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Sonntag, 22. November 2009
Am Wendepunkt. Steilkliff von Saka


Von Tallinn ostwärts auf die russische Grenze bei Narwa zu führte die äußerste Etappe dieser Reise. Mit leicht gemischten Gefühlen, denn überall kann man nachlesen, daß dies der Schmutzwinkel Estlands ist. Jahrzehntelang wurde hier Ölschiefer abgebaut, der einzige Rohstoff des Landes, den man zur Energiegewinnung in großen Kraftwerksblöcken verbrannte. Abraumhalden sollten die Gegend prägen, die Luft hochgradig belastet sein. Von all dem bekommt man auf der Küstenstraße kaum etwas mit. Viel mehr war es die Fahrt in ein Nirgendwo; Ortschaften wurden immer kleiner, sahen immer zurückgebliebener aus und lagen immer weiter auseinander, aufgegebene Felder verkrauteten und wucherten zu, junger Wald breitete sich aus, wurde dichter, als sollte besiedeltes Land überhaupt bald aufhören und nur noch - immer wieder reizvolle Vorstellung - aufs Neue unbewohnte, sich renaturierende Natur folgen; da standen wir auf einmal vor einem blitzsauberen, modernen Tagungshotel unmittelbar am Rand eines fünfzig Meter hohen Steilufers.

Bucht von Narwa


Unten spülte die Ostsee über runde Wackersteine auf den Strand, dahinter erstreckte sich das Meer weit über den Horizont hinaus nach Norden. Tief jagten graublaue Wolken vor Westwind dahin, hier und da von der untergehenden Sonne an den Rändern leuchtend vergoldet. Wir standen am Ufer, betrachteten die ständig wechselnden Lichtspiele auf den Wellen und sahen zu, wie die Nacht heraufzog. Morgen würden wir den Kühlergrill endgültig nach Süden wenden.







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Mittwoch, 18. November 2009
Seltsame Symbolik
Koscher nach den Buchstaben der Liturgie ist das nicht alles, was Balten beim Balzen Heiraten veranstalten. Schon bei der Vorbereitung war dem Fahrtenschreiber so manches Gerücht über seltsame Bräuche bei den letztbekehrten Völkern Europas zu Ohren gekommen, von neuerlicher Ausbreitung der Verehrung von Naturgeistern auch, und so brachen wir denn auch in der Spannung auf, ob wir wohl derartiges selbst zu Gesicht bekommen würden.
Musikalisch konnte man sich hier schon einstimmen:



Bald nach der Ankunft aber sahen wir, daß die Balten (und Baltinnen natürlich) vor allem in Scharen heiratswillig, wenn nicht -wütig sein müssen. In Weiß, mit Brautschleier und Sträußchen am Revers, dem ganzen Zinnober einer kreuzchristlichen Trauung. An manchen Tagen kam uns in kurzen Abständen ein Hochzeitskorso nach dem anderen entgegen, aber nicht in Städten, vor Kirchen oder Standesämtern, sondern auf schmalen Landstraßen, die durch tiefe Wälder und an stillen Seen oder Flüssen entlang führten. Und dann erwischten wir sie auf frischer (Heiden-)tat.
Immer wieder sahen wir, wie eine Autoschlange hielt, Brautpaar und Hochzeitsgäste ausstiegen und eine kurze Prozession zum Ufer eines Gewässers oder auf eine Brücke veranstalteten, wo das Brautpaar offenbar einen bestimmten Text aufsagen (oder vorlesen) mußte, worauf sie sich mit etwas zu schaffen machten und schließlich etwas ins Wasser warfen wie eine Opfergabe an Quellnymphen oder andere Wassergeister.


Einmal hielten wir und blieben, bis die Zeremonie vorüber und die Hochzeitsgesellschaft weitergefahren war. Dann schlichen wir vorsichtig auf die Brücke und fanden, um das Geländer geschlossen - Dutzende von Vorhängeschlössern. Hier hatten sich also Emanuel und Natascha, Trelock und Tri-Circus (Made in China) symbolisch ans Brückengeländer geschmiedet und anschließend den Schlüssel ins Wasser geworfen. Deadlocked.

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Sonntag, 15. November 2009
Diese Pforte an der Größeren Klosterstraße (Suur Kloostri) führt auf das Gelände einer der ältesten bestehenden Schulen Europas, dem Gustav-Adolfi-Gümnasium, das 1631 vom gleichnamigen schwedischen König als Gymnasium Revaliense im damaligen Schwedisch-Livland gegründet wurde. Ein paar Meter weiter steht das westliche Stadttor Tallinns. Unmittelbar davor zweigt eine kleine Straße entlang der hier am besten erhaltenen Stadtmauer ab. Sie mündet auf einen kleinen Platz namens Kooli. Wer weiß, wie ungern Finnen und Esten Konsonantenverbindungen wie st- und sk- aussprechen (weshalb Stockholm auf Finnisch auch Tukholma heißt), dem erschließt sich fast von allein, daß Kooli von schwed. skola, Schule abgeleitet sein muß. Die verwinkelte Ecke liegt ab vom hochglanzrenovierten Zentrum der Altstadt. Löwenzahn und Spitzwegerich wachsen aus dem Kopfsteinpflaster, junge Birkenschößlinge in den Mauerritzen, und die alten Farben dürfen fleckig werden, ausbleichen und abblättern und die Fassaden in Palimpseste alter Landkarten verwandeln, auf denen man mäandrierende Flüsse, grüne Auwälder, gelbe Steppen und noch weiße Flecken entdecken kann.

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Samstag, 14. November 2009
Tallinns schöne Altstadt und eine Stele in der Ästhetik des Faschismus
klick Das Buchara habe ich nicht wiedergefunden. Stattdessen stießen wir in einer kleinen, schmalen Straße mit dem schlichten Namen Sauna auf das “Schwarze Schaf”, Must Lammas, in dem sehr Leckeres aus der Küche Georgiens auf den Tisch kam. Auch von der klaren Wintersonne war der Jahreszeit gemäß nichts zu sehen, es blieb ein eher feuchter, dunkler Herbstabend, dem das gelblich trübe Licht der alten Gaslaternen entlang der Straßen und naß glänzendes Kopfsteinpflaster gut zu Gesicht standen.
Die Kommerzialisierung des Mittelalters hatte natürlich seit damals enorme “Fortschritte” gemacht, kaum eine Kaschemme in entsprechend alten Gewölben, die keinen Bänkelsänger vor der Tür stehen hatte und deren Kellnerinnen nicht in langen, handgefärbten Leinenkleidern und Spitzenhaube ihre sowieso schon anstrengende Arbeit verrichten mußten. Aber auch von diesem Touristennepp abgesehen, quirlte Leben in der Altstadt, spazierten viele Menschen umher, bevölkerten die Terrassen der Restaurants auf dem Rathausplatz bis spät in den Abend, saßen in den Cafés der Nebenstraßen. Wir tranken einen ordentlichen Wein in einem tief unter der Erde gelegenen Kellergewölbe, flanierten durch Haupt- und Nebengassen, auch hinauf auf Schloß- und Domberg mit seinen von St. Petersburg oder Paris inspirierten Palais wie dem von Martin Gropius, in dem heute die estnische Akademie der Wissenschaften residiert, und ließen uns anschließend wieder unten in der Bürgeraltstadt für Normalsterbliche nahe der malerischen Katharinengasse in einem kopfsteingepflasterten Innenhof mit Häusern aus Spätgotik und Renaissance zu einem späten Kaffee nieder. Das alles vermittelte mir eine Vorstellung, was aus dem ebenso mittelalterlichen Visby hätte werden können, wenn es auch nach dem 15. Jahrhundert organisch weiter gewachsen wäre. Tallinn ist in seinem Zentrum eine sehr schöne Stadt, nur bei einem Anblick hat es mir die Sprache verschlagen: Seit Juni dieses Jahres steht auf dem Vabaduse Väljak, dem Freiheitsplatz, das offizielle Monument für den Freiheitskrieg 1918-20, eine über 23 Meter hohe Stele aus von innen erleuchteten, gefrosteten Glasplatten, gekrönt vom Kreuz eines damals geschaffenen militärischen Ordens, dessen Emblem im Zweiten Weltkrieg auch die estnische Division der Waffen-SS verwendete. So bruch- und distanzlos glaubt die heutige zweite Republik in Estland also an vorsowjetische Zeiten anknüpfen zu können, daß sie eine faschistische Stele als Freiheitsdenkmal errichtet. Dieses Denkmal ist ein Skandal. In Estland selbst hat es aber wohl nur einen verhaltenen Denkmalsstreit ausgelöst, der dem Vernehmen nach die breite Öffentlichkeit nicht wirklich interessiert hat.

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Donnerstag, 12. November 2009
Tallinn im Jahr 2000. Eine Momentaufnahme
Einst der höchste Kirchturm der Welt, ursprünglich 160m hoch. Olevisti kirik Obwohl die Hauptstadt Tallinn nur hundert Kilometer von Haapsalu entfernt ist, kamen wir erst im nachmittäglichen Berufsverkehr dort an und schoben uns Stoßstange an Stoßstange langsam Richtung Innenstadt. Tropfen klatschten vereinzelt auf die Windschutzscheibe, es begann zu regnen. Unser erster veritabler Regen auf dieser Reise. Er hörte auch nicht auf, nachdem wir ein dunkles, vergittertes Zimmer in einer Hinterhofpension bezogen hatten und uns auf den ersten Rundgang durch die Altstadt begaben.
Ich war nicht das erste Mal in Tallinn. Doch damals, vor neun Jahren, hatte es einen anderen Eindruck gemacht, was nicht zuletzt am Wetter lag. Gerade mal 2° waren es an jenem Märztag gewesen, und ein eisiger NW-Wind hatte die Georg Ots in weniger als zwei Stunden von Helsinki über die immerhin eisfreie Finnische Bucht der Küste Estlands zugetrieben. Meine finnischen Bekannten hatten schon damals behauptet, Tallinn sei nurmehr ein südlicher Vorort von Helsinki, doch mein Zimmernachbar in der Villa Kivi, ein estnischer Honorarprofessor für japanische Kulturgeschichte an der Universität Helsinki, der auch fließend Deutsch und Englisch sprach, hatte leise dagegengehalten, solche Vielsprachigkeit zum Beispiel sei für seine Landsleute seit altersher Notwendigkeit und Tradition, die von Russen, Deutschen und Skandinaviern jahrhundertelang mitgeprägte estnische Kultur daher in seinen Augen reichhaltiger als die finnische. Jedenfalls war ich so neugierig geworden, daß ich mich spontan zu einem Abstecher in das seit nicht einmal zehn Jahren unabhängige Estland entschlossen hatte.
Kalt also war‘s an jenem Tag, aber auch klar und sonnig, und die Luft knisternd trocken, wie sie es nur an späten Wintertagen sein kann. Das Rot der Ziegeldächer auf den Häusern der Altstadt brannte geradezu gegen den tief, tief blauen Himmel. Das scharfe Licht der nicht sonderlich hoch stehenden Wintersonne modellierte jede Unebenheit aus den weiß geschlämmten Mauern der alten Häuser und erst recht aus den Kalkwänden des Dombergs und Steinen und Fugen der alten Stadtmauer. Nach allem, was man damals über die Plattenbautristesse sowjetischer Städte gehört hatte, war ich überrascht, wie intakt und lebendig das Innere der früheren Hansestadt geblieben war: Ein vollkommen erhaltener spätmittelalterlicher Stadtkern mitsamt ummauertem Burgberg, auf dem sich in einem munter rosa angestrichenen Rokokopalais das Parlament der zweiten unabhängigen Republik der Esten eingerichtet hat. Die wichtigste Bausubstanz scheint überall gesichert und sorgsam restauriert, schrieb ich damals in mein Notizbuch, aber dazwischen bleibt noch so viel Bröckelndes, leicht oder auch weniger leicht Angegammeltes, dass man überall die noch bewohnte, lebendige Stadt und nicht nur ein steriles Museum erlebt. Ja, diese Altstadt ist noch bewohntes Stadtzentrum mit unzähligen kleinen Boutiquen hinter den Fenstern bürgerlicher Wohnhäuser, mit Kneipen in spätgotischen Kellergewölben - und den dazwischengesprengten Glasfassaden der Filialen finnischer Handelsketten. 1:0 für meine finnischen Freunde. Nein, 1:1, denn die historische Tiefendimension dieser seit dem Mittelalter gewachsenen und unzerstörten Altstadt geht dem architektonisch erst im 19. Jh. wurzelnden Helsinki ab. Hier dagegen stehen noch schmale, gotische Handelshäuser aus Zeiten, als deutsche Hansekaufleute im damaligen Reval den Fernhandel über die Ostsee organisierten und der Stadt ebenso lübisches Recht wie plattdeutsche Namen bescherten. Der festeste Kanonenturm der Stadtbefestigung heißt noch heute 'Kiek in de Kök' und birgt in seinen dicken Mauern eine rührend amateurhafte und zugleich sorgsam bewachte Fotoausstellung. In jedem der zahlreichen Geschosse hat sich als Relikt ehedem realsozialistischer Beschäftigungspolitik ein russisches Mütterlein ein winziges zweites Zuhause eingerichtet. Umgeben von liebevoll gehegten Topfpflanzen, die anämische Geiltriebe Licht suchend zu den winzigen Schießscharten vorrecken, hocken sie neben elektrischen Heizelementen auf selbstgehäkelten Sitzkissen und lesen durch dicke Brillengläser. Gehen sie wirklich abends in ein anderes Zuhause oder nicken sie einfach über ihren Büchern ein und erwachen am nächsten Morgen zu einem ebenso stillen wie ereignislosen Arbeitstag? Was geht sie die veränderte Welt draußen vor den Mauern des Museumsturms noch an?
Die Esten nannten Reval nach ihren eigentlichen Begründern stets 'Dänischburg', denn nichts anderes bedeutet die Zusammenziehung Tallinn aus Taanin linna. Außer Dänen und Hansen waren über Jahrhunderte hinweg Ritter des livländischen Deutschen Ordens die Herren der Stadt. Sie erbauten ein Kloster und erweiterten Burg und Stadtmauer auf ihren heutigen Umfang. So bunt gemischt wie die Bebauung der Altstadt sind auch ihre Bewohner. Zwischen den meist eher untersetzt stämmigen Balten und finnischen Tagestouristen, die unablässig ihre Nokia-Kännukkäs ans Ohr halten, flanieren viele elegante Russinnen über das Kopsteinpflaster. Statistisch betrachtet, stammt jeder dritte Passant aus einer der früheren Sowjetrepubliken. Kein Wunder also, dass man hier in einem Restaurant Buchara mit zentralasiatischen Köstlichkeiten und gutem grusinischen Wein bewirtet wird. Und das zu Preisen, für die man bei uns gerade mal amerikanische Junkfood vorgesetzt bekommt.

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Samstag, 7. November 2009
Cäsarenmord ist keine Revolution. Die letzte Fahrt der Romanows
Ja, die Zeit “wahrer Reisen”, wie sie auch Lévi-Strauss gern unternommen hätte, ist vielleicht längst vorbei. Aber wo waren wir stehengeblieben? An einem Bahnsteig, an dem seit Jahren kein Zug mehr fuhr. Standen da wie bestellt und nicht abgeholt. In Haapsalu, wo der letzte Zar ein einziges Mal den speziell für ihn errichteten Bahnsteig an der eigens für seine Kurreisen gebauten Bahnlinie betreten hatte. Auch das wären für Lévi-Strauss sicher keine “wahren Reisen” mehr gewesen. Seine einzige Reise ins Ungewisse (jedenfalls anfangs für ihn selbst) trat Zar Nikolaus II. zehn Jahre nach seinem Aufenthalt in Haapsalu an, im August 1917, doch da war er nicht mehr Zar, sondern bloß noch der Häftling Nikolaj Alexandrowitsch Romanow.
Am 2. März 1917 (nach altem russischen Kalender) hatte er - auch im Namen des minderjährigen Zarewitsch - zugunsten seines Bruders Michael auf den Thron verzichtet. Seine Abdankung hatte vor allem militärische Gründe, denn Zar Nikolaus hatte als Oberbefehlshaber versagt. Die Offensiven seiner Armee waren unter so großen Verlusten gescheitert, daß die Soldaten zu meutern begannen, deutsche und österreichische Armeen drangen in breiter Front auf russischem Boden vor, in Petersburg kam es zu Hungerrevolten, Arbeiter und Soldaten solidarisierten sich und bildeten eine revolutionäre Gegenregierung. Am 1. März hatte der Petersburger Sowjet mit seinem Befehl Nr. 1 die Kontrolle über die Armee übernommen, und der neue Zar Michael trat unter seinem Druck schon am 3. März ebenfalls zurück. Zwei Tage später wurde die Zarenfamilie in ihrer Residenz Zarskoje Selo unter Arrest gestellt. Am 1. August 1917 deportierte die provisorische Regierung unter Kerenski sie in einem versiegelten Zug des Roten Kreuzes unter japanischer Flagge nach Sibirien, wie vorher so viele, die das zaristische Regime selbst dorthin in Verbannung geschickt hatte. Nach vier Tagen Eisenbahnfahrt und einem weiteren zu Schiff auf dem Irtysch traf sie in Tobolsk hinter dem Ural ein. Es war ihre definitive Reise, von der sie nicht wieder zurückkehren sollte.
;“Die Republik, wie wir sie aus Frankreich kennen, basiert auf dem Individuum, auf der Person, die kraft ihrer geistigen Kapazitäten gewählt und erhoben wird. Die Monarchie ist dagegen fleischlich, es ist die Abstammung, das Blut, die ununterbrochene Kette der Erbfolge, auf die es ankommt. Zar Paul wurde von seinen eigenen Offizieren ermordet, Alexander II. von politischen Gegnern, aber keiner dieser Morde erschütterte den Fortbestand der Dynastie. Beim Eintreffen des Todes wurden sie vom nächsten Namen in der Erbfolge abgelöst, bei einem unnatürlichen Tod ebenso wie auf dem Sterbebett. Der Cäsarenmord ist keine Revolution, er ist eher ein Mechanismus der Autokratie, nur durch ihn können sich das Volk und die Dynastie des defekten Körpers entledigen, des geisteskranken Alleinherrschers. -
Es war die zweite Abdankung, der Bruch der Erbfolge, der das Zarenhaus zu Fall brachte.”

Diesen überlegenswerten Gedanken legt der Norweger Tor Bomann-Larsen dem Titelhelden seines historischen Romans Livlegen (Der Leibarzt) in den Mund, Sergej Botkin, dem leibhaftigen Leibarzt des letzten Zaren. Botkin war entweder ein unglaublich pflichtbewußter Mensch oder ein so überzeugter Monarchist, daß er anscheinend freiwillig im engsten Kreis der Zarenfamilie blieb, mit ihr nach Sibirien ging und folgerichtig mit ihr im Keller des Ipatjow-Hauses erschossen wurde. Bomann-Larsen schreibt seit vielen Jahren die Geschichte des norwegischen Königshauses und ist inzwischen beim fünften Band angelangt. Mit Monarchien kennt er sich also aus. Vielleicht hat aber niemand mit der gleichen Folgerichtigkeit seinen Gedanken über das, was den Fortbestand autokratischer Monarchien sichert, begriffen und zu Ende geführt wie ausgerechnet die geschworenen Feinde des monarchischen Prinzips, die Kommunisten.
Nach dem Erfolg der Oktoberrevolution wollte der Oberste Sowjet dem Zaren in Moskau den Prozeß machen. Der mit seiner Rückführung beauftragte Kommissar Jakowlew brachte ihn und seine Familie im Frühjahr 1918 jedoch zunächst nur bis Jekaterinburg am Osthang des Urals. Aufgrund der gespannten Lage hielt der Oberste Sowjet einen öffentlichen Prozeß in Moskau inzwischen aber für zu riskant, und so beschloß er im Juli die Liquidierung der Zarenfamilie, ehe sie womöglich von den Jekaterinburg einkesselnden Einheiten der konterrevolutionären Weißen Armee befreit würde. Eingedenk ihres eigenen Prinzips, daß die Monarchie weiterlebt, so lange es noch irgendwo einen legitimen Erbfolger gibt, mußten alle Mitglieder der Dynastie getötet werden.
In der Nacht auf den 4./17. Juli 1918 wurden sämtliche Mitglieder der ehemals kaiserlichen Familie Romanow samt ihrem engsten Gefolge im Keller des Hauses, in dem man sie gefangen hielt, erschossen. Das Gemetzel dauerte fast zwanzig Minuten, weil die Zarin und ihre blutjungen Töchter heimlich so viele Juwelen in ihre Kleider eingenäht hatten, daß die Kugeln an ihnen abprallten und die danach eingesetzten Bajonette kaum durchdrangen. Es muß eine grauenhafte Schlachterszene in dem von beizendem Pulverrauch, Schweiß, Schreien, Stöhnen und Blut erfüllten Kellerraum gewesen sein.

Mit solchen Gedanken stand ich unter dem frisch gestrichenen Bahnsteigdach, unter dem Zar Nikolaus II. mit seiner Familie vor gut hundert Jahren unter “großem Bahnhof” seinem Luxuszug mit acht prachtvoll ausgestatteten Salonwagen entstiegen war. Der persönliche Wagon in der Zugmitte enthielt nicht nur das Schlaf-, nicht -abteil, sondern -zimmer des Zarenpaars, das Boudoir der Zarin und ein Arbeitszimmer für den Zaren, sondern auch ein weiß gefliestes Badezimmer mit einer nach dem Pendolino-Prinzip überlaufsicher gelagerten Badewanne.
Heute standen nur ein paar massige, graue Dampfloks aus der Sowjetzeit auf den verwaisten Gleisen der in den neuen, kapitalistischen Zeiten stillgelegten Strecke. Kein Wunder also, daß es eine Weile dauerte, bis wir von dort weg kamen.

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Sonntag, 25. Oktober 2009
Aibofolket oder die Küstenschweden in Estland
Von Eile also keine Spur in Haapsalu (nicht mal H0). Stillgelegt die Eisenbahn und so manches andere. Still auch das Wetter, kein Lüftchen regt sich, das Meer in der seichten Bucht spiegelglatt unbewegt. An der Promenade wird ein wenig gebaggert für die Zukunft. Vielleicht hat ein Investor Geld für eine Marina vorgeschossen. Wenn die Bucht nicht zu schnell weiter verlandet, rentiert es sich vielleicht in einigen Jahren. Da draußen im Väinameri und in den Sunden zwischen den Inseln Vormsi und Hiiuma liegt bestimmt ein schönes Segelrevier. Vormsi ist schon ein putziger Name, wie so viele estnische Wörter, wenn man sie geschrieben sieht, wie z.B. Entsüklopeedi oder das hier:
Bei Vormsi habe ich mir erst nichts weiter gedacht. Bis ich eine Karte der Insel sah. Und feststellte, daß die weit überwiegende Mehrzahl der Ortsnamen rein schwedisch klingt: Norrby, Söderby, Fällarna, Kärrslätt... Was war denn da los? Und der Name der Insel selbst? Eine ähnliche Verballhornung wie bei Eysýsla > Ösel? Dann war das -i wohl ursprünglich ein -ö, -ey und bedeutete Insel. Und die erste Silbe ging auf schwed. orm, altnordisch ormr, Wurm, Schlange zurück, also Vormsi = Schlangeninsel.
Inzwischen hatten wir den offiziellen Teil der Promenade mit Kursaal und einigen Spa-Hotels hinter uns gelassen, und niedrige, kleine Holzhäuschen bestimmten das Bild. Manche in einfacher Blockhausmanier aus massiven Balken gebaut, aber die Ecken mit sauber gefugten Schwalbenschwanzzinken verbunden; solide Handwerksarbeit. Bei einigen hatte es für Farbe nicht mehr gereicht, andere waren vielfach gestrichen worden, gern in bunten Kontrastfarben: rote Wände, minzgrüne Fensterrahmen. Es war nicht gerade die Vorzeigeecke eines Seebades, dessen Stadträte es sicher gern wieder mondän sähen wie zu den Zeiten, in denen Herr und Frau Zar samt Hofstaat hier kurten. In der geöffneten Tür eines Anbaus, der mehr einem Verschlag glich, sahen wir eine gebeugte alte Frau in mehreren geflickten Pullovern und Strickjacken unter ihrer geblümten Kittelschürze. Das Gesicht unter ihrem Kopftuch war größtenteils bandagiert wie bei Aussätzigen, mit der einen rheumatisch knotigen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, in der anderen hielt sie einen Stock am falschen Ende und fischte mit dem Griffende nach der Tür. Offenbar war sie nicht nur sehr arm, sondern auch blind. Nein, in dieser Ecke kamen keine Gelder aus EU-Struktur- und -entwicklungsfonds an.
Ein etwas größeres Holzhaus oder eher ein Konglomerat mehrerer kleiner, sauber im Ochsenblutrot aus dem schwedischen Kupferbergbau gestrichen, trug ein handgemaltes Schild über dem Eingang: Rannarootsi muuseum. Ruotsi ist doch die finnische Bezeichnung für Schweden. Und Ranna bedeutet Strand, Ufer, Küste, hatte ich im Pärnuer Strandcafé Rannakohvik gelernt.
Drinnen außer uns kein Mensch. Doch, eine ältere Frau in einer einfachen blauen Leinentunika mit einer Bernsteinkette um den Hals saß auf einem Stuhl und strickte. Ich fragte sie, ob sie Englisch spräche. Yes. Oder vielleicht Schwedisch? Ja, det går mycket bättre, kam es fließend und akzentfrei zurück. Ich fragte sie, was es mit den Küstenschweden auf sich habe, und erfuhr so erst von dieser uralten Minderheit auf den estnischen Inseln. Unsere “alte Donnerstagstante” (“wir nennen uns so, weil wir ein Zirkel von ollen Tanten sind, die sich bereit erklärt haben, jeweils Donnerstags das Museum zu hüten und alte Handarbeitstechniken vorzuführen”) war ganz offensichtlich froh, daß sich jemand dafür interessierte, ihre Geschichte zu hören, und legte los, als wollte sie uns mindestens die Hälfte aller Verse des Kalevala auf einen Sitz vortragen.

Wann die schwedischen Siedler genau gekommen waren, wußte sie nicht mit Gewißheit zu sagen. Vielleicht waren schon einige schwedische Wikinger auf den Zügen nach Ladoga, Nowgorod und Rußland hier hängengeblieben. (In den Quellen heißen sie übrigens Rus, eine Bezeichnung, die sicher mit dem finnischen ruotsi verwandt ist und Rußland den Namen gab.)
Die Küstenschweden, Aibofolket, wie sie sich selbst nennen (Aibo = Öboar = Inselbewohner), wurden schriftlich erstmals in der von den Ösel-Wieker Bischöfen 1294 ausgestellten Stadtgründungsurkunde von Haapsalu erwähnt. Vielleicht hatten die sie sogar erst ins Land geholt. Die kargen Küstenstriche Estlands waren bis dahin von den estnischen Waldbauern kaum besiedelt worden, zur Sicherung der Seewege und der neuerdings benötigten Fastenspeise Fisch war es aber von Vorteil, an der Küste verläßlich christliche Fischer anzusiedeln. Also warb man vermutlich die nächsten erreichbaren an: Schweden von der schwedischen Ostküste, aus Gotland und dem von ihnen eroberten Süden Finnlands. Damit sie kamen, mußte ihnen ihre Stellung rechtlich zugesichert werden. Die Aiboar lebten nach “schwedischem Recht”, in dem u.a. ihre persönliche Freiheit verbrieft war. Das schützte sie davor, wie die Esten im Lauf des 15. Jahrhunderts von den deutschen Ordensherrn in die Leibeigenschaft verknechtet zu werden. Allerdings blieb diese persönliche Freiheit auf ihren traditionellen Siedlungsraum entlang der Küste eingeschränkt. Ließen sie sich im Binnenland auf estnischen Höfen nieder, verloren sie ihr Privileg. Das führte natürlich dazu, daß Aibolandet jahrhundertelang ein relativ fest geschlossenes Siedlungsgebiet mit schwedischer Sprache und Kultur blieb.
Im Nordischen Siebenjährigen Krieg von 1563-70 eroberte die aufsteigende Ostseegroßmacht der schwedischen Wasa Estland. Damit kamen die Küstenschweden sozusagen “heim ins Reich” und verloren prompt in wichtigen Teilen ihren Sonderstatus. Zur Finanzierung ihrer Kriege verpfändete die schwedische Krone großflächig Land an finanzkräftige Adelsfamilien, am liebsten natürlich in den entlegensten Randgebieten. 1617 bezahlte und führte der halb französischstämmige General Jakob de la Gardie für König Gustav Adolf einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland. Dafür wurde er 1621 zum schwedischen Generalgouverneur aller Rußland abgenommenen Gebiete im Baltikum ernannt. In der Folgezeit hatten die schwedischen Bauern gegen die einfallenden adeligen Heuschrecken, die in Schwedisch-Livland Herrenhöfe mit den zu ihrer Versorgung nötigen ausgedehnten Ländereien errichteten, vielfach einen schwereren Stand als gegen die früheren deutschen und russischen Landesherrn. Wer nicht persönlich einen Privilegienbrief vorweisen konnte, mußte damit rechnen, verknechtet oder von Haus und Hof verjagt zu werden. Es folgte ein zäher Hinhaltekampf der schwedischen Bauern gegen die schwedischen Aristokraten, der einmal mehr belegt, daß nicht entlang nationaler, sondern entlang sozialer Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen die eigentlichen Grenzen verlaufen.
Das Ringen endete auch nicht mit der endgültigen Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721. Um Ruhe und Ordnung in den wiedererlangten Ostseeprovinzen zu sichern, restituierten die Zaren teils dem alten deutschbaltischen Adel seine früheren Besitzungen (Deutsch blieb auch weiterhin Amtssprache), teils bekamen die großen schwedischen Adelsdynastien sogar die Güter zurück, die ihr eigener (zwischenzeitlich erstarkter und absolutistisch regierender) König zuvor für die schwedische Krone eingezogen hatte. Den Besitzenden galten und gelten nationale Grenzen eben noch viel weniger als Hindernisse als dem einfachen Volk. Sie arrangieren sich noch mit jedem Herrscher, der ihre Besitzstände wahrt.
Das 18. Jahrhundert gilt in Estland als das Jahrhundert der Adelsherrschaft. Unter den deutschbaltischen Adelsfamilien erwarb sich auf Vormsi besonders die Familie von Stackelberg einen dauerhaften Ruf als Bauernbedrücker, die ihren Forderungen auch gern mit öffentlichen Auspeitschungen auf ihrem Gut Magnushof Nachdruck verlieh. In Talliner Archiven lagern heute noch Akten “in Klagesachen der Erbbauern unter dem Gute Magnushof auf der Insel Worms wider den Baron Wilhelm von Stackelberg betreffend ihre Freiheit und widerrechtliche Auflagen” aus den Jahren 1747-55. 1778 schrieb der Freiherr von Stackelberg über seine schwedischen Bauern: “Ich verabscheue diese Brut zutiefst und will meine ganze Macht daran setzen, sie auszulöschen.”
Erst mit der Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern und weiteren Bauerngesetzen 1856, die Gutsbesitzer verpflichteten, fünf Sechstel ihrer Ländereien zur Verpachtung freizugeben, besserte sich die Stellung auch der schwedischen Bauern in Estland. Allerdings waren sie von den zwischenzeitlich erfolgten Fortschritten im Land so weitgehend ausgeschlossen geblieben, daß ihre Siedlungsgebiete mittlerweile zu den rückständigsten im ganzen Land gehörten. Die panslawistische Russifizierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sie neuem Druck aus, rief aber auch Widerstand hervor, der zu einer bewußten Rückbesinnung auf schwedische Traditionen führte. Im 1920 erlassenen Grundgesetz des unabhängig gewordenen Estlands wurde nationalen Minderheiten kulturelle Autonomie zugesichert und an Bauern, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt hatten, vom Staat Land verteilt. Von beidem profitierten die Estlandschweden, die nun auch eigene Handelsbeziehungen nach Schweden und Finnland aufnahmen; doch schon unter den autoritären und nationalistischen Regierungen der Dreißiger Jahre verschlechterte sich ihre Lage wieder. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1938 bedeutete dann praktisch das Ende einer mindestens sechshundertjährigen schwedischen Siedlungsgeschichte in Estland.

Hitler-Deutschland, das gemäß der Aufteilung Osteuropas in deutsche und russische “Interessensgebiete” “seine” Deutsch-Balten massenweise “heim ins Reich” holte, gab auf diplomatischen Kanälen der schwedischen Regierung den Wink, dies besser auch mit ihrer Minderheit in Estland zu tun.
“Ich war damals elf Jahre und erinnere mich noch gut, wie wir mit Kisten und Koffern im Hafen von Tallinn auf das Schiff warteten, das uns nach Schweden bringen sollte”, sagt unsere Donnerstagstante und ich staune leise in mich hinein. Braungebrannt, mit ihrem weißhaarigen Pagenschnitt und die ganze Zeit ausdauernd auf ihren stämmigen Beinen stehend, hätte ich nie gedacht, daß diese rüstige Frau mit den klaren, hellblauen Augen über achtzig Jahre alt ist.
Fast 8000 von 9000 Schwedischstämmigen sind im Lauf des Zweiten Weltkriegs aus Estland emigriert - oder nach Sibirien deportiert worden. “Die wehrfähigen Männer haben sie nicht rausgelassen, die sind später in offenen Ruderbooten über die Ostsee nachgekommen.” Sofern sie nach dem Einmarsch der Russen 1941 nicht in die Rote Armee eingezogen wurden. “1984 bin ich von Stockholm auf einen kurzen Besuch nach Tallinn gefahren. Es war so schrecklich, daß ich danach nie wieder einen Fuß nach Estland setzen wollte.”
In ihre alte Heimat durften Aiboar frühestens ab 1988 besuchsweise zurück. Bis dahin galt die gesamte Küste als militärisches Sperrgebiet. “Nach der Unabhängigkeit bin ich dann 1994 doch noch einmal zurückgekommen. Da sah man schon Ansätze, daß es einmal besser werden könnte. Von da an habe ich angefangen, mich hier einzusetzen, und neue Freunde gefunden. Von den alten waren ja keine mehr da. Und jetzt verbringe ich nur noch die Winter in Stockholm und lebe den Sommer über hier. Es ist doch schön hier.”

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Freitag, 23. Oktober 2009
Der Bahnsteig von Haapsalu
... ist einer jener Orte, die vielleicht ein-, zweimal in ihrem Dasein leicht vom Flügel der Geschichte gestreift und aus ihrem ewigen Dämmerschlaf geweckt und ins Leben gerufen wurden. Vor Kuressaare war es einmal Sitz der Bischöfe von Ösel-Wiek. Eindrucksvolle Ruinen ihrer großen Burg, die unter anderem die größte einschiffige Hallenkirche des gesamten nördlichen Europas birgt, stehen noch, doch der Hafen an der seichten Bucht verlandete, und die Stadt sank in Schlick und Bedeutungslosigkeit.
Bis 1820 der deutschbaltische Arzt Carl Hunnius den Matsch im alten Hafen näher untersuchte und seine heilenden Eigenschaften entdeckte. 1867 ließ sich Peter Tschaikowsky in den mittlerweile errichteten Badeanstalten kurieren und komponierte dabei, vielleicht sogar auf der nach ihm benannten Marmorbank an der Promenade, seine erste Oper, Teile seiner 6. Sinfonie und die “Erinnerungen an Hapsal”. Bald kamen selbst die Zaren aus dem fernen Moskau, um sich in den Schlamm von Haapsalu packen zu lassen. Der “Kaiser und Autokrat aller Russen” Nikolaus II. ließ zu seiner Bequemlichkeit im Revolutionsjahr 1905 eigens eine Eisenbahnlinie von Tallinn in den kleinen Kurort an der Ostsee bauen. Nachdem er noch rasch mit einem Federstrich die ihm erst nach dem Petersburger Blutsonntag blutig abgerungene gesetzgebende Versammlung (Duma) im Juni 1907 wieder aufgelöst und das Wahlrecht auf besitzende Schichten eingeschränkt hatte, fuhr der Zar nach dieser großartigen Leistung mit seiner Familie erst einmal in die Sommerferien. Als sein Zug unter Dampf in Haapsalu einrollte, hatte ihm die Stadt zum Empfang den längsten überdachten Bahnsteig der Welt gebaut.
Nikolaus II. und Familie an Bord, 1907Ende Juli ging Nikolaus II. an Bord der Kronstadt und lief am 4. August zu einem Treffen mit seinem Vetter Willem Zwo in Swinemünde ein. “Von Bansin bis Swinemünde standen die Menschen dicht gedrängt am Strand, bewunderten die „Hohenzollern“, die
stolze weiße Jacht des Kaisers, die umlagert von der deutschen
Seeflotte den hohen Besucher erwartete. Ein Aufschrei
des Erstaunens ging durch die Menge, als die „Kronstadt“
aus dem Dunst am Horizont hervorstach. Umkreist von russischen
Torpedobooten glitt das mächtige schwarze Zarenschiff
auf die Insel zu, begleitet von den Begeisterungsstürmen
der Zaungäste ging es vor Anker.” (Brigitte Märker: Lieber Justus. Feldpostbriefe einer Offiziersfrau)
Gute zehn Jahre hatte Zar Nikolaus da noch zu leben, ehe sein Körper und die seiner Familienangehörigen in Salzsäure landeten. Mitleid? Dazu ein paar Zahlen: Zu seiner Krönung 1896 hatte der Thronfolger mit Nahrungsmitteln gefüllte Emailbecher mit seinem Konterfei zur Verteilung anfertigen lassen, nur ein paar zu wenig. Die Menschenmenge drängte so danach, daß es zu einer Panik kam: 1400 Tote. In seiner Jugend war bei einem Staatsbesuch in Japan ein Attentäter mit dem Schwert auf ihn losgegangen. Seitdem haßte er alle Japaner als “gelbe Affen” und ließ seinen Generälen 1904 freie Hand zum Vergeltungskrieg. Ergebnis: der fast vollständige Untergang der russischen Flotte, 70.000 Tote auf russischer und 100.000 Tote auf japanischer Seite.
Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte “Nicky” einer Delegation von Arbeitern und Bauern, die ihn um konstitutionelle Reformen ersuchten, beschieden: “Ich will jederman wissen lassen, daß ich all meine Kraft darauf verwenden werde, zum Wohl der ganzen Nation das Prinzip absoluter Autokratie aufrecht zu erhalten.” Als im Januar 1905 150.000 unbewaffnete Arbeiter friedlich für den Achtstundentag und die Einrichtung eines Parlaments demonstrierten, schoß die Armee mit Wissen des Zaren die Menge vor seinem Winterpalais zusammen: mehrere hundert Tote. In der Folge bezahlte sein Innenminister Zeitungen dafür, antisemitische Hetzartikel zu veröffentlichen, die Juden der Anstiftung zum Umsturz und der Kollaboration mit dem japanischen Feind bezichtigten und die in der Folge zu zahlreichen Pogromen führten.
In Haapsalu wurden währenddessen nach der Abreise des Zaren die Dekorationen abgebaut, und der Schlammbadbetrieb kehrte zu seinen gewohnten Packungen zurück. Geblieben ist von der Pracht der Zarenselbstherrlichkeit ein über 200 Meter langer Bahnsteig an einer stillgelegten Strecke.

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Sonntag, 18. Oktober 2009
Isolomanie
Sonnig wie Apulien oder eine mittelmeerische Insel liegt Saaremaa da unten jenseits des Wassergrabens hingebreitet, und wenn man vom Aussichtsturm Pikk Herman den Blick über den türkisblau glitzernden Golf wandern läßt, kann man sich schon mal in die Johanniterfestung auf Rhodos oder andere Kreuzritterburgen am Mittelmeer versetzt fühlen. Heimelig mediterran wird auch der Herzogin zumute, und sie gibt sich einem akuten Anfall von Isolomanie hin, jener höchst ansteckenden Krankheit, die Lawrence Durrell in Leuchtende Orangen. Rhodos, Insel des Helios in den Tagebüchern seines Freundes Gideon erstmals beschrieben fand:
“In Gideons Tagebüchern habe ich einmal eine Aufzählung von Krankheiten gefunden, die von der medizinischen Wissenschaft noch nicht zur Kenntnis genommen worden sind, darunter Isolomania, die als eine seltene, aber keineswegs unbekannte Behexung der Seele beschrieben wird. Es gibt Menschen, pflegte Gideon zu erklären, die Inseln nur schwer widerstehen können. Die bloße Vorstellung, auf einer Insel, in einer kleinen, vom Meer umgebenen Welt zu leben, erfüllt sie mit unbeschreiblicher Trunkenheit. Diese geborenen ‘Islomanen‘, fügte er gern hinzu, sind die direkten Nachkommen der Atlantier, und immerzu ist es das verlorene Atlantis, das ihr Unbewußtes auf einer Insel wiederzufinden hofft.”

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Freitag, 16. Oktober 2009
Die Adlerburg von Ösel
Mit knapp 3000 km² ist Saaremaa hundertmal größer als Borkum und etwa so groß wie Gotland oder Fünen, hat aber nicht einmal ein Zehntel von dessen Einwohnern. Keine 40000 Menschen verlieren sich zwischen seinen Wäldern, Sümpfen und Feuchtwiesen.
Saaremaa Flach ist die Insel, und auf der Karte sieht sie aus wie ein Fächer mit einem exzentrischen Griff; fächerförmig ist auch alles auf den Hauptort Kuressaare mit der alten Burg der Bischöfe von Ösel-Wiek ausgerichtet. In ihrer vollkommen auf das Wesentliche reduzierten Viereckanlage mit den abwehrend glatt gefugten Mauern erinnert sie an ein Kastell Friedrichs II.. Ist ihre Architektur vielleicht sogar eine Folge der engen Verbindungen zwischen dem Deutschen Orden und dem an herrscherlichen Bauten so interessierten Stauferkaiser? Beherrschend ist auch ihre Lage an dem nach Süden, Richtung Rigaer Meerbusen sich öffnenden Golf. Fantastisch der Blick von den hohen Zinnen.



Sicher war die Arensburg (niederdeutsch für Adlerburg) der erste und wichtigste Brückenkopf der christlichen Kreuzritter vom Schwertbrüderorden in ihrem Eroberungskrieg gegen die Esten, die hier auf Saaremaa besonders hartnäckig Widerstand leisteten und erst 1227, zwei Jahre, nachdem das Festland schon kapituliert hatte, unterworfen wurden. In der Folgezeit wurde die Burg von Baumeistern des Deutschen Ordens zum Sitz der Bischöfe des neu gegründeten Rigaer Suffraganbistums Ösel-Wiek ausgebaut. Dem flachen Gelände brauchten sie keine Zugeständnisse zu machen, die geschlagenen Inselbewohner verfügten mit Sicherheit über kein burgenbrechendes Belagerungs- und Sturmgerät, und so konnten die Ordensbaumeister ein geradezu idealtypisches Symbol von Herrschaft errichten, das hinter seinen hoch aufragenden Mauern und Türmen über der flachen Küste thront wie Castell del Monte über dem Flachland Apuliens.

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