Triplettes de Belleville seine ersten Trainingsrunden auf dem Rennrad absolvierte.
Wir bringen unsere paar Sachen in der kleinen Wohnung unter, die uns Bekannte freundlicherweise zur Verfügung stellten, und begeben uns sofort selbst auf eine erste Runde durchs Viertel. Es wird schon Abend (Staus um Rotterdam, Staus um Antwerpen, Staus und Baustellen um Brüssel und natürlich der Megastau auf der Périphèrique haben uns Stunden aufgehalten), aber es ist noch immer T-Shirt-warm draußen bis die Sonne hinter den Häusern verschwindet, und wir flanieren, hätte ich beinah gesagt, aber nur beinah, denn zum einen ist flanieren im eigentlichen Sinn in den mit Autos, Motorrollern und Fußgängern vollgestopften Straßen und Avenuen kaum möglich und zum anderen ist es eine eher zweifelhafte Handlung und Haltung, eine “von Grund auf kleinbürgerliche” nämlich, sagt Benjamin, doch darauf will ich lieber später noch einmal etwas gründlicher zurückkommen; heute ist es zu warm dazu, sind die Menschen zu gut gelaunt im Wohlgefühl lauer Abendluft auf nackter Haut an Armen und Beinen.
Unten am Canal Saint-Martin schlagen sogar die Seepferdchen Purzelbäume, sind aber auch die einzigen, die Platz dafür haben. Unter den tausenden jungen Leuten müßten sich eigentlich mehr Sardinengefühle breitmachen, aber die Enge stört hier und heute niemanden. Erst nachdem wir in einem netten, kleinen Restaurant unsere Telefonnummer hinterlassen, gefühlte Stunden später einen Anruf erhalten haben, jetzt sei ein Tisch für uns frei, und dann endlich eine ausgewachsene warme Mahlzeit in die hungerknurrenden Bäuche geschoben haben und uns zum Abschluß noch mal auf einen kleinen Verdauungsspaziergang machen, erst da haben sich die Reihen der Menge am Kanal ein wenig gelichtet, und die Parkwächter haben die Gatter um die Schleusen abgeschlossen, damit die Obdachlosen, die auf den Mittelstreifen der Boulevards schlafen müssen, endlich ihre längst verdiente Nachtruhe bekommen, denn etliche von ihnen müssen morgen in aller Frühe zur Arbeit.


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Freitag, 23. April 2010
Another crazy guy in Paris

"... along the Champs-Elysées at twilight it is like an outdoor seraglio choked with dark-eyed houris. The trees are in full foliage and of a verdure so pure, so rich, that it seems as though they were still wet and glistening with dew. From the Palais du Louvre to the Etoile it is like a piece of music for the pianoforte.
Walking along the Champs-Elysées I keep thinking of my really superb health. When I say 'health' I mean optimism, to be truthful. Incurably optimistic!
Carl find's it disgusting, this optimism. "I have only to talk about a meal", he say, "and you're radiant!"
It's a fact. A meal! That means something to go on - a few solid hours of work, an erection possibly. I don't deny it. I have health good solid, animal health. The only thing that stands between me and a future is a meal."

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Donnerstag, 22. April 2010
Fourmillante cité
unter CC der Flickr-Seite von Richard Sennett entnommen. "Wimmelnde Stadt, Stadt voller Träume,
wo Gespenster am hellen Tag Passanten anmachen."


In der Passage de l‘Opéra im vornehmen IX. Pariser Arrondissement führte ein Dandy in einem nicht mehr ganz vornehmen Gehrock seine Schildkröte spazieren. Sein Gesicht wirkte noch abgetragener und verlebter als sein Rock. Zwei tief eingegrabene Furchen liefen von den Nasenflügeln hinab zum Mund, der mit den schmal zusammengepreßten Lippen einen entschlossenen Strich der Verweigerung quer unter dieses Gesicht setzte. Die müde Gasbeleuchtung ließ seine Augen unter der hohen Stirn, auf der drei fettige Strähnen klebten, in Schatten sinken; doch wenn man näher kam, sah man ihren bohrenden Blick, der glänzte wie im Fieber oder einem Delirium.
Vor den Jugendstilfenstern des Restaurant Saulnier legte die Schildkröte eine Rast ein, und auch der Dandy blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an, die er in einer schmalen Spitze rauchte. In der Menge, die durch die Passage flanierte, kam ein Herr auf ihn zu, der sich durch sein schnelleres Tempo von den übrigen Passanten abhob. Er trug einen dunklen Hut und eine runde Nickelbrille mit kleinen, dicken Gläsern über einer schmalen, kräftigen Nase und einem dichten, schwarzen Schnauzbart auf der Oberlippe. Er versuchte, betont unauffällig auszusehen, als sei er auf der Flucht. Doch als er sich auf der Höhe des syphilitischen Dandys mit der Schildkröte befand, drehte er ihm kurz den Kopf zu und sagte: “Sie sind ein Agent. Ein Agent der geheimen Unzufriedenheit ihrer Klasse mit ihrer eigenen Herrschaft, Monsieur Baudelaire.” Dann lüpfte er in einem angedeuteten Gruß kurz seinen Hut und ging weiter, schlug den Mantelkragen hoch und verschwand in der Menge.
Der Angesprochene starrte ihm nach, dann schüttelte er, wie aus einer kurzen, konsternierten Benommenheit aufwachend, den Kopf, murmelte: “Promenant l‘ennui de ton regard profond”, und zupfte die Schildkröte an der Leine.

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Montag, 31. März 2008
City of dog merds
Fünf Jahre nach Chatwins Tod reiste auch Paul Theroux ans Mittelmeer. Nein, nicht nur das, als extensiver travel writer reiste er ums Mittelmeer. Von einer Säule des Herakles zur anderen, aber nicht nur eben per Katzensprung über die Straße von Gibraltar, sondern “the long way”: von Gibraltar einmal die Küstenlinie entlang nach Osten (Spanien, Frankreich, Italien, Balkan, Türkei, Israel) und an der nordafrikanischen Küste zurück nach Ceuta und Tanger. Die Grand Tour sozusagen, wenn auch ein wenig verspätet für einen Überfünfzigjährigen.
In Anbetracht dieses gesegneten Alters verwundert es vielleicht nicht sehr, wenn ihm ausgerechnet die französische Riviera als “der Traum des Mittelmeers” erscheint, die Riviera der Künstler wie Matisse oder Renoir und der selbstexilierten Schriftsteller wie Fitzgerald, Greene, Huxley, Maugham oder Hemingway. In der geistigen Begleitung solcher Größen muss sich Theroux selbstredend einen Drink im Hotel Negresco genehmigen (um sich dort gehörig über Eric Newby, "my friend", zu mokieren; seines Freundes Bruce Chatwin gedenkt er mit keiner Silbe). Aber zwei Dinge haben Theroux dort ebenso ereilt wie uns. Bei dem einen kann er aus der Not noch eine Tugend machen: “What I liked the best about Nice that night was the heavy rain.”
Das andere widerte ihn genauso an wie mich: “It is impossible to stride confidently through Nice, city of dog merds. - An older overdressed French woman, a prosperous landlady, this delicate and dignified woman spends a good part of the day calculating the urgencies of her dog's bowels. There are thousands of these women and their dogs all over the Riviera. They are forever hurrying their tiny mutts down the sidewalk and looking the other way as the beasts pause to drop a stiff sausage of excrement just where you are about to plant your foot.” - Exactly.

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