Mittwoch, 18. Februar 2009
Holländer entdecken den netten Deutschen
Das in meinen Augen größte Kunststück, das die Niederländer in jüngerer Zeit fertiggebracht haben, bildet das überall im Ausland weit verbreitete Image, eines der aufgeschlossensten, liberalsten und lockersten Völkchen dieser Erde zu sein. Allein in der special relationship zum übergroßen Nachbarn Deutschland brechen rüde Animositäten, die den blanken Schild dieser Reputation trüben, immer wieder einmal nach außen sichtbar an die Oberfläche wie die berühmte Spuckattacke von “Lama” Frank Rijkaard gegen Rudi Völler im verlorenen Spiel gegen Deutschland bei der Fußballweltmeisterschaft 1990. Der Fußball bringt ja überhaupt so manches an den Tag, was sonst mehr oder weniger mühsam unter dem Mantel eines höflichen und zivilisierten Umgangs miteinander verborgen bleibt.
Der mehr als berechtigte Grund für den Zorn der Niederländer auf Deutschland liegt natürlich in der Mißachtung der niederländischen Neutralität und dem Überfall der Wehrmacht im Rahmen des Westfeldzugs gegen England und Frankreich im Mai 1940 sowie in den folgenden bitteren Jahren der deutschen Besatzung. Weitgehend verdrängt wurde hingegen lange, daß die Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland in den ersten Besatzungsjahren auf mehr als 100.000 Mitglieder anwuchs und etwa 50.000 Niederländer in die Nederlandsche SS, einen Teil der Waffen-SS, eintraten. Nahezu vergessen ist auch, daß die niederländische Regierung gleich nach Kriegsende eine staatliche Kommission mit der Ausarbeitung von Annexionsplänen beauftragte, um sich durch Gebietsabtretungen und andere Reparationen zu entschädigen. Ihr Maximalziel war die Wesergrenze entlang einer gedachten Linie von Wilhelmshaven nach Osnabrück und Hamm, von dort zum Rhein bei Wesel und diesem folgend bis Köln, dann zurückbiegend nach Aachen. Alle Bewohner von Orten mit mehr als 2500 Einwohnern sollten ausgewiesen werden. Die Übriggebliebenen hätten, sofern sie Plattdeutsch konnten, auf die niederländische Staatsbürgerschaft optieren dürfen.
Wegen der sich anbahnenden Konfrontation mit der Sowjetunion und einer gewünschten Konsolidierung Westdeutschlands lehnte die Alliierte Hohe Kommission der Westmächte das Ansinnen jedoch ab. Am 23. April 1949 annektierten die Niederlande dann lediglich kleine Gebiete im Kreis Heinsberg und der Grafschaft Bentheim, die sie 1963 an die Bundesrepublik zurückgaben.
Elf Jahre später qualifizierten sich die fußballerisch bis dahin bedeutungslosen Niederlande erstmals wieder für die Endrunde einer Fußball-WM, wurden gleich zum Titelaspiranten erklärt - und scheiterten im Finale an Deutschland. Da brachen bei einigen alte Wunden auf: «Der Hass, er war immer da. Er hat Hintergründe, die jeder kennt und die noch nicht vergangen sind. Ich würde es bis an mein Lebensende nicht verwinden, wenn wir es nicht schafften, zu verhindern, dass sie später grölen könnten, sie seien Weltmeister – und wir nicht», erklärte der halblinke Stürmer Wim van Hanegem, der weinend den Platz verließ.
Im Nachhinein erwies sich diese “zweite Niederlage” als Geburtsstunde der «vielleicht giftigsten Fußballrivalität auf der Welt», wie sie Thomas Snyder, Historiker des holländischen Nationalteams, nennt. Bei der nächsten WM, 1978 in Argentinien, boxte Dick Nanninga Bernd Hölzenbein in den Magen, woraufhin dieser ihn an der Nase packte. Bei der Europameisterschaft 1980 versetzte Johnny Rep dem deutschen Torhüter Toni Schumacher einen Tritt in den Bauch. Zur EM 1988 ergoß sich eine oranje Invasion ins Gastgeberland Deutschland, und auf dem Platz des Feindes glückte endlich die Revanche. Durch ein Tor in der 89. Minute. Es war der erste holländische Sieg in elf Begegnungen seit 1956.
Geschätzte 9 von 15 Millionen Niederländern rannten auf die Straße und skandierten "1940 kamen sie/1988 kamen wir/Holadije, holadio". «Es ist ein Gefühl, als hätten wir zuletzt doch noch den Krieg gewonnen», sagte ein ehemaliger holländischer Widerstandskämpfer im Fernsehen. “Und unsere Gefallenen stiegen / Jubelnd aus ihren Gräbern”, endete der Lyriker Jules Deelder sein Gedicht 21-6-88. Auf dem Platz tauschte Ronald Koeman mit Olaf Thon das Trikot und wischte sich mit dem deutschen ostentativ den Hintern ab.
Als ein Jahr später die Mauer fiel, sprach sich der damalige niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers im Chor mit Francois Mitterrand und Maggie Thatcher laut gegen die deutsche Vereinigung aus.
1993 befragte das Haager Clingendael-Institut für internationale Beziehungen holländische Jugendliche nach ihren Sympathien für EU-Länder. Nachbarland Deutschland landete auf dem letzten Platz. “Den Deutschen wurde unterstellt, sie seien im Geist Nazis und wollten wieder einen Krieg anzetteln”, schrieb die Schweizer Weltwoche (der die Informationen hier entnommen sind).
Erst Mitte der 90er Jahre begann man in den Niederlanden ernsthaft, das eigene Verhalten während der Besatzungszeit und danach zu hinterfragen. Die Zeitschrift Groene Amsterdammer enthüllte beispielsweise, daß noch Ende der 1960er Jahre Beamte des Finanzministeriums in einem internen Flohmarkt mit ungetrübter Freude Gold- und Silberschmuck aus dem Besitz ermordeter Juden ersteigert hatten.
Die alte Gleichung: “Orange, Gullit, weiß / weiß, Matthäus, schwarz”, ging so einfach nicht mehr auf, und aus dem vereinten Deutschland ging (bisher) kein “Viertes Reich” hervor, sondern ein von Krisen und wirtschaftlichem Niedergang auf die Knie gezwungenes Land, in dem heute vieles billiger zu haben ist als in den wirtschaftlich (noch) besser dastehenden Niederlanden.
So wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg viele Deutsche “Butterfahrten” nach Holland unternahmen, gehen heute die Niederländer auf Schnäppchenfang auf der Kö, und immer mehr erfüllen sich den Wunsch nach dem eigenen Haus jenseits der Grenze, wo er viel billiger zu verwirklichen ist.
Anfang der Woche machte der Telegraaf nun auf eine interessante Umfrage unter diesen “Nederduitsers” aufmerksam. Als Grund für ihre Übersiedlung gab (nach den günstigeren Immobilienpreisen) nicht weniger als ein Viertel von ihnen an, sie suchten dort die “angenehme soziale Umgebung”. 29 Prozent erklärten sogar, sie schätzten vor allem die höfliche(re)n Umgangsformen und gegenseitigen Respekt unter Nachbarn. - Nachdenklicher Umkehrschluß: Wenn ausgerechnet die Holländer auf einmal die netten Deutschen entdecken, was sagt das dann über Umgangsformen in den Niederlanden aus?
Der mehr als berechtigte Grund für den Zorn der Niederländer auf Deutschland liegt natürlich in der Mißachtung der niederländischen Neutralität und dem Überfall der Wehrmacht im Rahmen des Westfeldzugs gegen England und Frankreich im Mai 1940 sowie in den folgenden bitteren Jahren der deutschen Besatzung. Weitgehend verdrängt wurde hingegen lange, daß die Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland in den ersten Besatzungsjahren auf mehr als 100.000 Mitglieder anwuchs und etwa 50.000 Niederländer in die Nederlandsche SS, einen Teil der Waffen-SS, eintraten. Nahezu vergessen ist auch, daß die niederländische Regierung gleich nach Kriegsende eine staatliche Kommission mit der Ausarbeitung von Annexionsplänen beauftragte, um sich durch Gebietsabtretungen und andere Reparationen zu entschädigen. Ihr Maximalziel war die Wesergrenze entlang einer gedachten Linie von Wilhelmshaven nach Osnabrück und Hamm, von dort zum Rhein bei Wesel und diesem folgend bis Köln, dann zurückbiegend nach Aachen. Alle Bewohner von Orten mit mehr als 2500 Einwohnern sollten ausgewiesen werden. Die Übriggebliebenen hätten, sofern sie Plattdeutsch konnten, auf die niederländische Staatsbürgerschaft optieren dürfen.
Wegen der sich anbahnenden Konfrontation mit der Sowjetunion und einer gewünschten Konsolidierung Westdeutschlands lehnte die Alliierte Hohe Kommission der Westmächte das Ansinnen jedoch ab. Am 23. April 1949 annektierten die Niederlande dann lediglich kleine Gebiete im Kreis Heinsberg und der Grafschaft Bentheim, die sie 1963 an die Bundesrepublik zurückgaben.
Elf Jahre später qualifizierten sich die fußballerisch bis dahin bedeutungslosen Niederlande erstmals wieder für die Endrunde einer Fußball-WM, wurden gleich zum Titelaspiranten erklärt - und scheiterten im Finale an Deutschland. Da brachen bei einigen alte Wunden auf: «Der Hass, er war immer da. Er hat Hintergründe, die jeder kennt und die noch nicht vergangen sind. Ich würde es bis an mein Lebensende nicht verwinden, wenn wir es nicht schafften, zu verhindern, dass sie später grölen könnten, sie seien Weltmeister – und wir nicht», erklärte der halblinke Stürmer Wim van Hanegem, der weinend den Platz verließ.
Im Nachhinein erwies sich diese “zweite Niederlage” als Geburtsstunde der «vielleicht giftigsten Fußballrivalität auf der Welt», wie sie Thomas Snyder, Historiker des holländischen Nationalteams, nennt. Bei der nächsten WM, 1978 in Argentinien, boxte Dick Nanninga Bernd Hölzenbein in den Magen, woraufhin dieser ihn an der Nase packte. Bei der Europameisterschaft 1980 versetzte Johnny Rep dem deutschen Torhüter Toni Schumacher einen Tritt in den Bauch. Zur EM 1988 ergoß sich eine oranje Invasion ins Gastgeberland Deutschland, und auf dem Platz des Feindes glückte endlich die Revanche. Durch ein Tor in der 89. Minute. Es war der erste holländische Sieg in elf Begegnungen seit 1956.
Geschätzte 9 von 15 Millionen Niederländern rannten auf die Straße und skandierten "1940 kamen sie/1988 kamen wir/Holadije, holadio". «Es ist ein Gefühl, als hätten wir zuletzt doch noch den Krieg gewonnen», sagte ein ehemaliger holländischer Widerstandskämpfer im Fernsehen. “Und unsere Gefallenen stiegen / Jubelnd aus ihren Gräbern”, endete der Lyriker Jules Deelder sein Gedicht 21-6-88. Auf dem Platz tauschte Ronald Koeman mit Olaf Thon das Trikot und wischte sich mit dem deutschen ostentativ den Hintern ab.
Als ein Jahr später die Mauer fiel, sprach sich der damalige niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers im Chor mit Francois Mitterrand und Maggie Thatcher laut gegen die deutsche Vereinigung aus.
1993 befragte das Haager Clingendael-Institut für internationale Beziehungen holländische Jugendliche nach ihren Sympathien für EU-Länder. Nachbarland Deutschland landete auf dem letzten Platz. “Den Deutschen wurde unterstellt, sie seien im Geist Nazis und wollten wieder einen Krieg anzetteln”, schrieb die Schweizer Weltwoche (der die Informationen hier entnommen sind).
Erst Mitte der 90er Jahre begann man in den Niederlanden ernsthaft, das eigene Verhalten während der Besatzungszeit und danach zu hinterfragen. Die Zeitschrift Groene Amsterdammer enthüllte beispielsweise, daß noch Ende der 1960er Jahre Beamte des Finanzministeriums in einem internen Flohmarkt mit ungetrübter Freude Gold- und Silberschmuck aus dem Besitz ermordeter Juden ersteigert hatten.
Die alte Gleichung: “Orange, Gullit, weiß / weiß, Matthäus, schwarz”, ging so einfach nicht mehr auf, und aus dem vereinten Deutschland ging (bisher) kein “Viertes Reich” hervor, sondern ein von Krisen und wirtschaftlichem Niedergang auf die Knie gezwungenes Land, in dem heute vieles billiger zu haben ist als in den wirtschaftlich (noch) besser dastehenden Niederlanden.
So wie in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg viele Deutsche “Butterfahrten” nach Holland unternahmen, gehen heute die Niederländer auf Schnäppchenfang auf der Kö, und immer mehr erfüllen sich den Wunsch nach dem eigenen Haus jenseits der Grenze, wo er viel billiger zu verwirklichen ist.
Anfang der Woche machte der Telegraaf nun auf eine interessante Umfrage unter diesen “Nederduitsers” aufmerksam. Als Grund für ihre Übersiedlung gab (nach den günstigeren Immobilienpreisen) nicht weniger als ein Viertel von ihnen an, sie suchten dort die “angenehme soziale Umgebung”. 29 Prozent erklärten sogar, sie schätzten vor allem die höfliche(re)n Umgangsformen und gegenseitigen Respekt unter Nachbarn. - Nachdenklicher Umkehrschluß: Wenn ausgerechnet die Holländer auf einmal die netten Deutschen entdecken, was sagt das dann über Umgangsformen in den Niederlanden aus?
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