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Sonntag, 17. Januar 2010
ein Sonntag
Der Schnee ist weg. Beim Frühstück klopfte noch leise Regen der Nacht ans Fenster, am frühen Vormittag hörte er auf, binnen einer halben Stunde zogen die Wolken ab, hellblauer Himmel kam darüber zum Vorschein, die Sonne schraubte sich in lange nicht gesehene Höhen, sämtliche Jogger Den Haags schwärmten aus wie nach einem einzigen Startschuß, und wir schnappten uns die Räder, fuhren hinüber zum Gemeentemuseum, wo die letzte Woche der Cézanne-Picasso-Mondriaan-Ausstellung eingeläutet wurde, - und drehten gleich wieder ab: die Besucherschlange stand schon wieder durch den gesamten langen Vorbau bis hinaus auf die Straße, Busse aus Belgien und sonstwoher parkten in Reihe am Straßenrand, und aus der Straßenbahn schwappte gerade noch eine volle Ladung Besucher. Hoffen wir, daß wir unter der Woche noch eine ruhigere Stunde erwischen können.
Gondelten wir also stattdessen auf den Rädern ein wenig durch Belgisch Park und das Nachbarviertel, genossen das Sonnenlicht, das zwischen den Häusern einfiel, in den Büschen lärmten die Vögel, was das Zeug hielt, und die mittägliche Wärme kletterte bis auf 7 ̊. Fast lag eine Ahnung von Vorfrühling in der Luft. Zumindest für diesen einen Sonn(en)tag.

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Samstag, 16. Januar 2010
«m'pa kapab»
"Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo, lebte, zu Anfange dieses Jahrhunderts, als die Schwarzen die Weißen ermordeten, auf der Pflanzung des Herrn Guillaume von Villeneuve, ein fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango."
(Heinrich von Kleist: Die Verlobung in San Domingo, 1811)

Natürlich hat mich das grauenhafte Erdbeben in Haiti genauso betroffen gemacht wie viele andere, und bestürzt und ebenso hilflos verfolge ich die Berichterstattung über diese Katastrophe allergrößten Ausmaßes. Eine Meldung unter den vielen, die umherschwirren, hat mich noch zusätzlich verwirrt und zunächst ratlos gemacht. Das isländische Fernsehen zitierte gestern den Fotografen Shaul Schwarz vom amerikanischen Magazin Time, an mindestens zwei Stellen hätten wütende Überlebende in Port-au-Prince Barrikaden aus Leichen errichtet, die das Vorankommen von Hilfstrupps in der völlig verwüsteten Stadt noch zusätzlich erschwerten. Deutsche Zeitungen meldeten heute das Gleiche:
Aufgebrachte Überlebende türmten aus Protest gegen die Zustände Hunderte Leichen zu Barrikaden auf.”
Ich frage mich, welche Verzweiflung und selbstzerstörerische Wut sich in den Menschen dort angesammelt haben muß, um in dieser Lage noch selbst die Helfer auf dem Weg zur eigenen Rettung zu behindern. Ebenso habe ich mich gefragt, woher es kommt, daß offenbar viele Haitianer sich vor allem darüber aufregen, daß nicht sofort ausländische Hilfe zur Stelle ist. Derartiges habe ich nicht unter den überlebenden Opfern der Tsunami-Katastrophe in Indonesien gesehen, nicht nach dem Erdbeben im Iran 2003 mit über 40.000 Toten oder an anderen Katastrophenorten, an die ich mich erinnere. Es scheint also ein speziell in haitianischen Köpfen steckendes Denkschema zu sein, das nicht vor allem Selbsthilfe in Aktion setzt, sondern auf Hilfe von außen warten läßt. In der Neuen Zürcher fand ich nun eine Bestätigung dieser Vermutung.
«m'pa kapab», die haitianisch-kreolische Verkürzung von “mois, je ne suis pas capable”, auf Deutsch “ich kann doch nichts dafür”, “ist das kreolische Schlüsselwort, mit dem man zuverlässig Helfer herbeiruft”, schreibt Nicoletta Wagner heute in der NZZ. Selbstverantwortung sei dagegen ein Fremdwort. “Kaum ein anderes Land hat sich so sehr an fremde Hilfe gewöhnt wie Haiti... Das von Diktaturen und Despoten geplagte Land hat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts Milliarden an Hilfsgeldern geschluckt, die in keinem Verhältnis stehen zu den erreichten Fortschritten.”
Ein anscheinend informierter Leser schickte dazu folgenden Kommentar: “Das entscheidende Problem Haitis wird in dem Artikel leider verschwiegen. Die schlimmste Plage und die Hauptursache der Misere ist die Überbevölkerung Haitis, das mit ca. 320 Einwohnern je km extremst überbevölkert ist (Zum Vergleich Niederlande ca. 400). Und das ohne nennenswerte Industrie in einem weitgehend agrarisch geprägten Land. Durch Raubbau kommt es zu einer fortschreitenden Vernichtung von Anbauflächen, was zu einem physischen Untergang des Landes führt. Haiti wird niemals in der Lage sein, diese Bevölkerung durch eigene Landwirtschaft zu ernähren und ist deshalb immer auf Hilfe von aussen angewiesen. Haiti braucht deshalb als Grundlage jeder weiteren Hilfe ein intensives Program zur Geburtenkontrolle. Nur wenn es gelingt, die Bevölkerungszahl auf ein für dieses Land zuträgliches Mass zu reduzieren, haben die Menschen in Haiti eine Chance auf ein halbwegs erträgliches menschenwürdiges Leben.”
Das klingt höchst plausibel. Andernorts ist dann noch zu erfahren, daß die nicht weniger als 4 Wirbelstürme, die Haiti allein im Jahr 2008 überzogen, mehr als 70% der ohnehin überstrapazierten Ackerfläche verwüsteten. Die britische Historikerin Alex von Tunzelmann, die gerade an einem Buch über Haiti arbeitet, ist allerdings überzeugt, daß Haitis Misere nicht erst der Bevölkerungsexplosion der letzten Jahrzehnte geschuldet sei. Das Land habe heute 9 Millionen Einwohner. In den 1950er Jahren habe es lediglich ein Drittel davon gehabt und schon damals als hoffnungslos überbevölkert gegolten. Wie meist, wenn sich ein bestimmtes Denken in den Köpfen einer ganzen Bevölkerung festgesetzt hat, liegen Anfänge und Ursachen geraume Weile zurück. “What has really left Haiti in such a state today, what makes the country a constant and heart-rending site of recurring catastrophe, is its history”, heißt es in einem Artikel im Guardian, den ich für den erhellendsten Hintergrundbericht zur katastrophalen Lage Haitis halte, der mir im ganzen aktuellen Presserummel um das Land bisher untergekommen ist. Sehr zur Lektüre empfohlen:

Haiti: a long descent to hell

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Samstag, 16. Januar 2010
Ein Jahrtausendereignis
Na ja, hier war leider nichts davon zu sehen, aber das dritte Jahrtausend hat nicht mal 1 Prozent seiner Lebenszeit hinter sich und schon ein Ereignis, das sich in seiner Ägide nicht mehr wiederholen wird: Für etwa zehn Minuten schob sich heute der Mond vor die Sonne und verursachte so die einzige ringförmige oder Strahlenkranz-Sonnenfinsternis dieses Jahrtausends. Die nächste soll sich nach Angaben der NASA im Jahr 3043 ereignen. Die werden wir also todsicher auch nicht erleben.
Das passende Gedicht des Tages kommt heute von Peter Rühmkorf (gestorben im Sommer 2008) und richtet sich An den Tod
Fort - fort,
dies kann die Welt noch nicht gewesen
und bumms zu Ende sein.
All diese Bücher wolln ja noch gelesen
und diese Hosen aufgetragen sein.

(aus: Paradiesvogelschiß, 2008)

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Samstag, 9. Januar 2010
"Es hätte mich um den besten Reiz dieser Gesellschaft gebracht."
Während es draußen endlich einmal richtig wintert, sollte ich die erzwungene Muße im Haus nutzen, um zu Ende zu bringen, was ich im letzten Jahr begonnen habe: die Erzählung von Friedrich Schillers Vorliebe für Dreiecksbeziehungen. Ebenfalls bis zu einem Winter, genauer dem Februar 1788, war ich bisher gekommen. Da hatten die verwitwete Juliane von Lengefeld, 44 Jahre alt, und ihre ältere Tochter Caroline, 24 Jahre alt und so unglücklich verheiratet, daß sie in Gegenwart ihres Mannes oder bei sonstiger Aufregung stets ein nervöses Zucken im Gesicht befiel, beschlossen, die drei Jahre jüngere Schwester Charlotte solle endlich ihre unglückliche Liebe zu einem nach Indien abkommandierten englischen Offizier vergessen und sich auf dem Weimarer Heiratsmarkt präsentieren. Auf einem dazu wie gerufen kommenden Maskenball lief sie dem bekannten und ebenfalls auf eine Heirat erpichten 29-jährigen Friedrich Schiller in die Visierlinie.
“Uebrigens bin ich noch ganz frei und das ganze Weibergeschlecht steht mir offen; aber ich wünschte bestimmt zu seyn. – Uebrigens wiederhole ich Dir noch einmal, halte mich nicht im geringsten für gefesselt, aber fest entschlossen, es zu werden”, hatte Schiller erst einen Monat vorher an seinen vertrauten Freund Körner geschrieben. Dann kam der Faschingsball Anfang Februar, auf dem Schiller durch die Aufführung seines Huldigungsgedichts an die Herzoginnen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, und er und das junge Fräulein v. Lengefeld erneuerten ihre Bekanntschaft. Dabei stellte er sich anfangs etwa ebenso geschickt an wie in seinen lobhudelnden Reimereien: “... hoffe ich Sie auch zu überzeugen, wie wenig meine bisherige seltene Erscheinung bei Ihnen der Unfähigkeit zuzuschreiben war, den Wert Ihres Umgangs zu empfinden”, heißt es in einem Billet, das er ihr nach zwei Wochen zustellen ließ. Sie wird ob dieser Leidenschaftlichkeit einer Ohnmacht nahe aufs Sofa gesunken sein.
Doch Charlotte war anscheinend eine schwärmerische Seele. Ehe sie nach Rudolstadt zurückkehrte, bat sie Schiller, ihr zum Abschied ein paar Zeilen in ihr Poesiealbum zu schreiben, und er dichtete: Ein blühend Kind, von Grazien und Scherzen / Umhüpft - so, Freundin, spielt um dich die Welt, / Doch so, wie sie sich malt in deinem Herzen, / In deiner schönen Seele Spiegel fällt, / So ist sie nicht. Punkt.

Zurück in Rudolstadt mußte Charlotte offenbar genauestens berichten. Nach zwei Wochen schrieb Schwester Caroline an ihren Cousin Wilhelm von Wolzogen: “Wir sind noch nicht mit Erzählen fertig, das denkst du wohl”. Sie scheint großen Anteil am Umgang ihrer Schwester genommen zu haben, und die Damen beschlossen, Herrn Schiller, obgleich nicht von Stand, für den Sommer in schickliche Nähe von Rudolstadt einzuladen, und mieteten gleich ein Zimmer für ihn im nahen Volkstedt an der Saale.
Es sprach sich natürlich sofort herum, bis nach Sachsen, doch Schiller stritt erst einmal ab, daß an der Sache etwas Ernsthaftes sei: “Du thust, als ob Du wüßtest, ich habe hier eine ernsthafte Geschichte, zu der ich Euch nach und nach vorbereiten wolle, und Du sagst, Du hättest es aus einer guten Quelle”, schrieb er Körner und vermutete wohl seine (Ex-?)Geliebte von Kalb dahinter. “Glaube mir, Deine Quelle ist schlecht, und ich bin von etwas wirklichem dieser Art so weit entfernt, als nur jemals in Dresden”, beruhigte er und lenkte den Verdacht bewußt in die falsche Richtung: “Die Wielandsche Tochter ist so gut als versprochen; ich habs von dem Vater selbst”. An den stillen Rivalen von Wolzogen schrieb er indes zur gleichen Zeit maliziös: “Fräulein von Lengenfeld ist noch hier und in der That meine liebste Gesellschaft.”
Am 6. April reiste das edle Fräulein ab, und Schiller schickte ihr einen Abschiedsbrief.
“Sie werden gehen, liebstes Fräulein, und ich fühle, daß Sie mir den besten Theil meiner jezigen Freuden mit sich hinwegnehmen... ich fühle selbst recht gut, wie zusammengebunden und zerknickt ich oft gewesen bin. Viel mehr bin ich nun wohl nicht, aber doch um etwas Weniges besser, als ich während der kurzen Zeit unsrer Bekanntschaft und bei den Außendingen, die uns umgaben, in Ihren Augen habe erscheinen können. Eine schönere Sonne, hoffe ich, wird etwas Besseres aus mir machen, und der Wunsch, Ihnen etwas seyn zu können, wird dabei einen sehr großen Antheil haben. Auch in Ihrer Seele werde ich einmal lesen, und ich freue mich im Voraus, bestes Fräulein, auf die schönen Entdeckungen, die ich darin machen werde. Vielleicht finde ich, daß wir in manchen Stücken mit einander sympathisiren, und das soll mir eine unendlich werthe Entdeckung seyn. - Sehen will ich Sie vor Ihrer Abreise nicht mehr. – Abschiede, auch auf kurze Zeit, sind etwas so Trauriges für mich.”
In seinem ersten Brief nach Rudolstadt nur fünf Tage später klopfte Schiller aber sehr wohl in puncto Ernsthaftigkeit auf den Lengefeldschen Busch:
“Die Einsamkeit macht jetzt meine Glückseligkeit aus, weil Sie mich mit Ihnen zusammenbringt und mich ungestört bei dem Andenken der vergangenen Freuden und der Hoffnung auf die noch kommenden verweilen läßt. Was für schöne Träume bilde ich mir für diesen Sommer, die Sie alle wahr machen können. Aber ob Sie es auch wollen werden? Es beunruhigt mich oft, mein theuerstes Fräulein, wenn ich daran denke, daß das, was jezt meine höchste Glückseligkeit ausmacht, Ihnen vielleicht nur ein vorüber gehendes Vergnügen gab; und doch ist es so wesentlich für mich, zu wissen, ob Sie Ihr eignes Werk nicht bereuen, ob Sie das, was Sie mir in so kurzer Zeit geworden sind, nicht lieber zurücknehmen möchten, ob es Ihnen angenehm oder gleichgültig ist. Könnte ich hoffen, daß von der Glückseligkeit Ihres Lebens ein kleiner Antheil auf meine Rechnung käme, wie gern entsagte ich manchen Entwürfen für die Zukunft, um des Vergnügens willen, Ihnen näher zu seyn! Wie wenig sollte es mir kosten, den Bezirk, den Sie bewohnen, für meine Welt anzunehmen! Sie haben mir selbst einmal gesagt, daß eine ländliche Einsamkeit im Genuß der Freundschaft und schöner Natur Ihre Wünsche ausfüllen könnte. Hier wäre schon eine sehr wesentliche Uebereinstimmung zwischen uns. Ich kenne kein höheres Glück. Mein Ideal von Lebensgenuß kann sich mit keinem andern vertragen.”
Was für ein Spiel aber spielte Schiller gegenüber seinem besten Freund?
“Volkstädt bei Rudolstadt, 26. Mai 1788.
Seit acht Tagen bin ich nun hier in einer sehr angenehmen Gegend, eine kleine halbe Stunde von der Stadt, und in einer sehr bequemen heitern und reinlichen Wohnung... Das Dorf liegt in einem schmalen aber lieblichen Thale, das die Saale durchfließt, zwischen sanft ansteigenden Bergen. Von diesen habe ich eine sehr reizende Aussicht auf die Stadt... In der Stadt selbst habe ich an der Lengefeldschen und Beulwitzschen Familie eine sehr angenehme Bekanntschaft, und bis jetzt noch die einzige, wie sie es vielleicht auch bleiben wird. Doch werde ich eine sehr nahe Anhänglichkeit an dieses Haus, und eine ausschließende an irgend eine einzelne Person aus demselben, sehr ernstlich zu vermeiden suchen. Es hätte mir etwas der Art begegnen können, wenn ich mich mir selbst ganz hätte überlassen wollen. Aber jetzt wäre es gerade der schlimmste Zeitpunkt, wenn ich das bischen Ordnung, das ich mit Mühe in meinen Kopf, mein Herz und in meine Geschäfte gebracht habe, durch eine solche Distraction wieder über den Haufen werfen wollte.”
Denn arbeiten wollte er den Sommer über auf dem Lande und listete dem Freund eine ganze Latte von Projekten auf. Am gleichen Tag aber schrieb er den beiden Schwestern v. Lengefeld: “Ich hoffe, daß Ihnen allen die gestrige Partie so gut bekommen sey, wie mir. Es war ein gar lieblicher, vertraulicher Abend, der mir für diesen Sommer die schönsten Hoffnungen gibt. Mehr solche Abende und in so lieber Gesellschaft – mehr verlange ich nicht.”
Und es ergaben sich etliche “solche Abende” im Laufe dieses Sommers.
“In unserm Hause begann für Schiller ein neues Leben”, schrieb Caroline später in ihrer Schiller-Biographie rückblickend. “Lange hatte er den Reiz eines freien freundschaftlichen Umgangs entbehrt; uns fand er immer empfänglich für die Gedanken, die eben seine Seele erfüllten. Er wollte auf uns wirken, uns von Poesie, Kunst und philosophischen Ansichten das mitteilen, was uns frommen könnte, und dies Bestreben gab ihm selbst eine milde harmonische Gemütsstimmung. Sein Gespräch floss über in heitrer Laune; sie erzeugte witzige Einfälle, und wenn oft störende Gestalten unsern kleinen Kreis beengten, so ließ ihre Entfernung uns das Vergnügen des reinen Zusammenklangs unter uns nur noch lebhafter empfinden. Wie wohl war es uns, wenn wir nach einer langweiligen Kaffeevisite unserm genialen Freunde unter den schönen Bäumen des Saaleufers entgegengehen konnten! Ein Waldbach, der sich in die Saale ergießt und über den eine schmale Brücke führt, war das Ziel, wo wir ihn erwarteten. Wenn wir ihn im Schimmer der Abendröte auf uns zukommen erblickten, dann erschloss sich ein heiteres ideales Leben unserm innern Sinne.”
“Punkt sechs Uhr hoffe ich am Wasser zu seyn”, verabredete sich Schiller schon für den übernächsten Tag wieder. Aber der Maiabend in dem feuchten Bachgrund war wohl etwas zu kühl für die stets labile Gesundheit des Dichters, und er zog sich das zu, was meine Mutter in meinen Pubertätsjahren schadenfroh einen “Haustürenkatarrh” nannte. “Glauben Sie mir meine theuersten, dass auch mir der Gedanke, Sie so nahe zu wissen ohne unter Ihnen seyn zu können, unleidlich war”, meldete er am 4. Juni nach Rudolstadt und sprach Charlotte und ihre verheiratete Schwester gleichermaßen an. “Als die ältere Tochter, die das Haus seit meiner Verheiratung mit Herrn von Beulwitz führte, leitete ich auch gewöhnlich die Unterhaltung”, erläuterte sie später in der Biographie. “Selten war es mir so wohl geworden, mich so ganz über alles aussprechen zu können.”
Nach dem Abklingen seines Schnupfens war es auch Schiller wieder sauwohl. Selbst Körner gegenüber wollte er es nicht ganz verhehlen, schützte allerdings gleich wieder Arbeit vor. “Meine Existenz ist hier gar angenehm. Hätte ich weniger zu thun, ich könnte glücklich seyn; doch fühle ich meinen Genius wieder, und mein Menschenfeind, glaub ich, wird gut”, teilte er ihm Anfang Juli mit. Gegen Ende des Monats schenkte er dem Freund allmählich reineren Wein ein:
”Ich habe mich hier noch immer ganz vortreflich wohl. Nur entwischt mir manches schöne Stündchen in dieser anziehenden Gesellschaft, das ich eigentlich vor dem Schreibtisch zubringen sollte. Wir sind einander hier nothwendig geworden und keine Freude wird mehr allein genoßen. Die Trennung von diesem Hause wird mir sehr schwer seyn, und vielleicht desto schwerer, weil ich durch keine leidenschaftliche Heftigkeit sondern durch eine ruhige Anhänglichkeit die sich nach und nach so gemacht hat, daran gehalten werde. Mutter und Töchter sind mir gleich lieb und werth geworden und ich bin es ihnen auch. Es war echt gut gethan, dass ich mich gleich auf einen vernünftigen Fuß gesetzt habe, und einem ausschließenden Verhältniß so glücklich ausgewichen bin. Es hätte mich um den besten Reiz dieser Gesellschaft gebracht. Beide Schwestern haben etwas Schwärmerei, was Deine Weiber nicht haben, doch ist sie bei beiden dem Verstande subordiniret und durch Geistescultur gemildert. Die jüngere ist nicht ganz frey von einer gewissen Coquetterie d’esprit, die aber durch Bescheidenheit und immer gleiche Lebhaftigkeit mehr Vergnügen gibt als drückt.”
Auch wenn man Schillers brieflichen Äußerungen offensichtlich nicht immer trauen kann, schreibt er hier doch Aufschlußreiches: Er ist - vernünftigerweise, wie er sagt - “einem ausschließenden Verhältniß ausgewichen”, d.h. er hat es vermieden sich festzulegen, und kann damit ja nur die beiden Schwestern meinen. Nachdem er sich im Winter in Weimar an die Jüngere, an Charlotte, herangepirscht und ihr anschließend in Briefen “ernsthaft” den Hof gemacht hatte, ging er im Sommer in Rudolstadt mit beiden Schwestern gleichermaßen um (obwohl die ältere längst verheiratet war) und genoß es. Schiller spielte wieder einmal eines seiner Dreiecksspielchen.

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Mittwoch, 6. Januar 2010
1 Mann stellt sich quer
Bekannt ist, daß Island in der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise vor allem durch irrsinnige bis kriminelle Machenschaften einiger seiner international operierenden Investoren und Bankiers wirtschaftlich beinahe zusammengebrochen ist und seine Steuerzahler nun Schulden in Höhe von 850% des BIP abzutragen haben. Bekannt ist weiterhin, daß die isländische Regierung, um einen akuten Staatsbankrott abzuwehren, erst einmal um Kredite des Weltwährungsfonds und der befreundeten nordischen Länder bitten mußte, und daß sie überzeugt war, eine Konsolidierung der eigenen Wirtschaft längerfristig nur durch einen Beitritt zur EU erreichen zu können. Bekannt ist auch, daß vor allem Großbritannien und die Niederlande ihre Zustimmung zu einem Beitrittsgesuch Islands davon abhängig machten, daß die Isländer, zusätzlich zu den bereits aufgelaufenen Schulden, auch die mit dem Bankrott ihrer Banken verloren gegangenen Einlagen ausländischer Anleger zurückzahlen. Im gerade abgelaufenen Jahr hat die isländische Regierung mit 33 gegen 30 Stimmen und gegen den Willen breiter Teile der Bevölkerung Gesetze beschlossen, in denen die Rückzahlungen der sogenannten Icesave-Gelder garantiert werden sollten.
Heute nun hat der isländische Staatspräsident Ólafur Ragnar Grímsson überraschend sein Veto gegen diese Gesetze eingelegt. Es ist überhaupt erst das zweite Mal in der Geschichte des Landes, daß der Präsident von seinem Vetorecht Gebrauch macht.
Am letzten Tag des Jahres war ihm eine von 40.000 Bürgern, das sind 25% aller Wahlberechtigten in Island, unterzeichnete Petition gegen die Icesave-Gesetze überreicht worden. Heute verweigerte Ólafur Ragnar seine Unterschrift unter die Gesetzesvorlage. Er tat dies mit dem Hinweis auf den Grundsatz der isländischen Verfassung, dem zufolge das Volk der Souverän und oberste Richter über die Geltung von Gesetzen sei. Seine Weigerung bedeutet nämlich, daß die Regierung den Gesetzesvorschlag nun zurückziehen oder dem Volk in einer Volksabstimmung zur Entscheidung vorlegen muß.
Laut Umfragen sollen bis zu 70% der Isländer dagegen sein, daß sie zusätzlich zu den ihnen und ihren Kindeskindern bereits aufgebürdeten Schulden auch noch die vom isländischen Volk nicht verursachten Verluste ausländischer Anleger erstatten sollen. Für die ohnehin unter ihren Schulden keuchende kleine Nation geht es dabei um große Beträge: Holland fordert Rückzahlungen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro, Großbritannien sogar fast das Doppelte, 2,5 Milliarden.
Wie Holländer und Briten auf sein Veto voraussichtlich reagieren würden, hat der isländische Präsident natürlich vorhergesehen. Deswegen fügte er am Ende seiner Erklärung hinzu, Großbritannien und die Niederlande gehörten zu den ältesten Demokratien Europas; deshalb sollten sie auch “tiefen Respekt für das demokratische Recht des isländischen Volkes empfinden”.
Ganz so tief scheint der Respekt zumindest des niederländischen Finanzministers Wouter Bos nicht zu reichen. In einer ersten öffentlichen Reaktion im holländischen Fernsehen sagte er: “Wir werden die Isländer so oder so wissen lassen, daß wir unser Geld zurückwollen, und wir werden es auch kriegen.”
Der britische Finanzminister Alistair Darling hatte schon im Vorfeld eine Warnung Richtung Island abgefeuert: Ein Scheitern der Gesetze würde “things a lot more difficult” machen. Aber von den Briten haben sich die Isländer noch nie gern kujonieren lassen, und vielleicht hat Darlings Schuß vor den Bug Ólafur Ragnar erst richtig den Kamm schwellen lassen. Jedenfalls dürfte der Ton zwischen allen Beteiligten erst einmal schärfer werden. Der britische Daily Telegraph zitiert in seiner heutigen Online-Ausgabe jedenfalls einen Analysten der Danske Bank: "The British and Dutch governments will do anything they can to hold the payout from the IMF". Mit anderen Worten, sie werden den Isländern jetzt erst einmal finanziell Daumenschrauben anlegen.
Oder wie es Jeremy Warner, der Leitartikler des Telegraph formulierte: "They are definitely not going to be allowed into the European Union now. In fact they will be lucky if we don’t set the gunboats on them. - Pay up Mr Grimmson (Iceland’s president), or the cod gets it."

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Freitag, 1. Januar 2010
Nieuwjaarsduik

Weihnachtsmänner, zusammengetrieben vor Rücktransport zum Nordpol?


Winterlemminge vor dem Massenexodus?


Nein, wohl doch mit Robben eingekreuzte Hominiden. Zur Erinnerung: Zeitpunkt: heute, 1. Januar 2010. Ort: Nordseeküste bei Scheveningen, NL, 52̊ nördlicher Breite.


Und dann sind sie auf einmal nicht mehr zu retten.


Und stürzen sich ins eiskalte Wasser.



Während die ersten schon wieder an die viel kältere Luft zurückkehren,


... suchen andere noch nach dem erfrischenden Naß. Immer mit passender Kopfbedeckung, versteht sich.

Nach einem veritablen und lang andauernden Feuerwerk über der ganzen Stadt zum Jahreswechsel fiel genau 12 Stunden später der Startschuß zur endgültigen Vertreibung des Silvesterkaters, und etliche Tausend Wahnsinnige stürzten sich, vor allem mit roten Plümmelmützen bekleidet, ins 7° warme Nordseewasser, dank des Windes bei gefühlten -4° Außentemperatur. Das war ein Fest nach dem Geschmack der Holländer: rauh, laut und als Massenveranstaltung zelebriert - echt prettig! Die Tradition wurde in Holland in den Sechziger Jahren von ein paar ehemaligen Kanalschwimmern begründet. Nach Angaben des Veranstalters nahmen heute allein in Scheveningen mehr als 8500 Menschen an dem Spektakel teil. Ihr Fahrtenbuchschreiber, der Kälte nicht achtend, mitten unter ihnen.

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Donnerstag, 31. Dezember 2009
Ein Blick vor, zwölf zurück
Der letzte Tag des Jahres. Beim fälligen Blick zurück erweist sich 2009 als sehr ordentliches Reisejahr. Geliebte alte und interessante neue Ziele konnten angesteuert werden und viele neue Eindrücke vermitteln. Die Welt ist wieder um einige Puzzlestücke bekannter geworden.
Wer weiß, wie lange (mir) das noch möglich ist. Einerseits werden spannende Weltgegenden immer unsicherer, andererseits nimmt der Kontroll- und Überwachungswahn ständig zu. Schon bald werde ich mich an Flughäfen biometrisch vermessen lassen und vor einem Nacktscanner bis auf die Haut ausziehen müssen, und in den Niederlanden werden sie bald in jedes Auto eine GPS-Box zur permanenten Standort- und Bewegungskontrolle montieren. Breiter Widerstand gegen den immer umfassenderen Ausbau des Überwachungsstaats regt sich nirgends. Seine Verweigerung kann man irgendwann nur noch als Einzelner versuchen, indem man sich (ohne Handy) allein zu Fuß fortbewegt, die Stecker zieht und sich Mühe gibt, fortan möglichst keine weiteren Datenspuren mehr zu hinterlassen. Was aber im Zeitalter der globalen Kommunikationsmöglichkeiten paradoxerweise gleichbedeutend wäre mit weitgehendem Verzicht auf Kommunikation.
Noch bin ich nicht so weit. Das Fahrtenbuch scheint seine Bestimmung noch zu erfüllen (die meistgelesenen Einträge betreffen Maskat/Oman und Neuseeland) und geht ins nächste Jahr. Sein Schreiber wünscht allen, daß es ein gutes und gesundes werde. Und wehrt Euch gegen die Einschränkung unserer Freiheitsrechte!



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