Strandspaziergang im weißen Sand von Sandhammaren, dann die lichten Kiefernhaine entlang der Küste nach Ystad. Die Herzogin von Despotovo begann jämmerlich zu frieren, aber der Wind war auch selbst in den Straßen zwischen den behaglichen Fachwerk- und Backsteinhäusern noch eisekalt. Kein Café, nichts geöffnet an diesem Neujahrstag, bis auf eine Videothek und später eine Pizzeria. - Es war schón kalt. Dafür knisterte später bei Ylva im Ofen ein gemütliches Feuer.
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Vor der Zeitmauer standen dann auch wir vor der Bronzetür zum Steinhügelgrab in Kivik, angelegt im “vorolympischen” Zeitalter des Minos vor rund 3000 Jahren. Erst vor gut der Hälfte der Zeit waren die Menschen dort in Kontakt mit dem uns vertrauten römisch-christlichen Kulturkreis und seinen Vorstellungen, Überlieferungen und Traditionen getreten. Was sich im Innern des Hügels befand, in seiner mutterschoßlichen Höhle, war also durch anderthalb Jahrtausende Fremdheit von uns getrennt.
Aber, Anknüpfungspunkte und Verbindungen gab es auch schon in der Zeit davor. Ob man nun “Kulturwanderung” oder eine Wanderung von Bevölkerungsgruppen (Indogermanen) annimmt, jedenfalls gelangte die Kenntnis der Technik der Bronzeherstellung aus ihrem Ursprungsgebiet in Mesopotamien entweder über den Kaukasus (Kurgankultur), via Anatolien oder über Kreta und die anschließende mykenische Kultur in den Norden. (Im Austausch fand man Bernstein aus der Ostsee in mykenischen Gräbern.) Auch der kreisrunde Grabhügel von Kivik mit seiner mit Steinplatten ausgekleideten Grabkammer läßt sich als Kurgan ansprechen. Und was zeigen diese Steinplatten? Geschwungene Linien, die sich wohl als Umrisse bootsförmiger Äxte deuten lassen, wie man sie im Norden aus Stein schon sehr viel früher, im späten Neolithikum, den aus dem Süden bekannt gewordenen gegossenen Äxten aus Kupfer oder Bronze nachbildete. Und unter dem Grabhügel fanden sich noch Reste einer Siedlung aus der Steinzeit. Welche Kontinuität, die sich über Jahrtausende spannt! Und zugleich Verbindungen, die schon in jener frühen Zeit Tausende von Kilometern überbrückten.
Weiter zeigen die Steinplatten in der Grabkammer große, mit Kreuzen oder Speichen versehene Kreise, die gemeinhin als Sonnenscheiben interpretiert werden. Viele, viele Funde deuten für die Nordische Bronzezeit (die eine relative Wärmeperiode war, wärmer als heute; noch) auf eine kultische Verehrung der Sonne hin. (Die Grabkammer von Kivik ist in Nordsüdrichtung zur Sonne ausgerichtet.) Denken wir allein an die vor zehn Jahren erst gefundene, bislang älteste konkrete Himmelsdarstellung auf der Bronzescheibe von Nebra, die etwa 500 Jahre älter ist als das Kivikgrab und 200 Jahre älter als die bis dahin ältesten Himmelsdarstellungen in Ägypten und die sich u.a. als Peilscheibe für die Bestimmung der Sonnwendpunkte und Tagundnachtgleichen benutzen ließ. Auch eine goldene “Sonnenbarke” wurde ihr später aufgenietet. Dürfen wir eine solche in Kivik wiedererkennen, kultisch begleitet von einer Prozession langgewandeter Frauen (?) und Männer, von denen einer eine Axt (?) hebt, während ein weiterer in ein großes gekrümmtes Horn stößt? Luren, wie bislang rund 60 aus der Bronzezeit gefunden wurden.
Die Prozession setzt sich auf einem anderen Bildstein fort, diesmal begleitet von schwertgegürteten Figuren und einem Mann auf einem von Pferden gezogenen Streitwagen, wie er damals seit langem im Ursprungsgebiet der Bronzeherstellung und von den wandernden indogermanischen Völkern verwendet wurde. War er zugleich mit dem begehrten Metall und dem Sonnenkult in den Norden gebracht worden? Im bronzezeitlichen Sonnenwagen von Trundholm (um 1400 vuZ.) kommt beides zusammen. Und wenn man genau hinschaut, sieht man, daß auch auf den Steinbildern von Kivik die Räder des Wagens genauso gezeichnet sind wie die einzelnen "Sonnenräder" auf dem Nachbarstein. Auch hier ein Sonnenwagen?
Die Bronzezeit war eine klimatisch begünstigte, reiche Zeit im Norden. Das belegen die mehr als 20.000 erhaltenen mächtigen Grabhügel und Depotfunde mit ihren kostbaren Beigaben, darunter viele aus Gold, die von technisch und künstlerisch hochstehenden Spezialwerkstätten und Handwerkern angefertigt wurden. Das Netz der Handelsbeziehungen reichte praktisch über ganz Europa bis in den Nahen Osten. Erhaltene Überreste von Häusern aus der Bronzezeit belegen, daß damals in Dänemark und Schweden viel größer gebaut wurde als in all den nachfolgenden Jahrhunderten der vorrömischen und römischen Eisenzeit bis weit ins frühe Mittelalter hinein. Das damals entwickelte dreischiffige Langhaus hatte eine Seitenlänge von bis zu 30 Metern und mehr als 250m² Wohnfläche unter einem Dach. (Das Vieh blieb aufgrund des wärmeren Klimas damals noch außerhalb der Häuser.)
Im Lauf des 7. vorchristlichen Jahrhunderts hat der Handelsaustausch der antiken Mittelmeerwelt mit dem Norden nachgelassen, um 600 vuZ. hörte er vollständig auf. Die Latène-Kultur der Kelten legte sich wie ein Sperriegel vor die Alpen, usurpierte und absorbierte anscheinend völlig die alten Handelsbeziehungen. Für Jahrhunderte gelangte kein einziger Gegenstand aus Süd- oder Mitteleuropa mehr in den Norden. Grabhügel wie der aus Kivik, damals noch dreimal so hoch wie heute und gut sichtbar direkt am Ufer der Ostsee gelegen, bildeten für die Nachfahren imposante Zeugnisse einer vergangenen größeren und besseren Zeit. Wir Heutigen können das kulturelle Wissen, das er enthält, nicht mehr vollständig entschlüsseln, aber es “dringt in die Zeit wie die Kunde aus einer zugleich furcht- und fruchtbaren Höhle - in ihrem Dunkel scheint alles möglich.” Man begibt sich durch den gewundenen Gang hinein, wird durch den Strudel der Jahrhunderte in ungeschiedene Frühzeiten zurückgesaugt, streift das alte ab und tritt neugeboren wieder heraus in ein neues Jahr. Der uralte Hügel von Kivik, ein guter Ort, um den Jahreswechsel zu begehen.
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Am Abend dann wieder einmal in den Tagebüchern Jüngers gelesen. 23 Jahre vor mir besuchte er Kreta, fand auch dort das klare Licht, “in den kleinen Wirtschaften das weiße Brot, das köstliche Wasser der Insel, den Wein und vor allem das freundliche Wesen der Kreter” (28.4.1971). “In einem der nahen Dörfer (am Lassithi-Paß) hielten wir Mittagsrast. Auch hier das alte Wirtspaar (Philemon und Baucis)... Das Brot, das sie brachten, war kein besonderes Brot, wie man es in vielen Sorten auf den Märkten sieht. Ich entsinne mich nicht, jemals dergleichen gekostet zu haben; es war das Brot schlechthin. Es war weniger in Scheiben geschnitten als zu Schollen gebrochen, rotbraun und klebrig wie diese Erde nach der Regenzeit. Darin waren Körner zu spüren, vielleicht Hafer oder Gerste, wildgrasartig, von urtümlicher Kraft... verwandelte Erde, das Brot der Demeter unmittelbar.
Dabei muß ich noch einmal das Wasser der Insel erwähnen, denn es geschieht selten, daß wir im Altvertrauten einen Genuß entdecken, als ob wir erst jetzt mit ihm bekannt würden. Dann ist die Stille auch nicht mehr lautlos, sondern hat ihre Tiefe - und so ist es auch hier das Gefühl, als tränke man nicht Wasser mehr. Das ist die Wahrnehmung des Genuinen, und aus ihr ist zu schließen, daß das Glück unser eigentlicher Zustand ist. Dann stört auch die Zeit nicht mehr.
Ahorne und Steineichen haben ihre Wurzeln in den Fels getrieben, der mit dem Holz zu einer silbergrauen Masse verschmilzt. Zeit und zeitlose Stille vereinen sich hier, als ob Jahrhunderte des Wachstums durch einen Zauber gebannt wären. - Solche Stunden auf den Inseln geben immer wieder ein unvergeßliches Geschenk.” (4.5.71)
“Unterhaltung beim Genuß des weißen Weines der Insel, der den Namen des Königs Minos führt. Das Paradies ist seit jeher verloren; wir streifen nur seine Ränder an der Zeitmauer.”
“Das Reich des Minos ist vorolympisch; der sagenhafte König ist kein Gott, obwohl er göttliche Gewalt ausübt. Sein Verhältnis zu Zeus ist rätselhaft; man hat den Eindruck, daß die Griechen es umdichteten. - Die Insel ist der Erde heilig wie keine andere. Darauf verweisen der Stier, das Labyrinth, die Höhlen. - Wir hören von Minos eher wie von Gerüchten als wie von Mythen... Das dringt in die Zeit wie die Kunde aus einer zugleich furcht- und fruchtbaren Höhle - in ihrem Dunkel scheint alles möglich.
Der Mythos verhärtet oder kristallisiert eher, als erster Schritt zum Bewußtsein. - Auch die Schrift verhärtet; sie hebt vom Sein eine Bewußtseinsschicht ab. Wo Schriftdokumente bestehen, wo Namen und Daten die Zeit bannen, mehrt sich das Wissen, das die letzte Kammer verstellt.” (6.5.71)
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Ein Schwedensommer wohl war‘s, ähnlich dem, den er später in Schloß Gripsholm beschrieb. Doch jetzt ist der letzte Tag im Jahr, und wir fahren langsam durch die Buchenwälder um Schloß Kronovall. In französischem Spätbarock prangt es da zwischen den hohen, schlanken Stämmen hervor, seit es der Architekt von Stockholms Nordiska museet, Isak Gustaf Clason, nach 1890 einem umfangreichen Facelifting unterziehen durfte.
Seine Geschichte aber reicht zurück bis in die Zeit, als sich Schweden anschickte, Dänemark die Vormachtstellung in der Ostsee streitig zu machen. Im Kalmarkrieg von 1611-13, den Christian IV. in der irrigen Annahme vom Zaun brach, mit Schweden unter einem todkranken König bzw. dessen minderjährigem Sohn leichtes Spiel zu haben, trat der gerade erst achtzehn gewordene und frisch gekrönte Gustav II. Adolf Anfang Februar 1612 mit einem Heer von 3000 Mann zum Gegenstoß an, fiel in einem Plünderungsfeldzug durch die Grenzprovinz Småland in Skåne ein und ließ mehr als zwei Dutzend Dörfer, Güter und Herrensitze in Flammen aufgehen.
Nach dem Frieden von Knäred im folgenden Jahr kaufte der aus schottischem Hochadel stammende Anders Sinclair etliche der zerstörten Besitzungen auf. 1615 ernannte ihn der dänische König zum Kommandeur des Skåne-Regiments und zu seinem Statthalter über die Provinz und die Insel Bornholm. Als solcher ließ sich Sinclair mehrere Schlösser errichten, darunter Kronovall. Mit seinem Sohn Christen starb das Geschlecht jedoch aus, und Kronovall fiel an Falk Lykke auf Skovgaard, den Kommandanten der dänischen Grenzfeste Christianopel. Dieses 1599 als erste planmäßige Renaissancestadt des Nordens gegründete winzige Örtchen mit heute 80 Einwohnern verfügt noch immer über ansehnliche Reste seiner ehemals neun Meter hohe und drei Kilometer lange Stadtmauer mit Bastionen.
Schweden stieg durch seine langjährige siegreiche Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg zur europäischen Großmacht auf und schaffte es, die dänische Umklammerung endgültig zu sprengen. Nach dem dänisch-schwedischen Krieg von 1643-45 erhielt es von Dänemark die bis dahin norwegischen Provinzen Jämtland und Härjedalen, Halland an seiner Westküste und die Ostseeinseln Ösel und Gotland. Als es glaubte, den mit Rußland im Krieg stehenden polnischen König Johann II. Wasa militärisch zum Verzicht auf seine Erbansprüche in Schweden zwingen zu können, eröffnete Fredrik III. von Dänemark einen Revanchekrieg gegen die schwedischen Gebiete in Norddeutschland.
Doch Karl X., auch genannt “der nordische Alexander”, marschierte von Polen in Gewaltmärschen die südliche Ostseeküste entlang bis nach Jütland, und in einer für unmöglich gehaltenen Aktion überquerte er, beraten von seinem leitenden Ingenieur Erik Dahlberg, im Angesicht der feindlichen Streitkräfte Anfang Februar 1658 mit einer Armee von 12.000 Mann samt Artillerie das Eis der zugefrorenen Meerengen, den Großen und den Kleinen Belt, und zog geradewegs auf Kopenhagen. Fredrik III. bat ohne weitere Gegenwehr völlig verschreckt um Frieden. Im Vertrag von Roskilde mußte er auf seine südschwedischen Provinzen Skåne und Blekinge, auf das norwegische Bohuslän und Trondheim sowie seine letzte Ostseeinsel Bornholm verzichten.
Zwei Jahre später starb der erst siebenunddreißigjährige Karl X. an einer Lungenentzündung (und den Folgen seiner ewigen Völlerei) und hinterließ einen erst vierjährigen Erben, sodaß es erneut zu einer langjährigen Vormundschaftsregierung der führenden Adelsgeschlechter im schwedischen Reichsrat kam, die sich für ihre Mühen reichlich am Krongut schadlos hielten. Kronovall erwarb 1668 der fünfzigjährige Gustav Banér aus dem Geschlecht des überragenden Oberbefehlshabers der schwedischen Heere im Dreißigjährigen Krieg, Johan Banér (der 1641 seiner Schrumpfleber zum Opfer gefallen war). Auch Gustav Banér war Soldat und hatte an Karls X. Dänemarkfeldzug teilgenommen. 1664 hatte ihn die Vormundschaftsregierung zum Generalgouverneur der Schweden zugeschlagenen dänischen Provinzen Skåne, Blekinge und Halland ernannt, doch als der junge König Karl XI. daran ging, entfremdetes Krongut in den sogenannten Reduktionen wieder einzuziehen, verlor Banér u.a. Kronovall und lebte auf seine alten Tage vom Vermögen seiner Schwiegermutter Maria Sophia de la Gardie.
Banérs Tochter Ebba Margarete erhielt das Schloß später zurück und verkaufte es 1718. Durch mehrere Hände gelangte es schließlich in den Besitz des letzten Zweigs der alten Adelsfamilie Sparre. Da kinderlos, wandelte der letzte Graf seinen Besitz in eine Stiftung um, die das Schloß seit 1996 an den Schaumweinfabrikanten Åkesson verpachtet hat. Schlösser, Adel und Schaumwein - wie gut sie zusammenpassen wußte natürlich ein Thomas Mann. Ich hatte den Adelsbrief so gut wie in der Tasche, freut sich sein hochstaplerischer Sohn des dicken Schaumweinfabrikanten Engelbert Krull, der bei seinen Sektflaschen auf das Äußere so ein ungemeines Gewicht legte.
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Den Sommer ‘28 hatte er in Kivik verbracht, an der sonnigen Ostküste Schonens, dem Österlen.
Achtzig Jahre später erwachen wir auf Skåneslätten, der an der Oberfläche leicht gewellten Ebene aus fetter Ackererde. Es ist kurz nach Weihnachten, Winter, jeder trockene Halm von einem leise klirrenden Mäntelchen aus weißen Frostkristallen umhüllt. Die Äcker liegen bloß, lehmbraun, vom Reif nur dünn überpudert. Ihr Boden wurde wie in jedem Jahr aufgebrochen, umgepflügt, eingesät, abgeerntet und wieder gepflügt. Wie seit Jahrtausenden. Jawohl, seit Jahrtausenden. Die Steine, die im Lauf dieser Zeit nach oben wanderten, dem Licht entgegen, wurden vom Pflug aus der Erde gehoben und von den Bauern Generation für Generation zu Hügeln aufgeworfen oder an den Feldrainen zu Trockenmauern geschichtet. Nicht alles befindet sich über der Erde. Vieles deckt sie, nicht nur verstreute Steine oder sinnleere Steinhaufen, sondern auch solche, die von Menschenhand in schwerer, mühevoller Arbeit zusammengetragen und aufgeschichtet wurden. Manche richteten die Menschen vor Urzeiten so auf, daß sie mit ihrer Hilfe wiederkehrende astronomische Ereignisse prognostizieren und bestimmen konnten. Andere erhielten in ihrem Innersten eine Kammer, in deren Schutz sie geachtete Persönlichkeiten mit kostbaren Beigaben beisetzten. Das größte (kreisrunde) Steinhügelgrab des Nordens hat einen Durchmesser von 75 Metern und war vielleicht einmal mehr als 10 Meter hoch. Es liegt da, wo Tucholsky im Sommer ‘28 Sonnenbäder nahm und anschließend “seins in die Maschine klapperte”, in Kivik am Fuß des markanten, fast 100 Meter hohen Stenshuvud.
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Das Fahrtenbuch wünscht seinen Lesern einen guten Weg hinüber ins neue Jahr und begibt sich, seiner Bestimmung gemäß, auf eine (kurze) Reise.
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