Als die Belgrader Stadtplaner das Konzept für eine völlig neue und moderne Sproßstadt auf dem anderen Saveufer entwarfen, lag der Bruch Titos mit Stalin noch nicht lange zurück und Jugoslawien öffnete sich auch westlichen Ideen und Strömungen. Als richtungweisend für moderne Architektur galt dort nach dem Internationalen Stil besonders der Brutalismus von Le Corbusier, und nicht wenige der riesigen Blöcke in Novi-Beograd sind nach seinen Vorstellungen erbaut worden. Man trug Le Corbusier sogar an, bei der Gestaltung von Neu-Belgrad mitzuwirken, doch als er kam und die Umsetzung seiner eigenen Ideen in Augenschein nahm, soll er sich mit Grausen abgewendet haben. Mit einem sehr zweischneidigen Lob auf die Stadt, das einem viele Belgrader mit ihrem Galgenhumor heute noch gern zitieren, reiste er wieder ab:
Man hat eben doch zu viele Stockwerke übereinandergetürmt und zu viele Menschen hineingepfercht, und zunehmende Armut, gepaart mit Inflation und Teuerung treibt immer noch mehr Bürger aus dem Stadtzentrum in die wenigstens noch bezahlbaren kleinräumigen Wohnungen der Trabantenstadt. Überfüllung, Abnutzung, “Renovierungsstaus” sind die Folge, der ursprünglich einmal weiß gestrichene Beton ist grau, braun und grün geworden und blättert und bröckelt. Eine an vielen Stellen offensichtliche, fast apathisch wirkende Teilnahmslosigkeit und Vandalismus dauerfrustrierter Rabauken tragen auch nicht gerade zum Erhalt von Wohnqualität bei. Jeder Eingang, jede Tür, jedes Loch ist mit massiven, häßlichen Gittern möglichst gegen Einbrecher und mutwillige Zerstörer gesichert. Die Müllabfuhr kommt zwar jeden Tag, aber trotzdem liegt Abfall in aufgeplatzten Säcken und Tüten neben den stinkenden Containern. Und vor den Müllkutschern kommen allabendlich Zigeuner auf kleinen Fuhrwerken, die von abgemagerten Pferden gezogen werden, und durchsuchen den Abfall nach noch Verwertbaren.
Der Zustand der Häuser ist nur ein Spiegelbild der immer noch weitergehenden Verarmung ihrer Bewohner. Vielen sieht man an, daß es ihnen einmal besser ging; andere sind schon seit langem ganz, ganz unten gelandet. Und wie lange ist es her, seit man bei uns die letzten Kriegsversehrten mit Armprothesen gesehen hat?
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“Man vergißt, daß diese Stadt im Laufe der letzten zweitausend Jahre immer wieder vollkommen zerstört worden und immer wieder aus dem Nichts entstanden ist. Vor dem Ersten Weltkrieg hat es in Belgrad kaum fünfzigtausend Einwohner gegeben, jetzt gibt es bald eine Million. Es ist also in einem knappen halben Jahrhundert beinahe auf das Zwanzigfache angewachsen. Deshalb hat Belgrad nichts Weiches, Fließendes, Traditionelles wie die anderen großen Städte Europas. Es ist ein hartes Pflaster”
(Milo Dor: Das Belgrader Bürgertum, 1979)
“Am Anfang, das war ‘91 und ‘91... flohen die Leute vor dem Irrsinn, vor dem Krieg und vor der Tatsache, daß sie hier kein Geld zum Leben haben. Sie gingen verzweifelt fort.
Für mich waren das die schönsten Menschen auf der Welt, und ich werde mich niemals damit abfinden, daß sie nicht mehr hier sind.
Ich bin müde von dieser Stadt, ihren negativen Menschen und allem, was ich durchgemacht habe. Ich bin müde von meinem eigenen Haß auf den Abschaum, der uns zugrunde gerichtet hat”
(Ivan Markov/Mladen Matičević: Ghetto. Das geheime Leben der Stadt, 1997)
"Es schlug gerade Mitternacht, als ich vor dem Café Majestic hielt. Auf der Straße war es noch warm.
Im Sommer ist Belgrad eine Morgenstadt. Um sechs Uhr früh fegt der städtische Spritzwagen den Pferdemist der Marktfahrer mit ihren Gemüsekarren zusammen, und die Holzläden der Geschäfte fliegen klappernd auf; um sieben sind alle Schenken bumsvoll."
(Nicolas Bouvier: Die Erfahrung der Welt, 1954)
Na, letzteres kann ich nicht bestätigen, und Bouviers Reise liegt ja auch schon sechzig Jahre zurück; es ist eine Menge passiert inzwischen, im ehemaligen Jugoslawien und auch in Belgrad, aber eine Morgenstadt ist es im Sommer nach wie vor.
Wir stehen jeden Morgen kurz vor sechs auf und begeben uns mit dem alten Herrn D. auf einen einstündigen Spaziergang am Ufer der Save entlang. Wegen des Hochwassers sind wir gezwungen, auf dem Deich zu laufen. Das Ufer ist überflutet, die Stege zu den vielen Hausbooten (mit zahlreichen zum Verkauf stehenden, aufgegebenen Restaurants) hat man mit Bohlen verlängern müssen. Alle Frühsportler sind mit uns unterwegs, Jogger, Skater, Radfahrer. Ältere Männer sitzen mit bloßem Oberkörper auf den Bänken und tratschen, die Geschäfte und der kleine Markt im Viertel sind geöffnet, viele erledigen bereits ihre Einkäufe, denn später wird es zu heiß. 35 Grad auf dem Asphalt zwischen den aufgeheizten Betonblöcken sind kein Vergnügen.
Neu-Belgrad wurde in den Fünfzigern als moderne Musterstadt auf dem Reißbrett entworfen (zu Bouviers Zeit wurden gerade die ersten Fundamente auf dem dafür erst in Sträflingsarbeit trockengelegten Sumpfboden am nördlichen Saveufer gegossen), und die Planer ließen einigen Platz zur Begrünung zwischen den riesigen Blöcken, aber sie rechneten damals wohl kaum damit, daß die Menschen einmal weniger für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse als vielmehr für die Anschaffung von Privatautos schuften würden. In der Folge wurden Grünflächen zu wilden Parkplätzen und die verbliebenen Anpflanzungen zu wuchernden Großstadtdickichten, in denen Rudel von verwilderten, streunenden Hunden leben, die nachts die Müllcontainer nach Freßbarem durchwühlen.
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Paris, meine toten Freunde, Kirschen in China,
sie erscheinen mir noch, während ich hier schweige, wache und sterbe,
und kalt, wie ein Klotz, auf der Asche liege.
Nur, dies sind nicht mehr wir, das Leben, Sterne,
sondern Ungeheuer, Delphine, Polypen,
die sich über uns wälzen und reiten und treiben,
und heulen: “Staub, Asche, Tod.”
(Miloš Crnjanski: Klagelied über Belgrad)
Belgrad, diese wüste Agglomeration, macht es einem nicht leicht; Bewohnern nicht und Besuchern nicht. Dabei ist das “Tor zum Balkan” eigentlich herrlich am Zusammenfluß von Donau und Save gelegen. Ein Stück weit fließen das dunklere und klarere grüne Wasser der Save und das bräunlich-trübere der Donau noch im selben Bett unvermischt nebeneinander. Mit unfehlbarem Blick haben schon die römischen Militärs die überragende strategische Bedeutung dieser Brückenkopflage erkannt und bei ihrer Ostexpansion aus einem kleinen keltischen Dorf ein stark befestigtes Legionslager gemacht. Obwohl in der Völkerwanderung mehrmals von Hunnen, Sarmaten und Goten gestürmt und geplündert, beeindruckten die steinernen Bauten des oströmischen Singidunum die im 7. Jahrhundert landnehmend eindringenden Slawen so sehr, daß sie es Belgrad, die Weiße Stadt, nannten. Grenzstadt ist es durch die Jahrhunderte geblieben. Die Byzantiner befestigten es erneut gegen die Ungarn, und nachdem die türkischen Osmanen 1521 Belgrad eroberten, verlief an der Save für 350 Jahre die schwer zu überschreitende Grenze zwischen Okzident und Orient.
Belgrad gegenüber lag am sumpfigen Nordufer der Save als österreichisch-ungarische Grenzstadt Semlin (heute als Zemun Stadtteil von Neu-Belgrad).
“Die zwei Grenzstädte sind weniger als einen Gewehrschuß voneinander entfernt, doch ihre Bevölkerung hat keinen Umgang”, hielt der englische Reisende Alexander Kinglake auf seiner Tour in den Orient 1834 fest. “Nachdem wir mit einem Geschöpf oder Gegenstand, die zum Ottomanischen Reich gehörten, in Kontakt gekommen sein würden, würde es uns unmöglich sein, auf österreichisches Territorium zurückzukehren. [Der “aussätzige” Beamte am Fähranleger] fragte noch einmal, ob wir mit der zivilisierten Welt abgeschlossen hätten.” (Kinglake, Eothen).
Victor Hugo dichtete um dieselbe Zeit:
Semlin, deine schwarzen Türme,
Belgrad, deine Minaretts [...]
Diesen schönen Ort zur Hölle
Wandeln Kreuz und Halbmond um;
Für Koran und Evangelium
Tauscht behende Bomben ihr.
160 osmanische Stadtpalais (Serails) und mehr als zweihundert Moscheen sollen Belgrad im 17. Jahrhundert geschmückt haben. Eine einzige habe ich noch gefunden. Seit dem von den europäischen Großmächten erzwungenen Abzug der letzten türkischen Garnison 1867 wurde die Stadt von den Serben vorsätzlich vollständig “deosmanisiert”.
Einen Tag nach der Kriegserklärung nach dem Attentat von Sarajewo griff Ende Juni 1914 die österreichische Armee Belgrad an, nahm es und wurde von den Serben wieder vertrieben, eroberte die Stadt 1915 mit deutscher Unterstützung erneut.
Trotz der Kriegsschäden wuchs Belgrad nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien, dessen Regent, Prinz Paul, nach dem Attentat kroatischer Ustascha auf König Alexander I. 1931 in Marseille sich zunehmend an Deutschland anlehnte. Doch als er auf Druck Hitlers im März 1941 den Dreimächtepakt unterzeichnete, kam es zu einem von England unterstützten Putsch von Armeeoffizieren mit Kronprinz Peter an der Spitze. Nur zwölf Tage später marschierte die Wehrmacht in Jugoslawien ein, und Belgrad wurde durch die Luftwaffe massiv bombardiert.
Was die Deutschen stehen ließen bzw. nach ihrem Plan, Belgrad zu einer die Donauübergänge sichernden “Reichsfestung” zu machen, wieder aufbauten, zerstörten über fünf Monate sich wiederholende Bombenangriffe der Alliierten im Sommer 1944.
Der anschließende sozialistische Wiederaufbau der Weißen Stadt wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens ent-titoisiert, d.h. die modernistischen Neubauten der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre verfielen oder wurden irgendwie privatisiert, was meist auf dasselbe hinauslief.
Im Frühjahr 1999 bombardierte vorläufig zuletzt die NATO in einer völkerrechtlich mehr als zweifelhaften “Operation Allied Force” Belgrad und andere Ziele in Serbien mit Marschflugkörpern und Streubomben erneut – in Kriegsphase III (“stark ausgeweitete Bombenziele”) wurden an manchen Tagen mehr als 700 Einsätze geflogen. Insgesamt wurden es in den 78 Tagen des NATO-Luftkriegs 38.000 Feindflüge, bei denen mehr als 23.000 Bomben und Raketen abgeworfen und abgefeuert wurden. Etwa 2000 Soldaten und Zivilisten fielen auf serbischer Seite, die materiellen Schäden schätzte die Belgrader Regierung auf 190 Milliarden DM. Dabei hat die NATO mit ihren “Präzisionsschlägen” an feindlichem Kriegsgerät zu eigenem Erschrecken weniger als 100 Panzer, 400 Geschütze und 500 andere Militärfahrzeuge getroffen. Und der erklärte Hauptfeind, Milošević, befand sich bei Einstellung der Kampfhandlungen noch immer im Amt.
“Der Kosovo-Krieg ist in mehrfacher Hinsicht ein Wendepunkt der internationalen Politik”, bilanzierte im Januar 2000 Spiegel-Autor Erich Follath in einem Kosovo-Dossier. “Zum ersten Mal hat das zur Verteidigung geschlossene Bündnis einen souveränen Staat angegriffen. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Soldaten in solche Kampfhandlungen verwickelt. Der Krieg wurde an den Vereinten Nationen vorbei geführt und das Völkerrecht dabei außer Kraft gesetzt.
Die Verbrechen der Nazis, jahrzehntelang wichtigste Begründung für eine besondere Friedenspflicht der Deutschen, dienten nun als Beleg für die sittliche Notwendigkeit des Krieges.”
Die Ruinen der zerbombten Häuser sind im Belgrader Stadtbild heute, vierzehn Jahre danach, noch gut zu sehen. Der anhaltende wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Armut tun ein übriges, um Belgrad in vielen Teilen zu einer lauten und ziemlich heruntergekommenen, schmutzigen Stadt mit einem harten Antlitz und noch härteren Alltagsbedingungen zu machen.
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Wir sind (wohlbehalten und das Auto mehr als 6000 Kilometer älter) zurück von unserer längeren Reise kreuz und quer durch die Länder, die früher das föderative Jugoslawien bildeten und heute - leicht um einen passenden neuen Namen verlegen - manchmal als Westbalkan bezeichnet werden, obwohl "Balkan" doch ein höchst schillernder und changierender Begriff ist - doch dazu später einmal.
Steil von den Paßhöhen der Karawanken herabsteigend, hoben wir uns diesmal die Kadenz der vielfältigen, grünen slowenischen Landschaften, von der alpinen Bergwelt über waldige Mittelgebirge, offenes Hügelland und Karst bis hinab zum Mittelmeer, für später auf und eilten gleich weiter Richtung Kroatien. Historisch war die Reise schon allein deshalb, weil wir zu den Letzten gehörten, die an der slowenisch-kroatischen Grenze noch einmal Paß- und Zollkontrollen über sich ergehen lassen mußten. Wir sind mit solchen Prozeduren als Autoreisende mittlerweile ja kaum mehr vertraut, und so gab die Herzogin nach überstandener Paßkontrolle auch auf kroatischer Seite denn auch erleichtert Gas.
Da tauchte im Rückspiegel, schon zusehends kleiner werdend, ein uniformiertes Männchen auf, das wild gestikulierend aus einem als Alucontainer getarnten Wachhäuschen gehüpft kam.
“Kann es sein, daß wir etwas übersehen haben, fragte ich.
“Ich setze mal besser zurück”, meinte die balkanbehördenerfahrene Herzogin in aller Gelassenheit und legte den Rückwärtsgang ein.
Der Herr mit der großen Schirmmütze und dem schmalen Schlips stellte sich als kroatischer Zollbeamter heraus, der auf seinem hoheitlichen Recht beharrte, uns zu fragen, ob wir etwas zu verzollen hätten.
“Ništa”, antwortete die Herzogin in ihrem breitesten belgrader Serbisch.
Die Empörung des kroatischen Zöllners über seine Nichtbeachtung schlug darauf in stumme Fassungslosigkeit um. Kopfschüttelnd musterte er die zollschrankendurchbrechende Pilotin mit deutschem Kennzeichen und serbischem Paß durch das geöffnete Seitenfenster. Sie hielt den Blick ungerührt über das Lenkrad in Richtung des noch hinter dem Horizont verborgenen Belgrad gerichtet. Noch ein entrüstet pendelndes Kopfschütteln zollbehördlicherseits, vielleicht die Überlegung: in ein paar Tagen ist der Job hier sowieso vorbei, und dann eine resignierte Winkbewegung mit der Hand. Wir durften trotz unserer Unbotmäßigkeit nach Kroatien einreisen.
Seit heute ist das Land seinerseits eingereist und nun ebenfalls Mitglied der Europäischen Union. Wem auch immer dieser Beitritt was einbringen mag. "Die europäischen Spitzenpolitiker wollen uns glauben machen, der Beitritt zeuge - der aktuellen Krise in der Union zum Trotz - von der weiteren Wünschbarkeit ihres politischen und ökonomischen Modells", schreibt der Guardian und zieht das mit einigen aussagekräftigen Zahlen heftig in Zweifel.
Die Selbstironie gefiel mir jedenfalls als feiner Zug, bei der offiziellen Beitrittsfeier mit viel Politprominenz von den 2Cellos ausgerechnet “Smooth Criminal” spielen zu lassen. Wen meinten die eigentlich?
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Zuerst hat uns das Hochwasser am Chiemsee zu kilometerlangen Umwegen gezwungen, anschliessend umstanden uns diese Riesen mit ihren grossen, ungekaemmten Haeuptern, beobachteten alles und sagten nur ein einziges, urtuemliches Wort, ihren Namen: Karawanken.
Haetten wir Augen wie sie, saehen wir die Berge fliessen.
"Von Steinen umgeben, spuert man den Atem der laengeren Kreislaeufe." (Ernst Juenger, Dalmatinischer Aufenthalt)
Stein sollte in den kommenden Wochen unserer Reise ueber die Balkan-Halbinsel ein bestimmendes Element werden, neben Wasser und der Sonne, die sich bis heute niemals versteckt hat.
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Bitte um ein wenig Geduld. Der Computer ist nämlich zu Hause geblieben. In ein paar Wochen werde ich hoffentlich zurück sein, und vielleicht finde ich unterwegs einmal ein Internetcafé für eine kurze Zwischenmeldung.
Bleiben Sie mir unterdessen gewogen.
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...and from their haunted bay
The godwits vanish towards another summer.
Everywhere in light and calm the murmuring
Shadow of departure; distance looks our way;
And none knows where he will lie down at night
(Charles Brasch, The Islands;
kann auch kein ganz schlechter gewesen sein)
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