... newer stories
Donnerstag, 29. Oktober 2009
Wir haben gewählt. Zur gestrigen Re-inthronisierung.
Es müßte ja eigentlich mindestens peinlich sein, an solche Tatsachen erinnert zu werden, aber ich glaube, der Frau ist in ihrer vermeintlichen Machtvollkommenheit gar nichts mehr peinlich.
Für die, die ein ähnlich verläßliches Gedächtnis haben wie unser neuer Bundesfinanzminister, hier eine Zusammenfassung der schmierigen Ereignisse von damals:
Wie verhindern die jetzt eigentlich den öffentlichen Prozeß gegen Waffenschieber Schreiber? Der gut mögliche und von der Augsburger Staatsanwaltschaft wohl auch angestrebte Prozeßbeginn vor der Wahl wurde ja schon vereitelt. Am 6. Oktober meldeten nun verschiedene Medien, Schreiber sei ein neuer Haftbefehl eröffnet worden. "Darin seien die Vorwürfe der Bestechung und Beihilfe zur Untreue nicht mehr enthalten", hieß es z.B. in der Sächsischen Zeitung.
"'Wir gehen davon aus, dass die Bestechungsvorwürfe verjährt sein könnten', sagte Gerichtssprecher Karl-Heinz Haeusler. Auch der Tatbestand der Beihilfe zur Untreue darf in Deutschland nicht gerichtlich verfolgt werden, da er im kanadischen Auslieferungsbescheid nicht enthalten war", erläuterte Spiegel online. Heißt das womöglich, daß Schreiber zur Schmiergeldaffäre der CDU gar nicht vernommen wird? Weil wir "davon ausgehen", daß etwas "sein könnte"? Ich fürchte allmählich, uns steht ein neues glorreiches Kapitel in der Geschichte der Bananenrepublik D'land bevor.
Für die, die ein ähnlich verläßliches Gedächtnis haben wie unser neuer Bundesfinanzminister, hier eine Zusammenfassung der schmierigen Ereignisse von damals:
Wie verhindern die jetzt eigentlich den öffentlichen Prozeß gegen Waffenschieber Schreiber? Der gut mögliche und von der Augsburger Staatsanwaltschaft wohl auch angestrebte Prozeßbeginn vor der Wahl wurde ja schon vereitelt. Am 6. Oktober meldeten nun verschiedene Medien, Schreiber sei ein neuer Haftbefehl eröffnet worden. "Darin seien die Vorwürfe der Bestechung und Beihilfe zur Untreue nicht mehr enthalten", hieß es z.B. in der Sächsischen Zeitung.
"'Wir gehen davon aus, dass die Bestechungsvorwürfe verjährt sein könnten', sagte Gerichtssprecher Karl-Heinz Haeusler. Auch der Tatbestand der Beihilfe zur Untreue darf in Deutschland nicht gerichtlich verfolgt werden, da er im kanadischen Auslieferungsbescheid nicht enthalten war", erläuterte Spiegel online. Heißt das womöglich, daß Schreiber zur Schmiergeldaffäre der CDU gar nicht vernommen wird? Weil wir "davon ausgehen", daß etwas "sein könnte"? Ich fürchte allmählich, uns steht ein neues glorreiches Kapitel in der Geschichte der Bananenrepublik D'land bevor.
... link (0 Kommentare) ... comment
Mittwoch, 28. Oktober 2009
Meinetwegen als Kommentar auf McDonald's isländischen Schwanengesang, aber eigentlich auch bloß aus einem Anflug herbstlicher Nostalgie:
Du meine Güte, Dylan & Grateful Dead! 7. Dezember 1987, Westcoast, und Bob Weir in kurzen Höschen.
Und unsereins? Fror sich zur gleichen Zeit im Südniedersächsischen den A... ab und las (damaligen Aufzeichnungen zufolge) angesichts postmoderner Stadtansichten noch mal Benjamins Bemerkungen zum barocken Trauerspiel:
"Auch zeitgenössischer Kunst ist es wieder, wie barocker Dichtung, gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen. Was die Geschichte hinterlassen hat, sind ihr Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen ist: Ruine."
Du meine Güte, Dylan & Grateful Dead! 7. Dezember 1987, Westcoast, und Bob Weir in kurzen Höschen.
Und unsereins? Fror sich zur gleichen Zeit im Südniedersächsischen den A... ab und las (damaligen Aufzeichnungen zufolge) angesichts postmoderner Stadtansichten noch mal Benjamins Bemerkungen zum barocken Trauerspiel:
"Auch zeitgenössischer Kunst ist es wieder, wie barocker Dichtung, gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen. Was die Geschichte hinterlassen hat, sind ihr Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen ist: Ruine."
... link (0 Kommentare) ... comment
Dienstag, 27. Oktober 2009
Schwerer Rückschlag bei Globalisierung
Die "Welt" meldet es, "Der Spiegel" meldet es und sein Konkurrent "Focus", die "Tagesschau" meldet es: Die im Zug der Globalisierung der Wirtschaft weit fortgeschrittene McDonaldisierung unseres Planeten erleidet zum Monatsende einen herben Rückschlag. Ein ganzes Land wird auf einen Schlag von der Standortkarte des weltgrößten Fast-Food-Unternehmens verschwinden. Am Wochenende wird die Neonbeleuchtung in den goldgelben Double Arches aller drei McDonald's-Filialen in Island für (hoffentlich) immer erlöschen.
Die Finanzkrise hat Island im letzten Jahr schwer gebeutelt, jetzt auch noch das. Es sei unfaßbar, wieviel er inzwischen allein für ein Kilo Import-Zwiebeln aus Deutschland zahlen müsse, wird der Geschäftsführer von McDonald's Iceland, Magnús Ögmundsson, in der Presse zitiert. Als ob in Island keine Zwiebeln wüchsen! McDonald's hat den isländischen Franchisepartnern aber zwingend vorgeschrieben, jedes Produkt vom Fleisch (?) über den Käse bis zum Verpackungsmaterial aus Deutschland zu importieren. Und durch den rasanten Verfall der isländischen Krone ist genau das für die isländischen Lizenznehmer inzwischen unbezahlbar geworden.
Island, das dritte Land, das nach Iran und Bolivien wieder McDonalds-frei wird. Beim nächsten Besuch nur noch Hamburger aus dem saftigen einheimischen Lammfleisch! Ich liebe es.
Die Finanzkrise hat Island im letzten Jahr schwer gebeutelt, jetzt auch noch das. Es sei unfaßbar, wieviel er inzwischen allein für ein Kilo Import-Zwiebeln aus Deutschland zahlen müsse, wird der Geschäftsführer von McDonald's Iceland, Magnús Ögmundsson, in der Presse zitiert. Als ob in Island keine Zwiebeln wüchsen! McDonald's hat den isländischen Franchisepartnern aber zwingend vorgeschrieben, jedes Produkt vom Fleisch (?) über den Käse bis zum Verpackungsmaterial aus Deutschland zu importieren. Und durch den rasanten Verfall der isländischen Krone ist genau das für die isländischen Lizenznehmer inzwischen unbezahlbar geworden.
Island, das dritte Land, das nach Iran und Bolivien wieder McDonalds-frei wird. Beim nächsten Besuch nur noch Hamburger aus dem saftigen einheimischen Lammfleisch! Ich liebe es.
... link (2 Kommentare) ... comment
Sonntag, 25. Oktober 2009
Aibofolket oder die Küstenschweden in Estland
Von Eile also keine Spur in Haapsalu (nicht mal H0). Stillgelegt die Eisenbahn und so manches andere. Still auch das Wetter, kein Lüftchen regt sich, das Meer in der seichten Bucht spiegelglatt unbewegt. An der Promenade wird ein wenig gebaggert für die Zukunft. Vielleicht hat ein Investor Geld für eine Marina vorgeschossen. Wenn die Bucht nicht zu schnell weiter verlandet, rentiert es sich vielleicht in einigen Jahren. Da draußen im Väinameri und in den Sunden zwischen den Inseln Vormsi und Hiiuma liegt bestimmt ein schönes Segelrevier. Vormsi ist schon ein putziger Name, wie so viele estnische Wörter, wenn man sie geschrieben sieht, wie z.B. Entsüklopeedi oder das hier:
Bei Vormsi habe ich mir erst nichts weiter gedacht. Bis ich eine Karte der Insel sah. Und feststellte, daß die weit überwiegende Mehrzahl der Ortsnamen rein schwedisch klingt: Norrby, Söderby, Fällarna, Kärrslätt... Was war denn da los? Und der Name der Insel selbst? Eine ähnliche Verballhornung wie bei Eysýsla > Ösel? Dann war das -i wohl ursprünglich ein -ö, -ey und bedeutete Insel. Und die erste Silbe ging auf schwed. orm, altnordisch ormr, Wurm, Schlange zurück, also Vormsi = Schlangeninsel.
Inzwischen hatten wir den offiziellen Teil der Promenade mit Kursaal und einigen Spa-Hotels hinter uns gelassen, und niedrige, kleine Holzhäuschen bestimmten das Bild. Manche in einfacher Blockhausmanier aus massiven Balken gebaut, aber die Ecken mit sauber gefugten Schwalbenschwanzzinken verbunden; solide Handwerksarbeit. Bei einigen hatte es für Farbe nicht mehr gereicht, andere waren vielfach gestrichen worden, gern in bunten Kontrastfarben: rote Wände, minzgrüne Fensterrahmen. Es war nicht gerade die Vorzeigeecke eines Seebades, dessen Stadträte es sicher gern wieder mondän sähen wie zu den Zeiten, in denen Herr und Frau Zar samt Hofstaat hier kurten. In der geöffneten Tür eines Anbaus, der mehr einem Verschlag glich, sahen wir eine gebeugte alte Frau in mehreren geflickten Pullovern und Strickjacken unter ihrer geblümten Kittelschürze. Das Gesicht unter ihrem Kopftuch war größtenteils bandagiert wie bei Aussätzigen, mit der einen rheumatisch knotigen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, in der anderen hielt sie einen Stock am falschen Ende und fischte mit dem Griffende nach der Tür. Offenbar war sie nicht nur sehr arm, sondern auch blind. Nein, in dieser Ecke kamen keine Gelder aus EU-Struktur- und -entwicklungsfonds an.
Ein etwas größeres Holzhaus oder eher ein Konglomerat mehrerer kleiner, sauber im Ochsenblutrot aus dem schwedischen Kupferbergbau gestrichen, trug ein handgemaltes Schild über dem Eingang: Rannarootsi muuseum. Ruotsi ist doch die finnische Bezeichnung für Schweden. Und Ranna bedeutet Strand, Ufer, Küste, hatte ich im Pärnuer Strandcafé Rannakohvik gelernt.
Drinnen außer uns kein Mensch. Doch, eine ältere Frau in einer einfachen blauen Leinentunika mit einer Bernsteinkette um den Hals saß auf einem Stuhl und strickte. Ich fragte sie, ob sie Englisch spräche. Yes. Oder vielleicht Schwedisch? Ja, det går mycket bättre, kam es fließend und akzentfrei zurück. Ich fragte sie, was es mit den Küstenschweden auf sich habe, und erfuhr so erst von dieser uralten Minderheit auf den estnischen Inseln. Unsere “alte Donnerstagstante” (“wir nennen uns so, weil wir ein Zirkel von ollen Tanten sind, die sich bereit erklärt haben, jeweils Donnerstags das Museum zu hüten und alte Handarbeitstechniken vorzuführen”) war ganz offensichtlich froh, daß sich jemand dafür interessierte, ihre Geschichte zu hören, und legte los, als wollte sie uns mindestens die Hälfte aller Verse des Kalevala auf einen Sitz vortragen.
Wann die schwedischen Siedler genau gekommen waren, wußte sie nicht mit Gewißheit zu sagen. Vielleicht waren schon einige schwedische Wikinger auf den Zügen nach Ladoga, Nowgorod und Rußland hier hängengeblieben. (In den Quellen heißen sie übrigens Rus, eine Bezeichnung, die sicher mit dem finnischen ruotsi verwandt ist und Rußland den Namen gab.)
Die Küstenschweden, Aibofolket, wie sie sich selbst nennen (Aibo = Öboar = Inselbewohner), wurden schriftlich erstmals in der von den Ösel-Wieker Bischöfen 1294 ausgestellten Stadtgründungsurkunde von Haapsalu erwähnt. Vielleicht hatten die sie sogar erst ins Land geholt. Die kargen Küstenstriche Estlands waren bis dahin von den estnischen Waldbauern kaum besiedelt worden, zur Sicherung der Seewege und der neuerdings benötigten Fastenspeise Fisch war es aber von Vorteil, an der Küste verläßlich christliche Fischer anzusiedeln. Also warb man vermutlich die nächsten erreichbaren an: Schweden von der schwedischen Ostküste, aus Gotland und dem von ihnen eroberten Süden Finnlands. Damit sie kamen, mußte ihnen ihre Stellung rechtlich zugesichert werden. Die Aiboar lebten nach “schwedischem Recht”, in dem u.a. ihre persönliche Freiheit verbrieft war. Das schützte sie davor, wie die Esten im Lauf des 15. Jahrhunderts von den deutschen Ordensherrn in die Leibeigenschaft verknechtet zu werden. Allerdings blieb diese persönliche Freiheit auf ihren traditionellen Siedlungsraum entlang der Küste eingeschränkt. Ließen sie sich im Binnenland auf estnischen Höfen nieder, verloren sie ihr Privileg. Das führte natürlich dazu, daß Aibolandet jahrhundertelang ein relativ fest geschlossenes Siedlungsgebiet mit schwedischer Sprache und Kultur blieb.
Im Nordischen Siebenjährigen Krieg von 1563-70 eroberte die aufsteigende Ostseegroßmacht der schwedischen Wasa Estland. Damit kamen die Küstenschweden sozusagen “heim ins Reich” und verloren prompt in wichtigen Teilen ihren Sonderstatus. Zur Finanzierung ihrer Kriege verpfändete die schwedische Krone großflächig Land an finanzkräftige Adelsfamilien, am liebsten natürlich in den entlegensten Randgebieten. 1617 bezahlte und führte der halb französischstämmige General Jakob de la Gardie für König Gustav Adolf einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland. Dafür wurde er 1621 zum schwedischen Generalgouverneur aller Rußland abgenommenen Gebiete im Baltikum ernannt. In der Folgezeit hatten die schwedischen Bauern gegen die einfallenden adeligen Heuschrecken, die in Schwedisch-Livland Herrenhöfe mit den zu ihrer Versorgung nötigen ausgedehnten Ländereien errichteten, vielfach einen schwereren Stand als gegen die früheren deutschen und russischen Landesherrn. Wer nicht persönlich einen Privilegienbrief vorweisen konnte, mußte damit rechnen, verknechtet oder von Haus und Hof verjagt zu werden. Es folgte ein zäher Hinhaltekampf der schwedischen Bauern gegen die schwedischen Aristokraten, der einmal mehr belegt, daß nicht entlang nationaler, sondern entlang sozialer Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen die eigentlichen Grenzen verlaufen.
Das Ringen endete auch nicht mit der endgültigen Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721. Um Ruhe und Ordnung in den wiedererlangten Ostseeprovinzen zu sichern, restituierten die Zaren teils dem alten deutschbaltischen Adel seine früheren Besitzungen (Deutsch blieb auch weiterhin Amtssprache), teils bekamen die großen schwedischen Adelsdynastien sogar die Güter zurück, die ihr eigener (zwischenzeitlich erstarkter und absolutistisch regierender) König zuvor für die schwedische Krone eingezogen hatte. Den Besitzenden galten und gelten nationale Grenzen eben noch viel weniger als Hindernisse als dem einfachen Volk. Sie arrangieren sich noch mit jedem Herrscher, der ihre Besitzstände wahrt.
Das 18. Jahrhundert gilt in Estland als das Jahrhundert der Adelsherrschaft. Unter den deutschbaltischen Adelsfamilien erwarb sich auf Vormsi besonders die Familie von Stackelberg einen dauerhaften Ruf als Bauernbedrücker, die ihren Forderungen auch gern mit öffentlichen Auspeitschungen auf ihrem Gut Magnushof Nachdruck verlieh. In Talliner Archiven lagern heute noch Akten “in Klagesachen der Erbbauern unter dem Gute Magnushof auf der Insel Worms wider den Baron Wilhelm von Stackelberg betreffend ihre Freiheit und widerrechtliche Auflagen” aus den Jahren 1747-55. 1778 schrieb der Freiherr von Stackelberg über seine schwedischen Bauern: “Ich verabscheue diese Brut zutiefst und will meine ganze Macht daran setzen, sie auszulöschen.”
Erst mit der Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern und weiteren Bauerngesetzen 1856, die Gutsbesitzer verpflichteten, fünf Sechstel ihrer Ländereien zur Verpachtung freizugeben, besserte sich die Stellung auch der schwedischen Bauern in Estland. Allerdings waren sie von den zwischenzeitlich erfolgten Fortschritten im Land so weitgehend ausgeschlossen geblieben, daß ihre Siedlungsgebiete mittlerweile zu den rückständigsten im ganzen Land gehörten. Die panslawistische Russifizierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sie neuem Druck aus, rief aber auch Widerstand hervor, der zu einer bewußten Rückbesinnung auf schwedische Traditionen führte. Im 1920 erlassenen Grundgesetz des unabhängig gewordenen Estlands wurde nationalen Minderheiten kulturelle Autonomie zugesichert und an Bauern, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt hatten, vom Staat Land verteilt. Von beidem profitierten die Estlandschweden, die nun auch eigene Handelsbeziehungen nach Schweden und Finnland aufnahmen; doch schon unter den autoritären und nationalistischen Regierungen der Dreißiger Jahre verschlechterte sich ihre Lage wieder. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1938 bedeutete dann praktisch das Ende einer mindestens sechshundertjährigen schwedischen Siedlungsgeschichte in Estland.
Hitler-Deutschland, das gemäß der Aufteilung Osteuropas in deutsche und russische “Interessensgebiete” “seine” Deutsch-Balten massenweise “heim ins Reich” holte, gab auf diplomatischen Kanälen der schwedischen Regierung den Wink, dies besser auch mit ihrer Minderheit in Estland zu tun.
“Ich war damals elf Jahre und erinnere mich noch gut, wie wir mit Kisten und Koffern im Hafen von Tallinn auf das Schiff warteten, das uns nach Schweden bringen sollte”, sagt unsere Donnerstagstante und ich staune leise in mich hinein. Braungebrannt, mit ihrem weißhaarigen Pagenschnitt und die ganze Zeit ausdauernd auf ihren stämmigen Beinen stehend, hätte ich nie gedacht, daß diese rüstige Frau mit den klaren, hellblauen Augen über achtzig Jahre alt ist.
Fast 8000 von 9000 Schwedischstämmigen sind im Lauf des Zweiten Weltkriegs aus Estland emigriert - oder nach Sibirien deportiert worden. “Die wehrfähigen Männer haben sie nicht rausgelassen, die sind später in offenen Ruderbooten über die Ostsee nachgekommen.” Sofern sie nach dem Einmarsch der Russen 1941 nicht in die Rote Armee eingezogen wurden. “1984 bin ich von Stockholm auf einen kurzen Besuch nach Tallinn gefahren. Es war so schrecklich, daß ich danach nie wieder einen Fuß nach Estland setzen wollte.”
In ihre alte Heimat durften Aiboar frühestens ab 1988 besuchsweise zurück. Bis dahin galt die gesamte Küste als militärisches Sperrgebiet. “Nach der Unabhängigkeit bin ich dann 1994 doch noch einmal zurückgekommen. Da sah man schon Ansätze, daß es einmal besser werden könnte. Von da an habe ich angefangen, mich hier einzusetzen, und neue Freunde gefunden. Von den alten waren ja keine mehr da. Und jetzt verbringe ich nur noch die Winter in Stockholm und lebe den Sommer über hier. Es ist doch schön hier.”
Bei Vormsi habe ich mir erst nichts weiter gedacht. Bis ich eine Karte der Insel sah. Und feststellte, daß die weit überwiegende Mehrzahl der Ortsnamen rein schwedisch klingt: Norrby, Söderby, Fällarna, Kärrslätt... Was war denn da los? Und der Name der Insel selbst? Eine ähnliche Verballhornung wie bei Eysýsla > Ösel? Dann war das -i wohl ursprünglich ein -ö, -ey und bedeutete Insel. Und die erste Silbe ging auf schwed. orm, altnordisch ormr, Wurm, Schlange zurück, also Vormsi = Schlangeninsel.
Inzwischen hatten wir den offiziellen Teil der Promenade mit Kursaal und einigen Spa-Hotels hinter uns gelassen, und niedrige, kleine Holzhäuschen bestimmten das Bild. Manche in einfacher Blockhausmanier aus massiven Balken gebaut, aber die Ecken mit sauber gefugten Schwalbenschwanzzinken verbunden; solide Handwerksarbeit. Bei einigen hatte es für Farbe nicht mehr gereicht, andere waren vielfach gestrichen worden, gern in bunten Kontrastfarben: rote Wände, minzgrüne Fensterrahmen. Es war nicht gerade die Vorzeigeecke eines Seebades, dessen Stadträte es sicher gern wieder mondän sähen wie zu den Zeiten, in denen Herr und Frau Zar samt Hofstaat hier kurten. In der geöffneten Tür eines Anbaus, der mehr einem Verschlag glich, sahen wir eine gebeugte alte Frau in mehreren geflickten Pullovern und Strickjacken unter ihrer geblümten Kittelschürze. Das Gesicht unter ihrem Kopftuch war größtenteils bandagiert wie bei Aussätzigen, mit der einen rheumatisch knotigen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, in der anderen hielt sie einen Stock am falschen Ende und fischte mit dem Griffende nach der Tür. Offenbar war sie nicht nur sehr arm, sondern auch blind. Nein, in dieser Ecke kamen keine Gelder aus EU-Struktur- und -entwicklungsfonds an.
Ein etwas größeres Holzhaus oder eher ein Konglomerat mehrerer kleiner, sauber im Ochsenblutrot aus dem schwedischen Kupferbergbau gestrichen, trug ein handgemaltes Schild über dem Eingang: Rannarootsi muuseum. Ruotsi ist doch die finnische Bezeichnung für Schweden. Und Ranna bedeutet Strand, Ufer, Küste, hatte ich im Pärnuer Strandcafé Rannakohvik gelernt.
Drinnen außer uns kein Mensch. Doch, eine ältere Frau in einer einfachen blauen Leinentunika mit einer Bernsteinkette um den Hals saß auf einem Stuhl und strickte. Ich fragte sie, ob sie Englisch spräche. Yes. Oder vielleicht Schwedisch? Ja, det går mycket bättre, kam es fließend und akzentfrei zurück. Ich fragte sie, was es mit den Küstenschweden auf sich habe, und erfuhr so erst von dieser uralten Minderheit auf den estnischen Inseln. Unsere “alte Donnerstagstante” (“wir nennen uns so, weil wir ein Zirkel von ollen Tanten sind, die sich bereit erklärt haben, jeweils Donnerstags das Museum zu hüten und alte Handarbeitstechniken vorzuführen”) war ganz offensichtlich froh, daß sich jemand dafür interessierte, ihre Geschichte zu hören, und legte los, als wollte sie uns mindestens die Hälfte aller Verse des Kalevala auf einen Sitz vortragen.
Wann die schwedischen Siedler genau gekommen waren, wußte sie nicht mit Gewißheit zu sagen. Vielleicht waren schon einige schwedische Wikinger auf den Zügen nach Ladoga, Nowgorod und Rußland hier hängengeblieben. (In den Quellen heißen sie übrigens Rus, eine Bezeichnung, die sicher mit dem finnischen ruotsi verwandt ist und Rußland den Namen gab.)
Die Küstenschweden, Aibofolket, wie sie sich selbst nennen (Aibo = Öboar = Inselbewohner), wurden schriftlich erstmals in der von den Ösel-Wieker Bischöfen 1294 ausgestellten Stadtgründungsurkunde von Haapsalu erwähnt. Vielleicht hatten die sie sogar erst ins Land geholt. Die kargen Küstenstriche Estlands waren bis dahin von den estnischen Waldbauern kaum besiedelt worden, zur Sicherung der Seewege und der neuerdings benötigten Fastenspeise Fisch war es aber von Vorteil, an der Küste verläßlich christliche Fischer anzusiedeln. Also warb man vermutlich die nächsten erreichbaren an: Schweden von der schwedischen Ostküste, aus Gotland und dem von ihnen eroberten Süden Finnlands. Damit sie kamen, mußte ihnen ihre Stellung rechtlich zugesichert werden. Die Aiboar lebten nach “schwedischem Recht”, in dem u.a. ihre persönliche Freiheit verbrieft war. Das schützte sie davor, wie die Esten im Lauf des 15. Jahrhunderts von den deutschen Ordensherrn in die Leibeigenschaft verknechtet zu werden. Allerdings blieb diese persönliche Freiheit auf ihren traditionellen Siedlungsraum entlang der Küste eingeschränkt. Ließen sie sich im Binnenland auf estnischen Höfen nieder, verloren sie ihr Privileg. Das führte natürlich dazu, daß Aibolandet jahrhundertelang ein relativ fest geschlossenes Siedlungsgebiet mit schwedischer Sprache und Kultur blieb.
Im Nordischen Siebenjährigen Krieg von 1563-70 eroberte die aufsteigende Ostseegroßmacht der schwedischen Wasa Estland. Damit kamen die Küstenschweden sozusagen “heim ins Reich” und verloren prompt in wichtigen Teilen ihren Sonderstatus. Zur Finanzierung ihrer Kriege verpfändete die schwedische Krone großflächig Land an finanzkräftige Adelsfamilien, am liebsten natürlich in den entlegensten Randgebieten. 1617 bezahlte und führte der halb französischstämmige General Jakob de la Gardie für König Gustav Adolf einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland. Dafür wurde er 1621 zum schwedischen Generalgouverneur aller Rußland abgenommenen Gebiete im Baltikum ernannt. In der Folgezeit hatten die schwedischen Bauern gegen die einfallenden adeligen Heuschrecken, die in Schwedisch-Livland Herrenhöfe mit den zu ihrer Versorgung nötigen ausgedehnten Ländereien errichteten, vielfach einen schwereren Stand als gegen die früheren deutschen und russischen Landesherrn. Wer nicht persönlich einen Privilegienbrief vorweisen konnte, mußte damit rechnen, verknechtet oder von Haus und Hof verjagt zu werden. Es folgte ein zäher Hinhaltekampf der schwedischen Bauern gegen die schwedischen Aristokraten, der einmal mehr belegt, daß nicht entlang nationaler, sondern entlang sozialer Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen die eigentlichen Grenzen verlaufen.
Das Ringen endete auch nicht mit der endgültigen Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721. Um Ruhe und Ordnung in den wiedererlangten Ostseeprovinzen zu sichern, restituierten die Zaren teils dem alten deutschbaltischen Adel seine früheren Besitzungen (Deutsch blieb auch weiterhin Amtssprache), teils bekamen die großen schwedischen Adelsdynastien sogar die Güter zurück, die ihr eigener (zwischenzeitlich erstarkter und absolutistisch regierender) König zuvor für die schwedische Krone eingezogen hatte. Den Besitzenden galten und gelten nationale Grenzen eben noch viel weniger als Hindernisse als dem einfachen Volk. Sie arrangieren sich noch mit jedem Herrscher, der ihre Besitzstände wahrt.
Das 18. Jahrhundert gilt in Estland als das Jahrhundert der Adelsherrschaft. Unter den deutschbaltischen Adelsfamilien erwarb sich auf Vormsi besonders die Familie von Stackelberg einen dauerhaften Ruf als Bauernbedrücker, die ihren Forderungen auch gern mit öffentlichen Auspeitschungen auf ihrem Gut Magnushof Nachdruck verlieh. In Talliner Archiven lagern heute noch Akten “in Klagesachen der Erbbauern unter dem Gute Magnushof auf der Insel Worms wider den Baron Wilhelm von Stackelberg betreffend ihre Freiheit und widerrechtliche Auflagen” aus den Jahren 1747-55. 1778 schrieb der Freiherr von Stackelberg über seine schwedischen Bauern: “Ich verabscheue diese Brut zutiefst und will meine ganze Macht daran setzen, sie auszulöschen.”
Erst mit der Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern und weiteren Bauerngesetzen 1856, die Gutsbesitzer verpflichteten, fünf Sechstel ihrer Ländereien zur Verpachtung freizugeben, besserte sich die Stellung auch der schwedischen Bauern in Estland. Allerdings waren sie von den zwischenzeitlich erfolgten Fortschritten im Land so weitgehend ausgeschlossen geblieben, daß ihre Siedlungsgebiete mittlerweile zu den rückständigsten im ganzen Land gehörten. Die panslawistische Russifizierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sie neuem Druck aus, rief aber auch Widerstand hervor, der zu einer bewußten Rückbesinnung auf schwedische Traditionen führte. Im 1920 erlassenen Grundgesetz des unabhängig gewordenen Estlands wurde nationalen Minderheiten kulturelle Autonomie zugesichert und an Bauern, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt hatten, vom Staat Land verteilt. Von beidem profitierten die Estlandschweden, die nun auch eigene Handelsbeziehungen nach Schweden und Finnland aufnahmen; doch schon unter den autoritären und nationalistischen Regierungen der Dreißiger Jahre verschlechterte sich ihre Lage wieder. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1938 bedeutete dann praktisch das Ende einer mindestens sechshundertjährigen schwedischen Siedlungsgeschichte in Estland.
Hitler-Deutschland, das gemäß der Aufteilung Osteuropas in deutsche und russische “Interessensgebiete” “seine” Deutsch-Balten massenweise “heim ins Reich” holte, gab auf diplomatischen Kanälen der schwedischen Regierung den Wink, dies besser auch mit ihrer Minderheit in Estland zu tun.
“Ich war damals elf Jahre und erinnere mich noch gut, wie wir mit Kisten und Koffern im Hafen von Tallinn auf das Schiff warteten, das uns nach Schweden bringen sollte”, sagt unsere Donnerstagstante und ich staune leise in mich hinein. Braungebrannt, mit ihrem weißhaarigen Pagenschnitt und die ganze Zeit ausdauernd auf ihren stämmigen Beinen stehend, hätte ich nie gedacht, daß diese rüstige Frau mit den klaren, hellblauen Augen über achtzig Jahre alt ist.
Fast 8000 von 9000 Schwedischstämmigen sind im Lauf des Zweiten Weltkriegs aus Estland emigriert - oder nach Sibirien deportiert worden. “Die wehrfähigen Männer haben sie nicht rausgelassen, die sind später in offenen Ruderbooten über die Ostsee nachgekommen.” Sofern sie nach dem Einmarsch der Russen 1941 nicht in die Rote Armee eingezogen wurden. “1984 bin ich von Stockholm auf einen kurzen Besuch nach Tallinn gefahren. Es war so schrecklich, daß ich danach nie wieder einen Fuß nach Estland setzen wollte.”
In ihre alte Heimat durften Aiboar frühestens ab 1988 besuchsweise zurück. Bis dahin galt die gesamte Küste als militärisches Sperrgebiet. “Nach der Unabhängigkeit bin ich dann 1994 doch noch einmal zurückgekommen. Da sah man schon Ansätze, daß es einmal besser werden könnte. Von da an habe ich angefangen, mich hier einzusetzen, und neue Freunde gefunden. Von den alten waren ja keine mehr da. Und jetzt verbringe ich nur noch die Winter in Stockholm und lebe den Sommer über hier. Es ist doch schön hier.”
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 23. Oktober 2009
Der Bahnsteig von Haapsalu
... ist einer jener Orte, die vielleicht ein-, zweimal in ihrem Dasein leicht vom Flügel der Geschichte gestreift und aus ihrem ewigen Dämmerschlaf geweckt und ins Leben gerufen wurden. Vor Kuressaare war es einmal Sitz der Bischöfe von Ösel-Wiek. Eindrucksvolle Ruinen ihrer großen Burg, die unter anderem die größte einschiffige Hallenkirche des gesamten nördlichen Europas birgt, stehen noch, doch der Hafen an der seichten Bucht verlandete, und die Stadt sank in Schlick und Bedeutungslosigkeit.
Bis 1820 der deutschbaltische Arzt Carl Hunnius den Matsch im alten Hafen näher untersuchte und seine heilenden Eigenschaften entdeckte. 1867 ließ sich Peter Tschaikowsky in den mittlerweile errichteten Badeanstalten kurieren und komponierte dabei, vielleicht sogar auf der nach ihm benannten Marmorbank an der Promenade, seine erste Oper, Teile seiner 6. Sinfonie und die “Erinnerungen an Hapsal”. Bald kamen selbst die Zaren aus dem fernen Moskau, um sich in den Schlamm von Haapsalu packen zu lassen. Der “Kaiser und Autokrat aller Russen” Nikolaus II. ließ zu seiner Bequemlichkeit im Revolutionsjahr 1905 eigens eine Eisenbahnlinie von Tallinn in den kleinen Kurort an der Ostsee bauen. Nachdem er noch rasch mit einem Federstrich die ihm erst nach dem Petersburger Blutsonntag blutig abgerungene gesetzgebende Versammlung (Duma) im Juni 1907 wieder aufgelöst und das Wahlrecht auf besitzende Schichten eingeschränkt hatte, fuhr der Zar nach dieser großartigen Leistung mit seiner Familie erst einmal in die Sommerferien. Als sein Zug unter Dampf in Haapsalu einrollte, hatte ihm die Stadt zum Empfang den längsten überdachten Bahnsteig der Welt gebaut.
Ende Juli ging Nikolaus II. an Bord der Kronstadt und lief am 4. August zu einem Treffen mit seinem Vetter Willem Zwo in Swinemünde ein. “Von Bansin bis Swinemünde standen die Menschen dicht gedrängt am Strand, bewunderten die „Hohenzollern“, die
stolze weiße Jacht des Kaisers, die umlagert von der deutschen
Seeflotte den hohen Besucher erwartete. Ein Aufschrei
des Erstaunens ging durch die Menge, als die „Kronstadt“
aus dem Dunst am Horizont hervorstach. Umkreist von russischen
Torpedobooten glitt das mächtige schwarze Zarenschiff
auf die Insel zu, begleitet von den Begeisterungsstürmen
der Zaungäste ging es vor Anker.” (Brigitte Märker: Lieber Justus. Feldpostbriefe einer Offiziersfrau)
Gute zehn Jahre hatte Zar Nikolaus da noch zu leben, ehe sein Körper und die seiner Familienangehörigen in Salzsäure landeten. Mitleid? Dazu ein paar Zahlen: Zu seiner Krönung 1896 hatte der Thronfolger mit Nahrungsmitteln gefüllte Emailbecher mit seinem Konterfei zur Verteilung anfertigen lassen, nur ein paar zu wenig. Die Menschenmenge drängte so danach, daß es zu einer Panik kam: 1400 Tote. In seiner Jugend war bei einem Staatsbesuch in Japan ein Attentäter mit dem Schwert auf ihn losgegangen. Seitdem haßte er alle Japaner als “gelbe Affen” und ließ seinen Generälen 1904 freie Hand zum Vergeltungskrieg. Ergebnis: der fast vollständige Untergang der russischen Flotte, 70.000 Tote auf russischer und 100.000 Tote auf japanischer Seite.
Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte “Nicky” einer Delegation von Arbeitern und Bauern, die ihn um konstitutionelle Reformen ersuchten, beschieden: “Ich will jederman wissen lassen, daß ich all meine Kraft darauf verwenden werde, zum Wohl der ganzen Nation das Prinzip absoluter Autokratie aufrecht zu erhalten.” Als im Januar 1905 150.000 unbewaffnete Arbeiter friedlich für den Achtstundentag und die Einrichtung eines Parlaments demonstrierten, schoß die Armee mit Wissen des Zaren die Menge vor seinem Winterpalais zusammen: mehrere hundert Tote. In der Folge bezahlte sein Innenminister Zeitungen dafür, antisemitische Hetzartikel zu veröffentlichen, die Juden der Anstiftung zum Umsturz und der Kollaboration mit dem japanischen Feind bezichtigten und die in der Folge zu zahlreichen Pogromen führten.
In Haapsalu wurden währenddessen nach der Abreise des Zaren die Dekorationen abgebaut, und der Schlammbadbetrieb kehrte zu seinen gewohnten Packungen zurück. Geblieben ist von der Pracht der Zarenselbstherrlichkeit ein über 200 Meter langer Bahnsteig an einer stillgelegten Strecke.
Bis 1820 der deutschbaltische Arzt Carl Hunnius den Matsch im alten Hafen näher untersuchte und seine heilenden Eigenschaften entdeckte. 1867 ließ sich Peter Tschaikowsky in den mittlerweile errichteten Badeanstalten kurieren und komponierte dabei, vielleicht sogar auf der nach ihm benannten Marmorbank an der Promenade, seine erste Oper, Teile seiner 6. Sinfonie und die “Erinnerungen an Hapsal”. Bald kamen selbst die Zaren aus dem fernen Moskau, um sich in den Schlamm von Haapsalu packen zu lassen. Der “Kaiser und Autokrat aller Russen” Nikolaus II. ließ zu seiner Bequemlichkeit im Revolutionsjahr 1905 eigens eine Eisenbahnlinie von Tallinn in den kleinen Kurort an der Ostsee bauen. Nachdem er noch rasch mit einem Federstrich die ihm erst nach dem Petersburger Blutsonntag blutig abgerungene gesetzgebende Versammlung (Duma) im Juni 1907 wieder aufgelöst und das Wahlrecht auf besitzende Schichten eingeschränkt hatte, fuhr der Zar nach dieser großartigen Leistung mit seiner Familie erst einmal in die Sommerferien. Als sein Zug unter Dampf in Haapsalu einrollte, hatte ihm die Stadt zum Empfang den längsten überdachten Bahnsteig der Welt gebaut.
Ende Juli ging Nikolaus II. an Bord der Kronstadt und lief am 4. August zu einem Treffen mit seinem Vetter Willem Zwo in Swinemünde ein. “Von Bansin bis Swinemünde standen die Menschen dicht gedrängt am Strand, bewunderten die „Hohenzollern“, die
stolze weiße Jacht des Kaisers, die umlagert von der deutschen
Seeflotte den hohen Besucher erwartete. Ein Aufschrei
des Erstaunens ging durch die Menge, als die „Kronstadt“
aus dem Dunst am Horizont hervorstach. Umkreist von russischen
Torpedobooten glitt das mächtige schwarze Zarenschiff
auf die Insel zu, begleitet von den Begeisterungsstürmen
der Zaungäste ging es vor Anker.” (Brigitte Märker: Lieber Justus. Feldpostbriefe einer Offiziersfrau)
Gute zehn Jahre hatte Zar Nikolaus da noch zu leben, ehe sein Körper und die seiner Familienangehörigen in Salzsäure landeten. Mitleid? Dazu ein paar Zahlen: Zu seiner Krönung 1896 hatte der Thronfolger mit Nahrungsmitteln gefüllte Emailbecher mit seinem Konterfei zur Verteilung anfertigen lassen, nur ein paar zu wenig. Die Menschenmenge drängte so danach, daß es zu einer Panik kam: 1400 Tote. In seiner Jugend war bei einem Staatsbesuch in Japan ein Attentäter mit dem Schwert auf ihn losgegangen. Seitdem haßte er alle Japaner als “gelbe Affen” und ließ seinen Generälen 1904 freie Hand zum Vergeltungskrieg. Ergebnis: der fast vollständige Untergang der russischen Flotte, 70.000 Tote auf russischer und 100.000 Tote auf japanischer Seite.
Kurz nach seiner Thronbesteigung hatte “Nicky” einer Delegation von Arbeitern und Bauern, die ihn um konstitutionelle Reformen ersuchten, beschieden: “Ich will jederman wissen lassen, daß ich all meine Kraft darauf verwenden werde, zum Wohl der ganzen Nation das Prinzip absoluter Autokratie aufrecht zu erhalten.” Als im Januar 1905 150.000 unbewaffnete Arbeiter friedlich für den Achtstundentag und die Einrichtung eines Parlaments demonstrierten, schoß die Armee mit Wissen des Zaren die Menge vor seinem Winterpalais zusammen: mehrere hundert Tote. In der Folge bezahlte sein Innenminister Zeitungen dafür, antisemitische Hetzartikel zu veröffentlichen, die Juden der Anstiftung zum Umsturz und der Kollaboration mit dem japanischen Feind bezichtigten und die in der Folge zu zahlreichen Pogromen führten.
In Haapsalu wurden währenddessen nach der Abreise des Zaren die Dekorationen abgebaut, und der Schlammbadbetrieb kehrte zu seinen gewohnten Packungen zurück. Geblieben ist von der Pracht der Zarenselbstherrlichkeit ein über 200 Meter langer Bahnsteig an einer stillgelegten Strecke.
... link (2 Kommentare) ... comment
Sonntag, 18. Oktober 2009
Isolomanie
Sonnig wie Apulien oder eine mittelmeerische Insel liegt Saaremaa da unten jenseits des Wassergrabens hingebreitet, und wenn man vom Aussichtsturm Pikk Herman den Blick über den türkisblau glitzernden Golf wandern läßt, kann man sich schon mal in die Johanniterfestung auf Rhodos oder andere Kreuzritterburgen am Mittelmeer versetzt fühlen. Heimelig mediterran wird auch der Herzogin zumute, und sie gibt sich einem akuten Anfall von Isolomanie hin, jener höchst ansteckenden Krankheit, die Lawrence Durrell in Leuchtende Orangen. Rhodos, Insel des Helios in den Tagebüchern seines Freundes Gideon erstmals beschrieben fand:
“In Gideons Tagebüchern habe ich einmal eine Aufzählung von Krankheiten gefunden, die von der medizinischen Wissenschaft noch nicht zur Kenntnis genommen worden sind, darunter Isolomania, die als eine seltene, aber keineswegs unbekannte Behexung der Seele beschrieben wird. Es gibt Menschen, pflegte Gideon zu erklären, die Inseln nur schwer widerstehen können. Die bloße Vorstellung, auf einer Insel, in einer kleinen, vom Meer umgebenen Welt zu leben, erfüllt sie mit unbeschreiblicher Trunkenheit. Diese geborenen ‘Islomanen‘, fügte er gern hinzu, sind die direkten Nachkommen der Atlantier, und immerzu ist es das verlorene Atlantis, das ihr Unbewußtes auf einer Insel wiederzufinden hofft.”
... link (0 Kommentare) ... comment
Freitag, 16. Oktober 2009
Die Adlerburg von Ösel
Mit knapp 3000 km² ist Saaremaa hundertmal größer als Borkum und etwa so groß wie Gotland oder Fünen, hat aber nicht einmal ein Zehntel von dessen Einwohnern. Keine 40000 Menschen verlieren sich zwischen seinen Wäldern, Sümpfen und Feuchtwiesen.
Flach ist die Insel, und auf der Karte sieht sie aus wie ein Fächer mit einem exzentrischen Griff; fächerförmig ist auch alles auf den Hauptort Kuressaare mit der alten Burg der Bischöfe von Ösel-Wiek ausgerichtet. In ihrer vollkommen auf das Wesentliche reduzierten Viereckanlage mit den abwehrend glatt gefugten Mauern erinnert sie an ein Kastell Friedrichs II.. Ist ihre Architektur vielleicht sogar eine Folge der engen Verbindungen zwischen dem Deutschen Orden und dem an herrscherlichen Bauten so interessierten Stauferkaiser? Beherrschend ist auch ihre Lage an dem nach Süden, Richtung Rigaer Meerbusen sich öffnenden Golf. Fantastisch der Blick von den hohen Zinnen.
Sicher war die Arensburg (niederdeutsch für Adlerburg) der erste und wichtigste Brückenkopf der christlichen Kreuzritter vom Schwertbrüderorden in ihrem Eroberungskrieg gegen die Esten, die hier auf Saaremaa besonders hartnäckig Widerstand leisteten und erst 1227, zwei Jahre, nachdem das Festland schon kapituliert hatte, unterworfen wurden. In der Folgezeit wurde die Burg von Baumeistern des Deutschen Ordens zum Sitz der Bischöfe des neu gegründeten Rigaer Suffraganbistums Ösel-Wiek ausgebaut. Dem flachen Gelände brauchten sie keine Zugeständnisse zu machen, die geschlagenen Inselbewohner verfügten mit Sicherheit über kein burgenbrechendes Belagerungs- und Sturmgerät, und so konnten die Ordensbaumeister ein geradezu idealtypisches Symbol von Herrschaft errichten, das hinter seinen hoch aufragenden Mauern und Türmen über der flachen Küste thront wie Castell del Monte über dem Flachland Apuliens.
Flach ist die Insel, und auf der Karte sieht sie aus wie ein Fächer mit einem exzentrischen Griff; fächerförmig ist auch alles auf den Hauptort Kuressaare mit der alten Burg der Bischöfe von Ösel-Wiek ausgerichtet. In ihrer vollkommen auf das Wesentliche reduzierten Viereckanlage mit den abwehrend glatt gefugten Mauern erinnert sie an ein Kastell Friedrichs II.. Ist ihre Architektur vielleicht sogar eine Folge der engen Verbindungen zwischen dem Deutschen Orden und dem an herrscherlichen Bauten so interessierten Stauferkaiser? Beherrschend ist auch ihre Lage an dem nach Süden, Richtung Rigaer Meerbusen sich öffnenden Golf. Fantastisch der Blick von den hohen Zinnen.
Sicher war die Arensburg (niederdeutsch für Adlerburg) der erste und wichtigste Brückenkopf der christlichen Kreuzritter vom Schwertbrüderorden in ihrem Eroberungskrieg gegen die Esten, die hier auf Saaremaa besonders hartnäckig Widerstand leisteten und erst 1227, zwei Jahre, nachdem das Festland schon kapituliert hatte, unterworfen wurden. In der Folgezeit wurde die Burg von Baumeistern des Deutschen Ordens zum Sitz der Bischöfe des neu gegründeten Rigaer Suffraganbistums Ösel-Wiek ausgebaut. Dem flachen Gelände brauchten sie keine Zugeständnisse zu machen, die geschlagenen Inselbewohner verfügten mit Sicherheit über kein burgenbrechendes Belagerungs- und Sturmgerät, und so konnten die Ordensbaumeister ein geradezu idealtypisches Symbol von Herrschaft errichten, das hinter seinen hoch aufragenden Mauern und Türmen über der flachen Küste thront wie Castell del Monte über dem Flachland Apuliens.
... link (0 Kommentare) ... comment
... older stories