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Montag, 3. Juni 2013
Von Bahnhöfen zu Haltepunkten
Duisburg Hbf. Duisburg Hbf.

Als “Mutterhöhle der Eisenbahn”, wie Walter Benjamin, treten uns Bahnhöfe kaum noch entgegen. In den Niederlanden ähneln sie immer mehr hektischen und überfüllten Einkaufsmalls mit Gleisanschluß im Keller, und in Deutschland sind die Zeiten längst vorbei, in denen man für Millionen Goldmark (aus Reparationsleistungen) prachtvolle Kathedralen für die Eisenbahn und ein Zeitalter der Moderne errichtete wie den Anhalter Bahnhof in Berlin, von wo man “zu Kaisers Zeiten” nach Istanbul oder via Direktverbindung nach Neapel, zu Schiff weiter nach Alexandria und von dort wieder per Bahn nach Kairo und Khartum reisen konnte. Höchstens "schüchtern und verstaubt", glaubte Joseph Roth 1924 in seinem Bekenntnis zum Gleisdreieck, würden "die zukünftigen Gräser zwischen metallenen Schwellen blühen".

Oberhausen Hbf.

Nicht nur mit dem Anhalter Bahnhof ist es anders gekommen. Aus vielen, vielen Bahnhöfen wurden nur noch “Haltepunkte” ohne Gebäude und Personal, während die Bahn Millionen Steuergelder für ungeeignete Neubauten à la “Stuttgart 21" im Untergrund versenkt. Auf den Brachflächen des Berliner Gleisdreiecks zählte die Berliner Behörde für Landschaftspflege schon vor dreißig Jahren mehr als 400 Pflanzenarten, die keineswegs schüchtern zwischen den ehemaligen Schwellen wuchsen und wie die sonst nur in Süddeutschland vorkommende, wärmeliebende Steinweichsel oder Felsenkirsche sechs bis zehn Meter in die Höhe schossen. Wer heute mit der Bahn durch Deutschland fährt, sieht doch immer wieder von Goldrute, Birken, Knöterich und Waldreben überwucherte stillgelegte Gleisanlagen. Natur auf dem Rückeroberungsvormarsch. Und siehe, es ist gut so.

Utrecht Centraal

“Unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film das iPhone und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen.”

(Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 499)

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Samstag, 1. Juni 2013
"Schweigen war eine städtische Disziplin"

Bethel

Beschäftigt einen ein Thema erst einmal, dann fügt sich hin und wieder eins zum anderen, und so erhielt ich vorgestern ganz überraschend eine Einladung, an einer Veranstaltung ausgerechnet in Bethel teilzunehmen.
Also kam die Janet Fram für die Zugfahrt in die Reisetasche, und ab zum Bahnhof.

“Es lebe das Leben”, las Constanze Becker Gedichte von Frida Kahlo auf den Wegen durchs Land, und das Konzert mit den irrwischigen Javorkai-Brüdern und dem Morphing Chamber Orchestra war die reinste Ohrenweide. Andreas Scholl sang Vivaldis Stabat Mater. Zur Begleitung hier (leider nicht in einer Einspielung von ihnen) das erste der “3 Stücke in altem Stil” von Górecki, die auch zur Aufführung kamen.




"Silence was a city discipline. One did not burst into loud tuneless singing if one lived in a flat with people below, above, through this wall and that wall. One had to be 'civilised'.
In my country, Grace thought - yes, I'm saying it, in my country - the sky and cloud used to be above, the grass and the dead below, and through this wall and that wall sheep and cattle and the wind from the Southern Alps."

Country darkness fills the bowl of light to overflowing; in city darkness little silver lights swim like fish in and around the pool."

(Die "verrückte" Janet Frame in Towards Another Summer)

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Mittwoch, 29. Mai 2013
Towards Another Summer

Ja, es gibt schon eigenwillige bis eigenartige Menschen unter uns, vielleicht mehr als man denkt, denn die meisten dürften ihr Leben unauffällig und ungestört in der Zurückgezogenheit des Privaten verbringen, aus der vielleicht manchmal ein bizarrer Gedanke, eine schnurrige Äußerung oder eine als inadäquat empfundene Handlung hervorbrechen.
Geschieht so etwas häufiger, werden die sie Äußernden als “sozial auffällig” betrachtet und in der Anonymität der Öffentlichkeit meist geflissentlich ignoriert, wie etwa die zunehmende Zahl von Menschen, die auf Parkbänken oder in U- und Straßenbahnen der Großstädte sitzen und mit leerem Blick scheinbar Zusammenhangloses halblaut vor sich hin leiern. (Ich meine nicht die mit dem kleinen Knopf im Ohr, bei denen ich erst nach einer Weile erkenne, daß sie mit jemandem telefonieren.)
Wird das unangepaßte Verhalten der “nicht mehr Normalen” störend, legen Angehörige Therapien und Behandlungen nahe, und die bunte Fauna der Seelenklempner aller Couleurs macht sich ans Werk, die Ver- und Gestörten wieder zu unanstößig funktionierenden Mitbürgern zu schleifen.
Bleibt das Psycho engineering samt Drogenverabreichung von Psychopharmaka erfolglos, müssen die Kranken am Ende zum Wohl der Allgemeinheit aus dem Verkehr gezogen und weggesperrt werden. Nie wieder hört man von ihnen; es sei denn sie greifen zur Feder oder zu Stift und Pinsel und artikulieren ihre Erlebnisse und Traumatisierungen auf eine so faszinierende Weise, daß sie dafür mit Kunst- oder Literaturpreisen belohnt werden und so wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückkehren.

Zu Hölderlins Zeiten gab es noch keine Literaturpreise, aber das Leben einer anderen Autorin ist genau so verlaufen. Ganz am unteren Ende der Welt wurde im August 1924 im tiefsten Winter im neuseeländischen Dunedin Janet Frame von der ersten promovierten Ärztin des Landes in ein nicht sehr glückliches Dasein geholt. Der Vater war ein kleiner Mechaniker bei der Eisenbahn, der mehrfach an winzige Stationen im dünn besiedelten Süden versetzt wurde, die Mutter hatte als Dienstmädchen im Haus der Familie von Katherine Mansfield gearbeitet, bevor die Kinder kamen. Janets Bruder litt an Epilepsie, ihre beiden Schwestern ertranken im Abstand von wenigen Jahren, und die heranwachsende Janet vereinsamte zunehmend. Als sie mit 19 eine Ausbildung zur Lehrerin begann, war sie im College so isoliert, daß sie ihre Freizeit zum Teil zwischen Gräbern auf dem Friedhof verbrachte.
Nach einem Selbstmordversuch wurde sie 1945 als schizophren in das Lunatic Asylum von Seacliff eingewiesen, wo man sie über zweihundertmal mit Elektroschocks behandelte. Andere Patientinnen wurden geschlagen, wenn sie nicht “kooperierten”, zwangssterilisiert oder an der Clitoris beschnitten. Acht Jahre saß Frame in Seacliff und anderen Anstalten ein, bis die Ärzte beschlossen, ihre diagnostizierte Schizophrenie durch eine Lobotomie behandeln und die Patientin damit dauerhaft “emotional ruhigstellen” zu wollen. Der amerikanische Psychiater Walter Freeman, der die Operation in den 1940er Jahren zu einer Standardtechnik der Psychiatrie entwickelte und zu Publizitätszwecken manchmal Dutzende Patienten vor laufenden Fernsehkameras operierte, hat den “Erfolg” der Methode selbst darauf zurückgeführt, daß die Operation “die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.” (In der McCarthy-Ära hat man die Operation gern vorgenommen, um homosexuelle und kommunistische Neigungen zu behandeln.)

Der Termin für Janet Frames Verstümmelung zum irreparabel geistig und emotional zerstörten menschlichen Wrack war bereits angesetzt, als ihr völlig überraschend für ihre ersten veröffentlichten Kurzgeschichten ein renommierter Literaturpreis verliehen wurde.
Die OP wurde verschoben, Frame aber erst vier Jahre später aus den Mühlen der Psychiatrie entlassen. Die folgenden beiden Jahre verbrachte sie in einer ehemaligen Armeebaracke auf dem Grundstück von Frank Sargesons Gartenhaus in einem Vorort von Auckland, wo sie ihren ersten Roman schrieb: Owls do cry (1957, letztes Jahr in einer Neuübersetzung von Karen Nölle wieder auf Deutsch erschienen: Eulen schrein). In elf weiteren Romanen, einer dreibändigen Autobiografie und zahlreichen kürzeren Texten hat sie sich ihr Leben lang an ihren Traumata abgearbeitet und dafür literarische Anerkennung bis zu mehreren Vorschlägen für den Nobelpreis erhalten. Drei Jahre nach ihrem Tod 2004 erschien posthum ein zwölfter Roman, Towards another summer, den sie schon 1963 nach einem längeren Aufenthalt in England geschrieben hat. Sein erstes Kapitel hatte mich sofort am Wickel.
“When she came to this country her body had stopped growing... her hair that once flamed ginger in the southern sun was fading and dust-coloured in the new hemisphere”, lauten die ersten Sätze.

“It snowed. For weeks the plants in the garden had a shocked grey look that made you think they’d had a stroke and would die [...] Inside, the electric fires sucked in and blew out the same tired stuffy air, the bathroom walls glittered with damp moss [...] She looked beyond the tall flats with their floating staircases, underfloor heating, nine hundred and ninety-nine years’ lease... and stood in a suddenly-summer lane, shining. Her skin grew warm [...] And that night Grace felt on the skin of her arms and legs, her breasts and belly, and even on top of her head the tiny prickling beginning of the growth of feathers. – It was a relief to discover her true identity. For so long she had felt not-human [...] now the solution had been found for her; she was a migratory bird.”

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Sonntag, 26. Mai 2013
Irrmgard die Unbeugsame

Als ich mir die wetterharte Irrmgard auf dem Schiffsdeck so ansah, dachte ich, daß auch sie als Überlebende zu der in ihrer großen Mehrheit längst abgetretenen Generation gehört, die einmal im Geist von “zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl” erzogen wurde und durch den Krieg, die Diktatur und die "schlechte Zeit" eine heute kaum mehr anzutreffende Selbstdisziplin und Härte gegen sich selbst (und andere) entwickelt hat.
Unter dieser emotionalen Panzerung hat die Generation ihrer Kinder schwer gelitten, und dabei braucht man nicht einmal an die erst jetzt in ihrer ganzen Brutalität öffentlich bekannt werdenden Auswüchse in den Kinderheimen und Erziehungsanstalten der Fünfziger und Sechziger Jahre zu denken; dazu reicht schon die Erinnerung an das System strenger Regeln und seelischer und körperlicher Züchtigungen, das damals in ganz “normalen” Familien gang und gäbe war.
Andererseits ist die tief eingewurzelte, unhinterfragte Härte gegen sich selbst eine Eigenschaft, die den langlebigen Vertretern und Vertreterinnen dieser Generation in ihrem hohen Alter sehr förderlich ist: Sie geben sich nicht auf, lassen sich nie hängen, klagen nicht und ignorieren einfach Behinderungen und Hindernisse, vor denen viele Jüngere kapitulieren würden.

“Tante Irrmgard” (sie ist keine wirkliche Verwandte, sondern nur eine Nenntante der Familie) wollte neulich eine alte Freundin besuchen, die irgendwo abgelegen auf dem Lande lebt. Ein Auto besitzt Irrmgard schon seit vielen Jahren nicht mehr. Also bestieg sie den nächsten ICE für die weite Strecke, wußte nicht, daß diese Tiefflieger nur noch an ganz wenigen Bahnhöfen halten, und rauschte ergo ohne Möglichkeit zum Aussteigen durch den Bahnhof der von ihr anvisierten Stadt. Stieg sie halt am nächsten Großstadtbahnhof aus und nahm einen langsameren Zug zurück. In dem bekam sie aber beim Halt die Tür nicht auf, und der Zug verschleppte sie noch eine Stadt weiter in Gegenrichtung. Na und? Nahm sie eben den nächsten noch langsameren Zug wieder in die andere Richtung und gelangte so nach Stunden endlich in die Kreisstadt, wo sie lange auf den Bus warten mußte, der zwei- oder dreimal am Tag ins ländliche Umland fährt. Natürlich liegt der Bauernhof der Freundin nicht gleich an der Haltestelle, aber Irrmgard trainiert für solche Einsätze, indem sie mit ihren über 90 Jahren, steifen Beinen und krummem Rücken täglich “wenigstens die kleine Runde” von 4 Kilometern dreht, “wenn ich mich besser fühle oft auch mehr.” Tippelte sie also die Landstraße entlang und traf nach einer halben Tagesreise endlich beim Haus der Freundin ein. Die beiden tranken ein Käffchen zusammen, plauschten ein Stündchen über alte Zeiten, und dann machte sich Irrmgard auf den ebenso umständlichen Heimweg.

Im Krieg ist Irrmgard zur Medizinerin ausgebildet worden, doch zu einer eigenen Praxis hat sie es nie gebracht. Sie arbeitete bei einer Behörde als Amtsärztin, bis sie spät ihren Mann kennenlernte, einen kleinen Winzer im Rheingau. Der bildete sich vielleicht etwas darauf ein, daß er eine zwar bereits leicht ältliche Jungfer, aber doch eine Studierte ergattert hatte, verbot ihr aber natürlich sogleich nach der Heirat eine eigene Berufsausübung. Dafür hatte er in der Bundesrepublik von damals durchaus das Recht auf seiner Seite. Was wir heute ja nur noch aus der steinzeitlichen Rechtsordnung islamischer Staaten etwa zu kennen vermeinen, war damals auch bei uns geltendes Recht: Frauen brauchten im Zweifelsfall die erklärte Zustimmung ihrer Männer, wenn sie einen Beruf ausüben wollten. Von 1958 bis 1977 hieß es im BGB (§1356, Absatz 1):

„Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“

Und was damit vereinbar war, bestimmte der “Ähämann” (wie Frau Myyrätohtoriin Finnland den ihren schreibt).
Irrmgards Ähämann hielt eine Erwerbstätigkeit seiner Frau für mit ihren ehelichen Pflichten gar nicht vereinbar, und überhaupt wurden ihre zunächst attraktiven beruflichen Qualifikationen allmählich zum Bumerang im eigenen Heim. Der einfache Winzer entwickelte offenbar zunehmende Unterlegenheitsgefühle, wurde unerträglich eifersüchtig und schloß seine Frau manchmal im Haus ein, bis sie irgendwann buchstäblich bei Nacht und Nebel über die Umfassungsmauer des Anwesens türmte und sich erst eine Zeitlang bei Freunden versteckte, ehe sie schließlich zu ihrer Mutter nach Heidelberg zog.
Geschieden wurde die Ehe nie, aber fortan lebte man getrennt von Tisch und Bett, der (v)erbitterte Ähämann trank seinen Wein lieber anstatt ihn zu verkaufen, und Irrmgard machte sich auf, die Welt zu entdecken.
Auf Mallorca kaufte sie in den Siebzigern ein wertloses Stück Weideland mit einem Ziegenstall darauf, doch aus den vielleicht dahintersteckenden Auswanderungsgedanken wurde nie etwas, weil das Grundstück nicht als Bauland ausgewiesen war und Irrmgard sich bereits auf dem Weg nach Südamerika befand, wo sie glaubte, arme Indios mit ihren Medizinkünsten retten zu können. Der völlig verschrobene Eigensinn dieser selbständigen Frau kam in Bolivien voll zum Ausbruch. Auf eigene Faust “adoptierte” sie sozusagen ein kleines Dorf und startete ihr privates Entwicklungshilfeprojekt. Mehrmals flog sie hin und her, die Taschen voll mit Dingen, die den Menschen dort wirklich oder vermeintlich fehlten, alles abgespart von ihren geringen Geldmitteln, während sie selbst weiterhin ärmlichst in der kleinen und nie renovierten Zweizimmerwohnung ihrer inzwischen verstorbenen Mutter wohnte.
Mit der ihr sehr eigenen Logik kam ihr – sie stand inzwischen selbst in ihren Siebzigern – irgendwann der nächste folgerichtige Gedanke, um die Lage “ihrer” Indios nachhaltig auch über ihre eigene Lebenszeit hinaus zu verbessern: ein Nachfolger als Dorfarzt mußte her. Doch woher nehmen in einer Gegend, in der nach ihren Angaben kaum jemand überhaupt je eine Schule besucht hatte? Unsere “Tante Irrmgard” überredete eine Familie, ihr einen jungen Mann zu überlassen, der immerhin irgendwo sogar eine weiterführende Schule abgeschlossen hatte. Den wollte sie mit nach Deutschland nehmen, um ihn in Heidelberg ordentlich Medizin studieren zu lassen.
Bei der Erledigung der paar Formalitäten stellte Irrmard zu ihrer Überraschung fest, daß die Bundesrepublik anscheinend gar nicht so erpicht darauf war, Habenichtsen aus Entwicklungsländern ohne weiteres Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen und Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Irrmgard war entrüstet, daß man ihrem Gutmenschentum solche bürokratischen Hürden in den Weg stellte. Aber eine Irrmgard findet immer Mittel und Wege. Allen Ernstes verfolgte sie eine Zeitlang den Plan – ihr Mann hatte sich mittlerweile unter die Erde gesoffen –, mit zarten 75 den zwanzigjährigen Bolivianer, um ihm die Einreise zu ermöglichen, zu heiraten.

Auf dem Vollzug der Ehe hätte sie womöglich nicht bestanden, aber auch darüber hinaus brauchte es viele geduldige Gespräche, um ihr die Unhaltbarkeit eines solchen Verhältnisses allein für den armen jungen Mann auch nur halbwegs einsichtig zu machen. Für Irrmgard zählte nur, daß ihm und seinem Dorf ein derartiges Arrangement doch glänzende Zukunftsaussichten eröffnet hätte. Am Ende fand sich der Ausweg, daß sie statt einer fröhlichen Hochzeit in Weiß und mit dem Segen der Kirche für diese Sünde im Fleische lediglich eine Bürgschaft für den jungen Mann übernahm und sich verpflichtete, ihm Studien und Aufenthaltskosten zu finanzieren.
So weit ich weiß, hat der kulturgeschockte Indio ein Viertel- oder ein halbes Jahr mit ihr unter einem Dach in der Zweizimmerwohnung gehaust, bevor er in ein Studentenwohnheim reißaus nahm. Aber das bezahlte Irrmgard dann auch noch; dem Herrn Studiosus wurde dementsprechend von ihr das Taschengeld gekürzt.
Von einem Heimatbesuch nach dem Physikum brachte er seine Verlobte aus Bolivien mit nach Deutschland. Irrmgard kam auch für ihren Unterhalt auf, bis die beiden vor ein paar Jahren glücklich Deutschland und Irrmgard für immer den Rücken kehrten. Der frischgebackene Arzt arbeitete zunächst in einer kleinen Klinik in seiner Heimatprovinz, will aber nach allem, was von dort noch in Erfahrung zu bringen ist, bald eine lukrative Privatpraxis in Bogotá übernehmen, um endlich Kohle zu machen.
Irrmgard, so erzählte sie jetzt auf dem Treffen, hat den ganzen letzten Winter über in ihrer Wohnung nicht die Heizung aufgedreht. Sie muß sparen.
Am liebsten möchte sie auch noch das Gas fürs Kochen einsparen. Und ihr ist da etwas äußerst Praktisches untergekommen. Sobald in diesem “Sommer” doch einmal die Sonne zum Vorschein kommen sollte, wird Irrmgard einen bestimmten Outdoor-Laden ansteuern und dort zwei faltbare Solarmodule für den Campingurlauber käuflich erwerben. Die wird sie auf ihrem kleinen Südbalkon installieren und damit eine kleine Kochplatte betreiben. “Für das Bißchen, das ich esse, reicht das, und ich werde endlich unabhängig von diesen Stadtwerken und den privaten Gasanbietern.”

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Freitag, 24. Mai 2013
Im Regenwald der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze



Junge, Junge, so gründlich ins Wasser gefallen wie in diesem Jahr ist Pfingsten noch selten. Die Freunde in Stade, die ich im Anschluß besuchte, waren hektisch damit beschäftigt, im Hausflur Eimer und Wannen aufzustellen, weil der nicht endende Dauerregen das Grasdach auf dem Vorbau durchgeweicht hatte und es gleich an mehreren Stellen durch Fugen und Ritzen tropfte. Plock, plock, plock, klopfte es wie ein schnelles Metronom in die zunächst leeren Behälter und ging dann mit steigendem Wasserstand in ein etwas weicheres, aber nicht langsameres plopp, plopp über; eine kleine Wassermusik, die mich in den Schlaf begleitete, die Hausherrn aber mehrmals in der Nacht aufstehen und Eimer und Schüsseln leeren ließ.

Dabei ist Pfingsten seit vielen Jahren das fixe Datum unseres erweiterten Familientreffens. Turnusmäßig fand es dieses Jahr wieder in Norddeutschland statt, nur hatte niemand damit rechnen wollen, daß sich auch ein sehr ergiebiges Regentief einfinden und genau über unseren Köpfen dauerhaft installieren würde. Die vor allem für unsere Senioren geplante Kaffeefahrt mit dem Ausflugsdampfer auf der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze fiel deswegen natürlich nicht aus, wurde aber zu einer sehr feuchten Reise durch nässedampfenden Regenwald bei gar nicht tropischen Temperaturen.

Die Senioren focht es am wenigsten an. Tante Irrmgard (man muß sie so schreiben) hockte mit ihren 92 Jahren in signalroter Steppjacke und unter dem GoreTex-Kompotthütchen in den Regen blinzelnd stoisch an Deck.
Die gebietende Macht alter Frauen über die Launen des Wetters ist hinlänglich bekannt, in vielen Sagen und Märchen wird das Wissen um ihre Hexenkünste überliefert. Und so praktizierte auch Tante Irrmgard, die Lippen unveränderlich zum grimassierenden Lächeln einer aufweichenden Moorleiche verzogen und leise mit dem zu lose sitzenden Gebiß klappernd, ihren Wetterzauber. Mit Erfolg. Kurz bevor wir das Ziel unseres Ausflugs erreichten, wurde oben tatsächlich für eine Stunde der Wasserhahn zugedreht. Erste Kanus tauchten unter überhängenden Ästen auf, und Ruderboote kamen zügig um die nächste Flußbiegung gepullt.

Unser Schiff tutete einmal so laut, daß am Ufer ein Eisvogel vor Schreck vom Ast ins Wasser stürzte wie ein pfeilförmiger Tropfen, dann legten wir an den Uferbohlen eines pudelnassen Gartenlokals an und setzten uns zu Tisch, um frischen Spargel oder butterzarte Maischolle aus der Ostsee zu verputzen. Was schert uns denn das norddeutsche Schietwetter?

"Das ist das Schönste im Leben: Waldsäume, ein stillglänzendes Gewässer fern in bescheidener Wieseneinsamkeit."

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Donnerstag, 16. Mai 2013
Chabot-Museum, Rotterdam


Die schönste Blüte unseres Architekturspaziergangs durch Rotterdam neulich war die schöne modernistische Villa, die sich der Rotterdamer Industrielle Kraaijenveld 1938 von den Architekten Gerrit Baas und Leonard Stokla als Privatwohnsitz errichten ließ:
Neue Sachlichkeit in ihrer klarsten und hellsten Formgebung.

Das zweite Stockwerk wurde erst in den Siebziger Jahren der ehemaligen Dachterrasse aufgesetzt, stört aber nicht weiter. 1993 baute man das Haus zum Museum für die Werke des niederländischen Expressionisten Henk Chabot (1894-1949) um, und heute gehört es mit Recht zu den staatlichen Baudenkmälern Rotterdams.
(Nach der blumenblütenbunten Farborgie der letzten Tage tut ein bißchen sachliches Schwarzweiß ganz gut.)

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Sonntag, 12. Mai 2013
Blütenträume
Es ist mal wieder so weit, ich falle auch dieses Jahr wieder
drauf rein. Nach den langen, naßkalten Wintern trifft es mich jedes Jahrs aufs Neue wie eine Überraschung: es gibt
doch ein paar Wochen, in denen es schön ist in Südholland und in s’Gravenhage, besonders in seinen nordwestlichen Stadtteilen zwischen Wassenaar, Clingendael und Belgisch Park. In diesen Frühlingswochen ändern sie von Tag zu Tag rasant fast vollständig ihr Gesicht. Die vielen bis dato kahlen Bäume in den Straßen und Gärten entfalten sich auf einmal wie japanische Fächer, hinter deren grünen Flor die sonst stets und überall vor einem stehenden dunkel rotbraunen Klinkermauern zurücktreten.
In den Vorgärten explodieren Magnolien, Zierkirschen und andere Bäume und Sträucher zu luftigen Flauschbällen oder Kaskaden von Weiß, Zartrosa bis Himbeerrot. Vor ein paar Tagen trat ich morgens aus dem Haus und war erst einmal irritiert, weil der Blick die Straßen entlang irgendwie zugestellt wirkte von grünen Schirmen – und weil ich nicht mehr erst einmal fröstelnd unwillkürlich die Schultern hochzog. Mai, Frühling, eindeutig die schönsten Wochen des Jahres, um sich Den Haag anzusehen.
(Die Fotos hier habe ich alle auf einem einzigen Spaziergang "um den Block" geschossen.)

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