Na gut, das Wetter holt zur Zeit den April nach, und wirklich gereist wird momentan auch nicht, aber es gibt ja die eigene Phantasie und ein paar gute Bücher, die ihr auf die Sprünge helfen. Schon mal im goldenen Licht Sibiriens gewandelt? Hier ist eine Gelegenheit.
"Auf dem Jaroslawl-Bahnhof in Moskau traf ich einmal einen Mann, der nicht seinesgleichen hat. Es war, wie von einem Engel berührt zu werden, und das Kennzeichnende an Engeln ist, daß sie vorübergehen. Wir reisten zusammen durch Sibirien und hatten fast ein Jahr in Japan; dann trennten wir uns.
Glücklicher als in Sibirien bin ich niemals gewesen. Es dauerte mein halbes Leben, ehe ich zurückkehren konnte. In der Zwischenzeit hatte sich die Welt ein wenig gebessert. Sie bot mir Entschädigungen an, und ich hatte viel nachzuholen.
In den Jahren, die inzwischen vergangen waren, herrschte im nordöstlichen Teil der Welt die Ära Breschnew. Als ich zurückkam, war es die Zeit Gorbatschows. Die kleinen Orte entlang der Bahnlinie sahen sich noch immer merkwürdig gleich, als ob der Stillstand ein Bündnis mit meiner Erinnerung eingegangen wäre. Die modernen Gebäude, die man erst nach meiner Zeit errichtet hatte, waren fast ausnahmslos heruntergekommen und schon wieder im Verfall begriffen. Sie waren wie eine Art Spiegelbild meiner eigenen Kraftlosigkeit während jener Jahre. Wir hatten unsere Stöße abbekommen, und es brauchte seine Zeit.
In jenem September hatte ein Glanz über Sibirien gelegen wie am Anbeginn der Welt. Es regnete nur diesseits des Urals, dann herrschte ein märchenhaftes Licht, ein Goldton, wie ich ihn erst in Afrika wieder gesehen habe. Es blitzte auf den Stahlzähnen der Sowjetbürger im Zug. Alle lächelten mich an, vielleicht weil Glück wirklich etwas Unwiderstehliches ist und es die Einsicht gibt, daß alle Menschen ein Recht auf ihren Augenblick darin haben.
Sie lachten auch, weil der Zug als eine Art langgestrecktes Erholungsheim diente. Während der wochenlangen Reise von Moskau nach Wladiwostok hatten die Menschen Zeit, sich zu erholen, zu essen und zu reden. An mir zeigten sie großes Interesse, weil ich die einzige Ausländerin war, die zweiter Klasse reiste; die beiden anderen waren Erste-Klasse-Passagiere. Wir begegneten uns im Restaurantwagen und bei gegenseitigen Besuchen in unseren Abteilen, ansonsten aber gehörte ich den Russen in meinem Waggon. Mein Russisch war so lückenhaft, daß meine Äußerungen meist vom Typ "Wie schön!", "wie zauberhaft!" oder "wie interessant!" ausfielen. Schon damals glaubte ich, die großen Mißverständnisse seien den Menschen vorbehalten, die wir lieben und mit denen wir uns tiefergehender verständigen. Mein begrenztes Russisch schloß dagegen alle verletzenden Mißverständnisse aus.
Später habe ich wieder über das sichere Ohr der Russen für das Sprachniveau, das einem zu Gebote steht, nachgedacht und darüber, wie schnell sie sich daran anpassen. Bald tauschten wir unser gegenseitiges Wohlwollen in rund vierzig Wörtern aus. Sie lotsten mich ebenso freundlich wie effektiv an den betrunkenen Offizieren in der ersten Klasse vorbei, die mich in ihr Kupee einladen wollten, und sorgten dafür, daß der, den ich zu lieben begonnen hatte, im Restaurantwagen nicht bedient wurde, ehe ich in Erscheinung trat. Jemand von der Bedienung wachte darüber, daß der Platz ihm gegenüber frei blieb, bis ich kam. Darauf stürzten sie herbei und geleiteten mich dorthin, wo ich hin wollte. Dann eilte jemand mit der Speisekarte herbei, auf der alle Gerichte bis auf eines ausgestrichen waren. Morgens, mittags und abends aßen wir fettige Koteletts, und etwas Leckereres habe ich nie gegessen.
"Wenn ich mich nicht an dich halte, bekomme ich überhaupt nichts", beklagte sich der, den ich zu lieben begonnen hatte.
Es wurde eine Liebe, der ich es verdanke, mich auf meinem Sterbebett nicht grämen zu müssen, daß mir irgendein Gefühl im Leben entgangen sei. Auch rein geographisch wurde es eine ausufernde Verliebtheit. Ich fiel der Länge nach über Sibirien, indem meine Füße am Ural hängenblieben und mein Kopf am Japanischen Meer landete [...]
Einundzwanzig Jahre später, im Juni 1989, kam ich auf Schleichwegen zurück, als wollte ich, daß mich das Land nicht bemerkte. Ich hielt mich erst lange und ausgiebig in der Mongolei auf, und als ich endlich einen Zug bestieg, war es nicht der Rossija, sondern der Zug von Ulan Bator nach Ulan Ude an der Stammbahn, wo ich mir am Bahnhof einmal Äpfel gekauft hatte. Außerdem war ich mit einer Aufgabe und einem bestimmten Interesse gewappnet und Mitglied einer Gruppe Gleichgesinnter. Niemand konnte ahnen, daß es private Gründe für meine Reise gab.
Wer jemals von einem Engel angerührt wurde, hält immer nach ihnen Ausschau. So kommt man automatisch dazu, andere geflügelte Wesen zu bemerken. Das ist die große Kompensation, die die Welt bietet. Fast alles, dem wir uns mit Leidenschaft widmen, ist Ersatz für etwas anderes. Von Vogelbeobachtern heißt es zum Beispiel, sie seien Menschen, die von anderen Menschen enttäuscht seien. Darin liegt etwas Wahres, und ich will nicht leugnen, daß ein Teil des Entzückens, mit anderen Vogelguckern gemeinsam draußen unterwegs zu sein, in der unausgesprochenen Überzeugung liegt, die Vögel verdienten das größere Interesse.
Als ich zurückkam, war es also wegen der Natur und der Vögel, die ich früher aus dem Zug durch mein Glück nur flüchtig wahrgenommen hatte. [...] Wenn das Glück wie eine Eisenbahnlinie durch Südsibirien schneidet und in Japan endet, dann erstreckt sich der Ersatz dafür über ein viel größeres Gebiet. Überall hört man Flügelschläge.
Über ganz Sibirien steht jemand auf einem Wiesenhöcker und wirft sich in die Brust. Sie pumpt ein und aus, darin dröhnt es, als ob jemand "hoh" in eine Tonne ruft, die Kehle weitet sich und zieht sich zusammen. Jemand hüpft in Verzweiflung und Lust und dröhnt und pfeift. In Sibirien verkörpert die Vogelfauna alles Verlangen der Welt. Da dreht und windet man sich, steigt in die Höhe und stürzt seinem Verlangen entgegen, während der Wind braust wie ein Düsenflugzeug im Federkleid. Im Moor hüpft man von Bülte zu Bülte und prahlt mit Schwanzfedern und Schwingen, mit Kragen und Hauben und was man sonst noch vorzuweisen hat.
"Ich bin's", ruft man über die ganze gewaltige Taiga und Tundra, und es hört sich an wie das versammelte Herz der Welt.
Es ist viel zu aufdringlich und anhaltend, um es schön oder anmutig zu nennen. Jemand kollert und wirft ruckartig den Kopf auf, jemand anders duckt und klagt, jemand zischt, pfeift und klickt, schlägt mit den Flügeln, schnalzt und rasselt. Man verhält sich eben, wie einem der Schnabel gewachsen ist, und ich, die ich das alles beobachte, weiß, daß es ein Spiegelbild von dem ist, was unter meiner eigenen Haut vorgeht.
Auch ich stand einmal in Sibirien in Haube und Kragen und gluckste und flötete. Ich knickste und verbeugte mich und pickte auf dem Boden herum, daß das Moos nur so stob. Der, den ich im Auge hatte, flog mit rauschendem Gefieder auf. Bei seiner Scheinflucht entfaltete er ein ganzes Signalsystem aus Farben und Federn. Wer, wenn nicht ich, sollte wissen, was es heißt, ein Vogel in Sibirien zu sein."
(aus: Ulla-Lena Lundberg: Sibirien. Selbstporträt mit Flügeln)
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