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Dienstag, 25. November 2014
Wie am Anbeginn des ersten Morgens
Das Aufwachen im australischen Busch um diese Jahreszeit ist etwas Feines für die Sinne.

Eine der zahlreichen unbekannten Vogelstimmen dringt als erstes in dein Unterbewußtsein. Ein stetig wiederholter Ruf nistet sich darin ein, gibt dir seinen Rhythmus vor: Du hörst, hörst nicht, hörst. Deine Haut fühlt, daß es im Lauf der Nacht abgekühlt ist, und du ziehst zum ersten Mal deine Decke bis zu den Schultern hoch, wickelst dich behaglich in deine Körperwärme, den Gesang der Vögel und die noch herrschende Dunkelheit.
Deine Nase registriert, daß der Rauchgeruch der Buschfeuer nicht mehr in der Luft hängt, es riecht frisch, ein wenig feucht wie nach Morgennebel. Dann wird es heller vor deinen Augenlidern. Du bist längst wach, schlägst aber erst die Augen auf, als ein erstes Bündel goldener Sonnenstrahlen durch die Laubkronen auf deine Lichtung trifft.
Du setzt dich auf und siehst und hörst und riechst und fühlst und bist lebendig und mitten in diesem Leben, und das ist es.




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Dienstag, 18. November 2014
Endstation Pine Creek

Die nächste Station war lange eine Endstation: Pine Creek. So klein und unbedeutend, wie es sich anhört. Heute. –
1870 kreuzte hier die erste transkontinentale Telegraphenleitung den Fluss. Mehr wäre nicht zu erwähnen, wenn nicht beim Ausheben der Löcher für die Leitungsmasten ein Bautrupp auf Gold gestoßen wäre. Der unmittelbar ausbrechende Goldrausch war ebenso fiebrig wie kurzlebig, und nachdem die ergiebigsten Claims abgeschürft waren, trieb man in Malaysia, Singapur und Hongkong für 20 £ das Stück gekaufte chinesische Kulis in die Minen. Zehn Jahre später mußten sie Zwangsarbeit beim Bau einer Eisenbahn vom Ausfuhrhafen Darwin landeinwärts leisten. Pläne für eine den ganzen Kontinent durchquerende Bahntrasse scheiterten an den Schwierigkeiten des Geländes, und Pine Creek blieb bis gegen Ende des Ersten Weltkriegs Endstation. Dann aber kehrten etliche Bergbaugesellschaften zurück. So unscheinbar, gesichts- und geschichtslos wie Pine Creek mit seinen kaum 300 Einwohnern (ein Zehntel der Einwohnerzahl vor 1900) auch heute noch aussieht, so ist es doch der einzige Ort für die ganzen Bergleute, die im weiten Umland weiterhin Gold, Silber, Blei, Zink und Uran abbauen und mal etwas anderes sehen wollen als ihre Werkskantine in der trockenen Halbwüste.
Ein paar von ihnen hingen auch in der offenen Bar/Café/Kneipe/Restaurant unter dem heißen Blechdach herum, in der wir Rast machten (die Katze war auch da), und spielten mit ihren Smartphones. Inklusive Billardroom und aborigene-style bemalter Longhornschädel an den Pseudoquaderwänden aus Zement sah der Schuppen ganz wie eine Saloon-Nachbildung aus einem Western aus. Nur der angrenzende Swimming Pool und etliche bunte und aufdringliche Tropenvögel paßten irgendwie nicht ganz ins Bild.

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Montag, 17. November 2014
Firestick Farming

"Firestick Farming” (als Begriff geprägt von einem der Gründerväter der australischen Archäologie, dem Waliser Rhys Jones) erschien uns denn doch als leicht verniedlichender Ausdruck für das in Australien seit Jahrtausenden von Menschen inszenierte großflächige Abfackeln der Vegetation, als diese Rauchwand eines mächtigen Buschfeuers immer näher auf uns zu wallte. Es war Zeit, dass wir uns aus dem Staub machten.

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Sonntag, 16. November 2014
Grüne Ameisen
Werner Herzog hat sie nur gefilmt, ich habe sie gegessen: Grüne Ameisen.
Ihr Hinterleib, frisch vom lebenden Insekt abgebissen, schmeckt wie ein Tropfen konzentrierten Limonensafts.

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Donnerstag, 13. November 2014
Gedanken auf einem Buschspaziergang: Zur Savannentheorie
Spaziergang im Busch. Bei annähernd 40° Hitze; und Busch meint hier nicht schattenspendenden Hochwald, sondern eher offene Gras- und Buschsavanne mit Ansammlungen von etwas mehr als mannshohen Pandanus- oder Schraubenbäumen und lichten Eukalyptushainen, eingerahmt von roten Sandsteinfelsen, die wie hitzereflektierende Backöfen wirken. Das alles unter einer Sonne, die einem auf 12° südlicher Breite fast senkrecht Löcher in die Schädeldecke bohrt, wenn man keinen Hut trägt. Ich schwitze unter dem Hut aber noch mehr, und habe das Gefühl, ihn immer wieder abnehmen zu müssen, um den Hitzestau darunter zu lüften. Seitdem unsere ‟very English rose” Jennifer an einem der ersten Tage in Jowalbinna fast einen Kreislaufkollaps durch Dehydrierung erlitt, haben wir unsere Lektion zum Trinken gelernt, aber trotzdem: die empfohlenen 4 Liter Flüssigkeit am Tag schaffe ich einfach nicht. Statt andauernd eine Flasche an den Hals zu setzen (und anschließend sofort noch mehr zu schwitzen), halte ich es lieber mit dem Rezept der australischen Kamellady Robyn Davidson und trinke morgens einen ganzen Billy Tee, über den Tag nur hin und wieder einen Schluck aus der Feldflasche, um die Kehle feucht zu halten, und dann abends wieder ausgiebig. ‟When the sun and the dry air suck gallons of sweat out of you during the day, the more you drink the more thirsty you become.” Genau diese Erfahrung mache ich auch.
Nanguluwur
An Zoologischem läßt sich bei dieser Hitze und zu dieser Tageszeit nicht viel sehen, die Tiere sind schlauer als wir. Lediglich etwas Avifauna macht sich von Baum zu Baum flatternd oder krächzend bemerkbar. Papageien und Kakadus vor allem, in der weißen und in der schwarzen Variante, Gelbhauben- und Rabenkakadus also. Und wie immer der eine oder andere Schwarzmilan oben in der Thermik kreisend, die Aasvögel des Kontinents. Aber noch bin ich nicht gar für ihn, schreite vielmehr einigermaßen munter fürbaß, denn in der trockenen Hitze und ohne Gepäck fühle ich mich geradezu leicht. (Ans leichte Dauerschwitzen gewöhnt man sich.) Und ich mag diese halboffenen, weiten Savannenlandschaften. Wenn das mal nicht genetisch angelegt ist. Wie es der Evolutions- und Soziobiologe Gordon H. Orians glaubt: Instinktive Vorlieben für bestimmte Landschaftsformen sind ererbte Kondensate stammesgeschichtlicher Erfahrungen: Da geht es uns gut. Und welche Landschaftsform könnte diese gespeicherte Urerfahrung eher in uns auslösen als die Savanne Ostafrikas, in der der moderne Mensch entstanden ist, ein Habitat also, das ihm offensichtlich entgegenkam?
‟Vergleichen wir diese zwanzig Millionen Jahre mit einem Tag, so wären die 6000 Jahre der geschichtlichen Zeit gerade dessen letzte 26 Sekunden und die Neuzeit gar nur seine letzten zwei – gegenüber den Zeiträumen, in denen sich die elementaren körperlichen und seelischen Anpassungen des Menschen entwickelt haben, fielen sie nicht ins Gewicht”, schrieb der unvergessene Dieter E. Zimmer einmal in einem Bericht des Zeit-Magazins über Orians ‟Savannen-Theorie”. ‟Die tropische Savanne, ganz besonders jene mit unregelmäßigen Bodenerhebungen, welche schützende Klippen und Höhlen boten, muß die optimale Umwelt des Frühmenschen gewesen sein”, folgert Orians. ‟Ihr Bild hat er sich bewahrt... als die Bereitschaft, mit positiven Emotionen zu reagieren, wenn er in Landschaften kommt, die ihr ähnlich sind.”

‟Skeptiker werden es nie glauben”, räumt Zimmer ein, aber unser eigener Körper könnte Orians Theorie stützen. Er ist ja, ohne Hilfsmittel wie Heizung, Kühlung, Kleidung etc., auf einen bestimmten Temperaturbereich geeicht. Unser Temperaturoptimum, bei dem unser thermoregulatorisches System überhaupt nicht mit Schutzfunktionen wie Frieren oder Schwitzen in Aktion zu treten braucht, liegt (ich gebe es in Richtung einer bestimmten Adresse nur ungern zu) bei 29 Grad. ‟Zwischen 24 Grad und 35 Grad muß es nur Minimales leisten” – sofern keine hohe Luftfeuchtigkeit wie in tropischen Regenwäldern hinzutritt. ‟Unser ganzer Körper, sein Vermögen der Thermoregulation ist die Erinnerung: Wo es am wenigsten strapaziert wird, fühlt es sich einfach am wohlsten, zieht es ihn am stärksten hin.” –

Funktioniert absolut in meinem Fall. Wie es mir schon auf unserer ersten Australienreise mit der Spinnifex-Savanne im Roten Zentrum erging, so ist auch dieses Kennenlernen und Erkunden der offenen Savanne im Süden des Kakadu-Nationalparks fast wie ein Wiedererkennen. So fremd die einzelnen Tier- und Pflanzenarten auch sein mögen, das Gesamtbild ‟paßt”, es fühlt sich insgesamt überhaupt nicht fremd an. Wie groß die Hitze auch sein mag, durch die geringe, ‟richtige” Luftfeuchtigkeit kann ich sie gut aushalten, mein Organismus fühlt sich nicht niedergedrückt, sondern sogar leicht und frei.
À propos fremde Pflanzenarten: Ich frage mich doch, welche seltsame Art der Felsenbirne da hinten zwischen den Felsen wächst, und gehe näher. Hat sich was mit ‟Felsenbirne”. Wenn die grünen ‟Früchte” reif und braun werden und sich öffnen, sieht man die dichte Watte an Fasern, die sie enthalten. Hier wächst der beste Stoff für Polster- und Matratzenfüllungen: Kapok. Die nach Pappelflaum leichteste Naturhohlfaser der Welt, noch dazu wasserabweisend.

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Montag, 10. November 2014
Ubirr
Wo auch immer die Besucher sich tagsüber in dem riesigen Nationalpark tummeln – seine Fläche ist fast so groß wie das Staatsgebiet von Slowenien (oder Israel ohne die besetzten Gebiete) –, zum Abend hin kommen viele auf dem Affenfelsen von Ubirr zusammen, um andächtig die Farborgie eines Sonnenuntergangs über dem riesigen Schwemmland am Fuß der Felsen zu verfolgen.

Erst kommen sie noch paarweise oder in kleinen Grüppchen den Berg heraufgepilgert, dann knippst man sich ausgiebig gegenseitig oder selbst im weichen, rötlichen Abendlicht und vor dem Hintergrund der weiten Landschaft, doch je tiefer die Sonne sinkt, desto leiser werden die Gespräche, verstummen endlich ganz, und ‟andächtig” ist wirklich das treffende Wort für die Haltung, mit der dann alle das grandiose Schauspiel betrachten, das sich wie viele große Naturereignisse in vollkommener Stille vollzieht.
Der Tafelberg von Ubirr, in dessen Höhlungen die Menschen früherer Zeiten ihre von uns kaum zu deutenden, geheimnisvollen Bilder geritzt und gemalt haben, wird zu einem riesigen Altartisch auf dieser bis zum Horizont und weit darüber hinaus reichenden Ebene, und wir auf seinem Gipfelplateau werden winzige Teilnehmer einer großen, stillen Feier, in der die Natur ihre überwältigende Schönheit vor unseren Augen entfaltet.

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Freitag, 7. November 2014
Ein letztes Mal noch: Bemalte Felsen in Australien
Anbangbang-Galerie, Nourlangie Rock, Kakadu NP
Vielleicht ist man zunächst ein klein wenig enttäuscht, wenn man nach dem Fußmarsch unter stechender Sonne entlang in der Hitze zerspringender Sandsteinfelsen die phantasievolle Bildergalerie von Anbangbang an der Südspitze des Nourlangie-Felsens erreicht und dann erfährt, daß sie gerade einmal fünfzig Jahre alt ist.
Anbangbang ist der größte Felsüberhang der ganzen Gegend, fast schon eine Höhle, aber dadurch entstanden, daß ein riesiger Quarzit-Felsbrocken vom 265 Meter hohen Burrungui oder Nourlangie Rock abbrach und auf zwei anderen Felsblöcken liegen blieb. Die so entstandene, luftige Höhlung nutzten Aborigenefamilien seit Jahrhunderten und länger jeweils in der Regenzeit als Wohnplatz. Spuren und Hinterlassenschaften aus mindestens 6000 Jahren sind ausgegraben worden, doch im 20. Jahrhundert ging diese jahrtausendealte Tradition sehr schnell zu Ende, es kamen keine Menschen mehr, um hier während der Regenzeit zu wohnen, und mit ihrem Ausbleiben drohten auch die mit dem Ort verbundenen und von ihnen mündlich tradierten mythischen Geschichten zu verschwinden. Mit Erlaubnis der Stammesältesten suchte ein bekannter eingeborener Maler namens Najombolmi den Ort im Jahr 1964 noch einmal auf und malte im traditionellen, alten ‟Röntgen-Stil” die Wesen auf den Fels, deren Geschichten er als einer von ganz wenigen noch kannte, den gefährlichen Geist Namandjolk, den Blitzemacher Namarrkon mit Steinäxten an seinen Ellbogen, um Blitz und Donner aus den Felsen zu schlagen, und seine Frau Barrkinj. In Sichtweite des Wohnplatzes liegt der hohe Steilrand des Arnhemland-Massivs. Es ist die Heimat von Namarrkon, und an einer Stelle sind dort drüben in glastiger Ferne drei riesige Säulen aus Sandstein aus der Wand gewittert und stehen fast allein vor ihr. Dieser Platz ist tabu, er ist "Lightning dreaming", der Ort an dem Blitz und Donner entstehen.
Lightning Dreaming, Arnhem Land

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Dienstag, 4. November 2014
Vom Vorteil des Unglaubens
Namarrkon, the lightning man. Nourlangie Rock, Anbangbang Galerie, Nordaustralien

"People they painted sorcery paintings for whitefella, to get rid of him.
But didn't work 'cause whitefella did not believe in it."


(Roy, aboriginal guide, Laura)

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Sonntag, 2. November 2014
Bilder, Beutelwölfe & Bewußtseinstheorien (Vorsicht: lang!)
Wir sehen ein paar farbige Linien auf einer Felswand und erkennen darin augenblicklich das Abbild eines Tieres (selbst wenn wir dieses Tier nie mit eigenen Augen gesehen haben). Was bringt uns dazu? Unser Verstand natürlich, unser Gedächtnis, unser Gehirn. Ja, klar, das ist bekannt. Aber wie macht es das? Auch bekannt: Ein über die Sehzellen aufgenommener optischer Reiz wird im Gehirn von bestimmten, durch ihn angeregten Nervenzellen (Neuronen) mittels spezieller Botenstoffe an Synapsen genannten Kontaktstellen an andere, für diesen Botenstoff positiv empfängliche Zellen weitergeleitet, die so angeregten Zellen verknüpfen sich zu einem Netzwerk von Nervenzellen mit einem spezifischen Funktionszusammenhang. Auch in unserem Fall haben bestimmte Neuronen auf die optischen Reize reagiert, ihre Botenstoffe ausgeschickt und sich durch sie in Sekundenbruchteilen mit weiteren Zellen in anderen Hirnpartien kurzgeschlossen, bis es irgendwann klickte: ‟Bingo, diese Linien ergeben ein Bild, und zwar das eines Beutelwolfs”.
Längst hat die Hirnforschung auch erkannt: Je häufiger Zelle B durch Zelle A angeregt wird, desto empfänglicher wird sie für Reize von Zelle A. Sie lernt also, Reize von A bevorzugt zu empfangen. In dieser Fähigkeit von Zellnetzwerken, ihrer sogenannten neuronalen oder kortikalen Plastizität, und in diesem Vorgang, den Freud im Entwurf einer Psychologie als ‟Bahnung” bezeichnete, scheint der Kern der Lernfähigkeit unseres Gehirns und Verstands zu liegen.
Er impliziert allerdings auch, daß neuronale Netzwerke nicht von Anfang an und von sich aus bestehen, sondern erst geknüpft werden müssen. Das (Wieder-)erkennen eines Musters von Linien als Abbild eines Tieres zum Beispiel muß erst erlernt werden. Das menschliche Gehirn hat über diese Fähigkeit nicht von Beginn an verfügt. Nicht das sich entwickelnde Gehirn eines einzelnen menschlichen Individuums und nicht stammesgeschichtlich die Gehirne entwicklungsgeschichtlich früher Menschenarten.
@ Nourlangie Rock
1972 erhielt der amerikanische Biochemiker Gerald Edelman den Medizin-Nobelpreis für seine Entdeckung und Erforschung von Molekülen in unserem Nervensystem, die für den allmählichen Aufbau unseres Immunsystems sorgen. Zu dem Zeitpunkt war Edelman bereits überzeugt, eine ähnliche evolutionäre Entwicklung wie im Immun- und Nervensystem sei auch bei der Entwicklung des Gehirns und seiner Bildung von Bewußtsein am Werk. Für den Rest seines Forscherlebens verlegte sich der Mediziner und Biochemiker auf die Neurobiologie und entwickelte seine für die Frage der Entstehung von Bewußtsein grundlegende Theorie der "Neural Group Selection", die ich hier nicht eingehender darlegen kann, weshalb ich für eine erste Orientierung auf den einschlägigen Wikipedia-Artikel verweise. Es gibt auf der Homepage von Alexander Kluges dctp.tv auch ein interessantes Gespräch mit Edelman. Darin erklärt er unser Immunsystem ebenso zu einer ‟darwinistischen Maschine” wie das Gehirn. ‟Unser Körper ist in der Lage, sogar Fremdkörper zu erkennen, die vorher noch nie existiert haben. Unser Immunsystem ist ein darwinistisches System in Echtzeit. Es produziert unzählige verschiedene Antikörper, und diejenigen, die erfolgreich an einen Erreger andocken und ihn unschädlich machen können, vermehren sich. Ich glaube, das Gehirn funktioniert auf dieselbe Weise. Anstatt Zellen zu vermehren, wird die Verknüpfung zwischen ihnen verändert. Wenn eine durch Botenstoffe einmal hergestellte Verbindung zwischen Zellen funktioniert, wird sie gestärkt. Das geschieht während der Entwicklung des Gehirns. Es ist in diesem Sinn also auch ein darwinistisches System."
Ein Referat seines auf Deutsch erschienenen Buchs Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht (C.H.Beck, 2002) findet sich dankenswerterweise hier.
In seiner Theorie unterscheidet Edelman zwischen einem primären Bewußtsein, über das auch bereits höhere Tierarten verfügen. Sie sind in der Lage, ‟Gegenwartswahrnehmungen zu einer einheitlichen Szenerie zu verbinden und mit Erinnerungen zu verknüpfen und zu bewerten [...] Das Primärbewusstsein ist jedoch nicht in der Lage, vergangene Erlebnisse von gegenwärtigen zu unterscheiden und Projektionen in die Zukunft zu erzeugen. Diese Leistungen vermag erst das erstmalig beim Menschen in Erscheinung tretende sog. Höhere Bewusstsein zu erbringen, das aber bereits ein entwickeltes Primärbewusstsein zur Voraussetzung hat. Bereits das Primärbewusstsein kann Sinneswahrnehmungen kategorisieren und damit die Vorstufe einer Begriffswelt erzeugen, aber erst die soziale und affektive Kommunikation der Menschen miteinander, die damit verbundene Entwicklung der Sprache, der Begriffssymbole und einer besonderen Region des Gehirn, in der die Bearbeitung der Sprache erfolgt, ermöglicht ein höheres Bewusstsein, das nicht nur Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu unterscheiden vermag, sondern auch die Bildung abstrakter Begriffe gestattet und zur Erkenntnis des anderen Menschen als eines ebenbürtigen Lebewesens und damit auch zum Selbstbewusstsein, zum Erkennen des eigenen Bewusstseins führt.”

An dieser Stelle greift der Archäologe Lewis-Williams in Edelmans evolutionäre Bewußtseins-Theorie unterscheidend ein und behauptet, frühere Menschenarten wie der Neandertaler hätten die höhere Bewußtseinsstufe noch nicht besessen. Erst im Hirn des Homo sapiens hätten sich jene neuronalen, weit voneinander entfernte Regionen des gesamten Gehirns miteinander verknüpfenden Netzwerke gebildet, aus denen höheres Bewußtsein entsteht.

Fortsetzung hier

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Bilder, Beutelwölfe & Bewußtseinstheorien (II)
Homo neandertalensis verfügte laut Lewis-Williams im Gegensatz zu Homo sapiens nicht über dieses höhere Bewußtsein und somit auch über kein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis. Und Neandertaler verfügten wahrscheinlich nicht über eine Sprache, in der sie sich über Bewußtseinsinhalte verständigen konnten. Neandertaler konnten demnach aus ihren Erfahrungen und Erinnerungen keine allgemeinen Erkenntnisse abstrahieren, sie konnten vermutlich kaum über das Hier und Jetzt hinausdenken und waren dem konkurrierenden Homo sapiens damit auf lange Sicht im Überlebenskampf der Eiszeit unterlegen.
Sie haben sich vermutlich keine anhaltenden Gedanken über den Verbleib ihrer Verstorbenen und etwas so Abstraktes wie ein etwaiges Weiterleben nach dem Tod oder eine jenseitige Welt gemacht und deswegen, so Lewis-Williams, auch nicht die Bestattungsriten der modernen Menschen übernommen, weil sie gar nicht begriffen, was die sich dabei dachten, und sie haben keine Sprache und Begrifflichkeit oder anderweitige Ausdrucksmittel für derlei entwickelt. ‟Homo sapiens konnte träumen und sich über seine Träume mit anderen austauschen – Neandertaler konnten das nicht; sie konnten sich nicht an ihre Träume erinnern.”
‟Dieser Unterschied, behaupte ich”, so Lewis-Williams weiter, ‟war entscheidend beim Anstoß zum Anfertigen von Bildern.” Moderne Menschen konnten in zweidimensionalen Linien, Flecken oder Mustern auf einer Fläche vermeintlich ein reales, dreidimensionales Ding oder Wesen erkennen, weil sie Bilder dieses Dings oder Wesens vorher bereits in ihren Träumen oder Visionen vor sich gesehen hatten und sich an sie erinnern konnten.

Der deutsch-amerikanische biologische Psychologe Heinrich Klüver hat in seinen Untersuchungen zu Halluzinationen unter Drogeneinfluß schon in den 1920er Jahren festgestellt, daß halluzinierte Bilder den Träumenden oft wie auf Oberflächen projiziert erscheinen. Gleiches postuliert Lewis-Williams für die Träume und evtl. Trancezustände früherer Menschen mit höherer Bewußtseinsstufe, denn sie besaßen ein gleichartiges Nervensystem wie wir heutigen: ‟Their world was already invested with two-dimensional images; such images were a product of the functioning of the human nervous system in altered states of consciousness and in the context of higher-order consciousness.”
Da ihre Gemeinschaften eine Verständigung nicht nur über einige wenige vordergründige, sondern über das gesamte Spektrum ihrer Bewußtseinsinhalte anstrebten, hatten sie bereits einen Satz gemeinsam geteilter mentaler Bilder angelegt, bevor sie Bilder zu malen begannen, und um für alle verständlich zu sein, mußten diese Bilder einem von allen geteilten Erfahrungsraum entnommen sein. Dies würde erklären, warum es von Beginn der sogenannten kreativen Explosion in der europäischen Jungsteinzeit an gleich ein ziemlich festgelegtes Repertoire an Motiven gab, das sich überwiegend auf Tiere und darunter auf einige wenige Arten beschränkte.
‟The first two-dimensional images were thus not two-dimensional representations of three-dimensional things in the material world”, geht Lewis-Williams in seinen Hypothesen einen Schritt weiter. ‟Rather, they were ‘fixed’ mental images. In all probability the makers did not suppose that they ‘stood for’ real animals”.
Und dann legt Lewis-Williams mit seinen Spekulationen vom schamanistischen Hintergrund der frühen Höhlenkunst los, von denen Raoul Schrott, unser grundsolider Altphilologe, gestützt auf die Polemiken des britischen Free-lance-Archäologen Paul Bahn, neulich in einem Gespräch befand, sie seien ‟völliger Quatsch”.
Aufrufe zu wissenschaftlicher Disziplin sind oft heilsam, aber ob man mit Bahns agnostischem Standpunkt: ‟The basic problem with prehistoric art – one which many people dislike intensely and refuse to accept – is that, in the absence of testimony from the original artists, or at least from local indigenes who may retain some knowledge of the most recent art’s content, we simply cannot ‘read’ it. It comprises millions of markings of different kinds, all over the world. Some seem recognizable to the modern eye – humans, animals – but we can never be sure what they were supposed to represent, let alone what they ‘mean’.” (Paul Bahn: Stumbling in the footsteps of St Thomas, in: British Archeology, 31, 1998) und seinem Aufruf zu völligem Verzicht auf jegliche Interpretation in dem Wunsch, die so erstaunlichen Felsbilder früher Menschen besser zu verstehen, wirklich weiterkommt, darf wohl auch mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Alles, was ich hier schreibe, ist natürlich ganz schrecklich und vielleicht unzulässig verkürzt, und den Disput um die Shamanismus-Hypothese will ich jetzt nicht auch noch nachzeichnen, zumal sie für die, so weit wir wissen, völlig schamanenfreie Kultur der australischen Ureinwohner ohnehin ohne Erklärungskraft ist, aber es sind halt so Fragen, Gedanken, Fragmente von Überlegungen und Spekulationen, die einem im Angesicht frühzeitlicher Traumzeitbilder durch den Kopf gehen, und genau das zeigt doch, welche Rätsel sie uns aufgeben und welche Fragen sie uns über unsere eigene Herkunft, Geschichte und stammesgeschichtliche Entwicklung stellen.

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