Jahrhundertelang strittiges Grenzland, noch im letzten Krieg heftig umkämpft, dann vierzig Jahre hermetisch geschlossene Grenze; heute schaukelt einen ein Pendolino in dreieinhalb Stunden komfortabel von Petersburg über die Karelische Landenge nach Helsinki. Am Fenster ziehen Seen und Wälder mit wenigen gerodeten Siedlungsinseln vorüber.
Größte Unterbrechung dieses Landschaftsfilms ist das alte Wiborg am Ausfluß des Saimaa-Kanals mit seiner wuchtigen Burg, deren Kern aus dem 13. Jahrhundert stammt. Seit etwa derselben Zeit existierte in Wiborg eine deutsche Kolonie, zunächst von Hansekaufleuten. Im 18. Jahrhundert war Deutsch offizielle Amts- und Schulsprache der Stadt. “In Wiborg sprach man vier Sprachen”, versicherte der aus Wiborg kommende finnlandschwedische Literat Victor Hoving. Als ganz Finnland 1812 russisch wurde, machten Deutsche zwanzig Prozent von Wiborgs Bürgern aus. Mit der Unabhängigkeit Finnlands 1918 wurden sie von russischen Untertanen zu finnischen Staatsbürgern.
Am 20. Juni 1944 eroberte die Rote Armee Wiborg und stieß in einer Großoffensive über die Landenge weiter Richtung Helsinki vor. Obwohl sie zahlenmäßig dreifach unterlegen waren, konnten die finnischen Verbände, geführt von dem schweizerstämmigen General Oesch (in Wiborg geboren), den russischen Angriff in den zwei Wochen anhaltenden Gefechten von Tali-Ihantala noch auf der Landenge zum Stehen bringen. Dieser Abwehrerfolg gilt als die entscheidende Schlacht zur Rettung Finnlands vor einer erneuten russischen Okkupation. Wiborg aber mußte Finnland zusammen mit großen Teilen Kareliens in seinem Separatfrieden mit der Sowjetunion abtreten.
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Es ist unglaublich, wie viele Hochzeitsgesellschaften wir an den paar Tagen in Petersburger Parks und anderen romantischen "posing locations" wie Kriegerdenkmälern, Admiralitätssäulen oder Kriegsschiffankern am Newa-Strand gesehen haben. Daraus läßt sich nur folgern: a) Petersburg ist nach wie vor eine Stadt der Marine, und b) heiraten in Pomp & Pracht & Plüsch muß absolut "in" sein.
Eine kleine Auswahl von Schnappschüssen von Brautpaaren, deren unfreiwilliger Hochzeitsgast ich wurde, möchte ich den FahrtenbuchleserInnen nicht vorenthalten.
Hochzeitskleidfarbe der Saison übrigens, wenn nicht klassisch Weiß: Magenta.
Bei der Ankunft dachten wir gleich auf der ersten Stadterkundung: Heute muß Hochzeitstag in Rußland sein. So viele frisch getraute Paare können kein Zufall sein.
Am nächsten Tag dachten wir: Oh, noch ein Tag der Trauungen.
Am dritten Tag: Hm, same procedure as last day...
Anhäufungen von Brautpaaren scheinen sich nach folgender Regel zu ergeben: Wo der Asiate sich selbst knipst, knipst der Russe seine Braut.
Ich male mir bei einigen aus, wie die Abzüge in mehr als zwanzig Jahren, so kurz vor der Silbernen Hochzeit, auf den Blümchentapeten an den Wohnzimmerwänden oder in der Schrankwand aussehen werden.
Also wenn das nicht allerliebst ist!
Jetzt weiß ich, wenn im krisengebeutelten Westen einmal gar nichts mehr gehen sollte, weil durch weiter zunehmende Überschuldung und Hyperinflation die EU am Ende doch auseinanderbricht, kann ich meine Kamera nehmen und in Petersburg als Hochzeitsfotograf arbeiten. Ein krisenfester Job mit Zukunft.
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Die eine Stunde Bootsfahrt am Vortag, hin und zurück, führte – so viel Pflichtprogramm sollte schon sein – nach Petergof. (Jeder deutsche Gans dürfte wissen, daß im Russischen h wie g gesprochen wird.) Die Fahrt mit einem der pfeilschnellen “Meteor”-Tragflügelboote trägt die Touristen auf den Mündungsarmen der Newa in zu großem Abstand am Alltagsleben von Millionen Petersburgern vorbei. Da hilft auch kein Teleobjektiv. Und daß die alten Hafenkräne zu lustig bunten Kraken umgepinselt wurden, bringt vermutlich nicht wirklich Farbe in das Leben in den Menschensilos.
Der “Meteor” (pf)eilt daran vorbei, die graue Newa hinab, hinaus auf die Kronstädter Bucht, die inzwischen durch einen Damm gegen die so höchst wahrscheinlichen Tsunamis im Finnischen Meerbusen gesichert wurde. Holland scheint in Petersburg noch immer Vorbild zu sein. Ich könnte denen ja Dinge erzählen... Doch vermutlich würden sie darüber nur müde lächeln.
Jetzt aber mit Vollgas ab ins Disneyland Sommermärchenschloß der Zaren!
Und schnell wieder weg. Der “Meteor” turbodieselt zum Glück im Halbstundentakt hin und her.
Das schlichte Backsteinschlößchen Monplaisir, wahrscheinlich zur Erholung nach dem anstrengenden Fußweg von maximal 10 Minuten vom Palast durch den Park gedacht, hätte als Sommerhaus für Familie Romanow eigentlich auch gereicht. Einen schönen Blick aufs Wasser hat man von da ebenfalls. Und zwar unverstellter als den vom Hauptschloß die Pißrinne entlang.
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Zwischen Palästen, Sakralbauten und Sanierungslücken finden sich natürlich auch in Petersburg ganz unaufgeregte Straßenzüge mit völlig unprätentiösem Altbaubestand, kleinen Läden, Restaurants und Cafés, oft in leicht abgesenkten Souterrains. So ist etwa das Viertel südlich des Newskij-Prospekts und der Kazan-Kathedrale abends ganz nett zum Umherschlendern. Dort hat sich eine ganz entspannte junge Alternativszene eingerichtet.
Bestes Beispiel ist das Café Zoom in der Ulitsa Gorokhowaja, ein hell renoviertes Gewölbe mit etlichen gemütlichen Räumen, in denen man nicht nur gut und preiswert essen und trinken kann, es fungiert auch als Buchcafé, in dem Bücher nicht nur verkauft werden, in den Regalen in jedem Raum stehen auch Titel zur Lektüre bereit, es gibt eine Buchtauschvitrine, eine eigene Musikkollektion, Gäste hinterlassen Zeichnungen auf den Papiersets, keineswegs bloß Schulbankkritzeleien (man taste sich auf der Homepage mal zum Archiv der Galerie durch), und abends sind sämtliche Tische mit jungen Leuten besetzt, die dort alle Arten von Brettspielen spielen, bereitgestellt vom Café. Da kann es schon mal vorkommen, daß man auf einen frei werdenden Platz warten muß. Nach zwölf Stunden zu Fuß unterwegs (na gut, zwei Stunden für eine Essenspause und eine Bootsfahrt abzuziehen), nehme ich auch das in Kauf, mir reicht’s mit der Stadterkundung für’s Erste, während meine Duracell-Herzogin immer noch weiterlaufen könnte. Schließlich ist es noch warm draußen, Mitte September, und um 22 Uhr noch T-Shirt-Temperatur. In der Nacht kracht dann ein mächtig donnerndes Gewitter los. Die Mücke im Hotelzimmer gerät in Blutrausch.
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Die strahlende Fassade des hochglanzrenovierten Sankt Petersburg weist noch etliche schwarze Löcher auf, Lücken im perlweiß sandgestrahlten Gebiß der Adelspaläste wie von Karies befallene, marode Zahnstummel.
Daß nicht schlagartig genügend Geld vorhanden war, um die gesamte Stadt zu sanieren, versteht sich von selbst. Interessant ist dann aber doch zu sehen, wofür das vorhandene Geld verwendet wurde und wird, und da ist die Tendenz völlig eindeutig: Äußerlich glanzvoll wiedererstehen soll die abgehobene feudale Pracht des alten, zaristischen Rußland und sonst nichts.
Alles, was an das frühere Leningrad und die siebzig Jahre der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken erinnert, soll nach den offenkundigen Wünschen der Investoren und Geldgeber hingegen verrotten und verfaulen. Eine ganze Epoche der russischen und europäischen Geschichte soll also tunlichst aus dem architektonischen Gedächtnis der Stadt verschwinden.
Sicher gibt es etliche Monstrositäten unter den Bauten aus der Sowjetzeit, aber monströs auf ihre Art sind einige der frisch vergoldeten Kirchen und Kathedralen auch. Nur zwei Ecken von der Isaak-Kathedrale entfernt, die mich frappierend an Sebalds Justizpalast in Brüssel erinnert, steht am Ufer des Moyki-Kanals (noch) eine Art Kafka-Postamt. Beim ersten Anblick denkt man, die Abrißbirne habe schon zwei-, dreimal zugeschlagen, bevor die Arbeiter dann ins Wochenende gingen und nicht wiederkamen. Aber nein, in diesem Gebäude wird noch in mehreren Etagen gearbeitet, auch wenn die immerhin mit titoistischem Donauwasser gewaschene Herzogin meinte, wahrscheinlich würden die Angestellten darin mit dem Stempeln nie erscheinender Ersttagsbriefmarken beschäftigt.
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La notte ci sorride, a noite sorri-nos, natten ler mot oss, the night smiles on us, in ganz Europa kennt man den Ausdruck: die Nacht ist uns gnädig, und er gilt auch für den Prunk von Petersburg. Die Nacht dämpft die Farben, reduziert das Grün und Gelb und Kitschrosa der Palaisfassaden im "Petrine barockstil" auf gelblich angestrahlte Grautöne, das Dekor tritt zurück in den Schatten, Linien klären sich, aus Schwüngen, Bögen, Schnörkeln, Schnecken werden Waagerechte und Senkrechte, und das tut dem Auge des Betrachters gut. Ein gewisses Ebenmaß stellt sich her in einer Stadt, die sonst kein Maß kennt.
Nach Jahren des Mangels herrscht jetzt Übermaß an allem, an Lärm, an Hektik, an Geschäftigkeit, an Бизнес, an Verkehr, an Adelspalästen, an Reichtum und an Armut. In dem Park zwischen der völlig überdimensionierten Isaak-Kathedrale, der ebenso großen Admiralität und der Boris-Jelzin-Bibliothek (er hat bestimmt nie einen Fuß hineingesetzt) sitzt einer von zahllosen Obdachlosen auf einer Bank im Schatten vor dem Licht der grellen Scheinwerfer auf den Dächern. Seine Beine sind dick umwickelt und stecken in schwarzen Müllsäcken. Zuerst dachte ich, gegen die Kühle der Nacht, doch dann sehe ich, daß die schwarzen Stümpfe unten schmal zulaufen, der Mann hat keine Füße. Er hat keine Krücken, keinen Rollstuhl. Er sitzt auf dieser Bank fest. Tag und Nacht. Gestrandet. Wen kümmert’s? Die Nacht ist uns gnädig.
Und die Töchter der Reichen führen nachts ihre Pferde aus. Die haben sogar je vier Beine. Es herrscht Überfluß.
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In den Norden deplaziertes italienisches Opern-Rokoko im Tannengrün russischer Uniformen, überall mit Zarengold betresst und rundum mit Nippesfigürchen gekrönt. – Welcher Scherzkeks ist eigentlich auf den Einfall gekommen, diese verschnörkelte Riesensammelschachtel im Herzen der Stadt ausgerechnet “Eremitage” zu nennen?
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