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Sonntag, 2. November 2014
Bilder, Beutelwölfe & Bewußtseinstheorien (II)
Homo neandertalensis verfügte laut Lewis-Williams im Gegensatz zu Homo sapiens nicht über dieses höhere Bewußtsein und somit auch über kein ausgeprägtes Langzeitgedächtnis. Und Neandertaler verfügten wahrscheinlich nicht über eine Sprache, in der sie sich über Bewußtseinsinhalte verständigen konnten. Neandertaler konnten demnach aus ihren Erfahrungen und Erinnerungen keine allgemeinen Erkenntnisse abstrahieren, sie konnten vermutlich kaum über das Hier und Jetzt hinausdenken und waren dem konkurrierenden Homo sapiens damit auf lange Sicht im Überlebenskampf der Eiszeit unterlegen.
Sie haben sich vermutlich keine anhaltenden Gedanken über den Verbleib ihrer Verstorbenen und etwas so Abstraktes wie ein etwaiges Weiterleben nach dem Tod oder eine jenseitige Welt gemacht und deswegen, so Lewis-Williams, auch nicht die Bestattungsriten der modernen Menschen übernommen, weil sie gar nicht begriffen, was die sich dabei dachten, und sie haben keine Sprache und Begrifflichkeit oder anderweitige Ausdrucksmittel für derlei entwickelt. ‟Homo sapiens konnte träumen und sich über seine Träume mit anderen austauschen – Neandertaler konnten das nicht; sie konnten sich nicht an ihre Träume erinnern.”
‟Dieser Unterschied, behaupte ich”, so Lewis-Williams weiter, ‟war entscheidend beim Anstoß zum Anfertigen von Bildern.” Moderne Menschen konnten in zweidimensionalen Linien, Flecken oder Mustern auf einer Fläche vermeintlich ein reales, dreidimensionales Ding oder Wesen erkennen, weil sie Bilder dieses Dings oder Wesens vorher bereits in ihren Träumen oder Visionen vor sich gesehen hatten und sich an sie erinnern konnten.

Der deutsch-amerikanische biologische Psychologe Heinrich Klüver hat in seinen Untersuchungen zu Halluzinationen unter Drogeneinfluß schon in den 1920er Jahren festgestellt, daß halluzinierte Bilder den Träumenden oft wie auf Oberflächen projiziert erscheinen. Gleiches postuliert Lewis-Williams für die Träume und evtl. Trancezustände früherer Menschen mit höherer Bewußtseinsstufe, denn sie besaßen ein gleichartiges Nervensystem wie wir heutigen: ‟Their world was already invested with two-dimensional images; such images were a product of the functioning of the human nervous system in altered states of consciousness and in the context of higher-order consciousness.”
Da ihre Gemeinschaften eine Verständigung nicht nur über einige wenige vordergründige, sondern über das gesamte Spektrum ihrer Bewußtseinsinhalte anstrebten, hatten sie bereits einen Satz gemeinsam geteilter mentaler Bilder angelegt, bevor sie Bilder zu malen begannen, und um für alle verständlich zu sein, mußten diese Bilder einem von allen geteilten Erfahrungsraum entnommen sein. Dies würde erklären, warum es von Beginn der sogenannten kreativen Explosion in der europäischen Jungsteinzeit an gleich ein ziemlich festgelegtes Repertoire an Motiven gab, das sich überwiegend auf Tiere und darunter auf einige wenige Arten beschränkte.
‟The first two-dimensional images were thus not two-dimensional representations of three-dimensional things in the material world”, geht Lewis-Williams in seinen Hypothesen einen Schritt weiter. ‟Rather, they were ‘fixed’ mental images. In all probability the makers did not suppose that they ‘stood for’ real animals”.
Und dann legt Lewis-Williams mit seinen Spekulationen vom schamanistischen Hintergrund der frühen Höhlenkunst los, von denen Raoul Schrott, unser grundsolider Altphilologe, gestützt auf die Polemiken des britischen Free-lance-Archäologen Paul Bahn, neulich in einem Gespräch befand, sie seien ‟völliger Quatsch”.
Aufrufe zu wissenschaftlicher Disziplin sind oft heilsam, aber ob man mit Bahns agnostischem Standpunkt: ‟The basic problem with prehistoric art – one which many people dislike intensely and refuse to accept – is that, in the absence of testimony from the original artists, or at least from local indigenes who may retain some knowledge of the most recent art’s content, we simply cannot ‘read’ it. It comprises millions of markings of different kinds, all over the world. Some seem recognizable to the modern eye – humans, animals – but we can never be sure what they were supposed to represent, let alone what they ‘mean’.” (Paul Bahn: Stumbling in the footsteps of St Thomas, in: British Archeology, 31, 1998) und seinem Aufruf zu völligem Verzicht auf jegliche Interpretation in dem Wunsch, die so erstaunlichen Felsbilder früher Menschen besser zu verstehen, wirklich weiterkommt, darf wohl auch mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Alles, was ich hier schreibe, ist natürlich ganz schrecklich und vielleicht unzulässig verkürzt, und den Disput um die Shamanismus-Hypothese will ich jetzt nicht auch noch nachzeichnen, zumal sie für die, so weit wir wissen, völlig schamanenfreie Kultur der australischen Ureinwohner ohnehin ohne Erklärungskraft ist, aber es sind halt so Fragen, Gedanken, Fragmente von Überlegungen und Spekulationen, die einem im Angesicht frühzeitlicher Traumzeitbilder durch den Kopf gehen, und genau das zeigt doch, welche Rätsel sie uns aufgeben und welche Fragen sie uns über unsere eigene Herkunft, Geschichte und stammesgeschichtliche Entwicklung stellen.

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