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Freitag, 15. Februar 2008
Amsterdam. Goldglanz der Nomaden
Eine schöne Stadt, die Millionen von Besuchern aus aller Welt anzieht. Leider war es ein bisschen kalt & neblig. Das drückte vielleicht die Atmosphäre (ebenso wie mein Besuch in dem Hochsicherheitstrakt, der sich Deutsches Generalkonsulat nennt). Ich zumindest fand manches ein wenig trostlos.
Die Augen gingen mir allerdings über, als ich in der Nieuwe Kerk die Ausstellung "Verborgenes Afghanistan" mit den archäologischen Schätzen aus der hellenistischen Zeit besichtigte. Wunderschönes hat die Mischkultur aus griechischen und indischen Einflüssen im baktrischen Reich der Kuschan bis zur Zeitenwende hervorgebracht. Da sitzt ein marmorner Buddha mit östlich meditativem Blick im Lotossitz, doch sein Oberkörper ist der eines griechischen Athleten, dessen Muskeln unter den Falten des fast durchsichtig gearbeiteten Gewands spielen. Eine kleine goldene Aphrodite trägt Flügel wie eine persische Gottheit und das kreisrunde Mal einer Inderin auf der Stirn. Am prachtvollsten aber, wie so häufig, das Gold der Nomaden. Allein in den Gräbern von Tillya-tepe, dem Goldenen Hügel, fanden Archäologen an die 20.000 Einzelteile von goldenen Grabbeigaben, darunter eine filigran gearbeitete Krone aus reinem Gold, die sich für das Reisen zusammenfalten ließ. Der Sothebys-Sachverständige Bruce Chatwin: "...die Vorliebe für leuchtende Farben und das beruhigende Glänzen von Gold. Nomaden tragen überaus kunstvoll gearbeiteten Schmuck, eine Bedu-Frau trägt ihr gesamtes Vermögen um den Hals." Klar, sie muss es jederzeit zum nächsten Lagerplatz mitnehmen können. "Luxus erschwert die Beweglichkeit."

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Mittwoch, 13. Februar 2008
Spätes Mittelalter in Gouda
Vor dem massigen Baukörper von Hollands längster Kreuzkirche verschwindet es beinah, und fast schmalbrüstig zeigt es der spitzen Seite des Markts seine Fassade. Mit seinen hohen Fenstern, den zierlichen Fialen, Spitztürmchen und dem filigranen Maßwerk beherrscht das Rathaus von Gouda dennoch den großen dreieckigen Marktplatz auf die gleiche elegante, wenn nicht gar lässig aufreizende Weise wie jene schlanken gotischen Stifterfiguren, mit denen es auch die Zeit seiner Entstehung gemein hat.

Es war eine Zeit, in der Männer Strumpfhosen trugen, “daz sî wie gelîmet sazen”, um ihre langen Beine zu zeigen, und in der sich die Frauen die Augenbrauen und den Haaransatz zupften, um das Gesicht künstlich höher erscheinen zu lassen. Eine Epoche, die der niederländische Historiker Johan Huizinga jedoch als “Absterben des Überlebten”, als Herbst des Mittelalters betitelte, in der er aber ebenso Zeugnisse einer Verspieltheit und eines Schönheitssinns fand, der in vielem schon den Geist der Renaissance vorwegnahm. “Das Streben nach einem Leben in Schönheit gilt als das eigentliche Kennzeichen der Renaissance... Aber die Grenze zwischen Mittelalter und Renaissance ist auch hier zu scharf gezogen worden. Der leidenschaftliche Sinn, das Leben selbst mit Schönheit zu umkleiden, die verfeinerte Lebenskunst... sie alle sind viel älter als das italienische Quattrocento... Das ganze aristokratische Leben des späteren Mittelalters... ist der Versuch, einen Traum zu spielen. Kern des ritterlichen Ideals bleibt der zur Schönheit erhobene Hochmut... Das spätere Mittelalter ist eine der Endperioden, in denen das kulturelle Leben der höheren Kreise fast ganz zum Gesellschaftsspiel geworden ist. Die Wirklichkeit ist heftig, hart und grausam; man führt sie auf den schönen Traum des Ritterideals zurück und errichtet darauf das Lebensspiel - ein ungeheurer Selbstbetrug, dessen schmerzende Unwahrheit nur dadurch ertragen werden kann, daß leiser Spott die eigene Lüge verleugnet.”
Die Wirklichkeit jener Zeit war tatsächlich hart und grausam, denn es darf nicht vergessen werden, dass die Generationen nach der Mitte des 14. Jahrhunderts unter einem ungeheuren Schock leben mussten; der urplötzlich auftretenden, vorher noch nie dagewesenen und wie rasend und wahllos um sich greifenden Pest.
Im Oktober des Jahres 1347 war ein genuesisches Handelsschiff, dessen Besatzung an fremdartigen schmerzenden Schwellungen in Achselhöhlen und Leisten litt, auf der Rückreise von der Krim in Messina eingelaufen. Binnen Tagen war die ganze Stadt, bald auch Italien infiziert, die Angesteckten starben so rasch wie unweigerlich, und es soll Fälle gegeben haben, in denen die ans Krankenbett gerufenen Ärzte noch vor den Patienten tot umfielen. Priester trauten sich aus Angst vor Ansteckung nicht mehr, Sterbesakramente zu erteilen, und der Papst verkündete für alle Seuchenopfer eine Generalabsolution, weil die Überlebenden nicht einmal mehr mit dem Beerdigen nachkamen. Im Verlauf nur zweier Jahre (1348/49) breitete sich die Pest von Sizilien bis Norwegen über ganz Europa aus. Der größte Chronist des Zeitalters, Jean Froissart, resümierte apathisch: “Ein Drittel der Welt starb.
Moderne demographische Schätzungen bestätigen dies als europaweiten Mittelwert. Auf die heutige Bevölkerung Europas hochgerechnet, bedeutet das etwa so viel, als würden bei uns in den beiden nächsten Jahren mehr als 200 Millionen Menschen an Aids sterben. Kann man sich vorstellen, wie mitleidslos die Überlebenden angesichts der kranken und sterbenden Angehörigen und angesichts der in den Straßen unbestattet verwesenden Leichenhaufen abgestumpft sein müssen?
Da die eigentliche Krankheitsursache völlig unbekannt blieb, verdächtigte man wieder einmal die Juden. Unter dem Hetzruf “Hep! Hep! Hep!” (Hierusalem est perdita, Jerusalem ist verloren) trieb man sie von Carcassone bis Straßburg, Mainz und Antwerpen zusammen und lynchte sie zu Tausenden.
Viele, die die Pest überlebten, ergaben sich anscheinend hinterher einem hemmungslosen Lebensrausch. Unzählige Häuser standen mit allem Hausrat darin leer, man brauchte nur einzuziehen, Besitztümer lagen herrenlos auf der Straße und brauchten nur aufgehoben zu werden. Den gravierenden Mangel an Arbeitskräften nutzten Bauern und Tagelöhner, um Forderungen zu stellen, die von den Herren jedoch sofort brutal unterdrückt wurden. All das und mehr ist ausführlich nachzulesen in Barbara Tuchmans Der ferne Spiegel. “Die Überlebenden der Pest, die sich selbst weder vernichtet noch moralisch verbessert wiederfanden, konnten keinen göttlichen Zweck in den Leiden entdecken... Die Geister, die sich kritischen Fragen öffneten, konnten nie mehr zum Verstummen gebracht werden... Insofern mag der Schwarze Tod der unerkannte Geburtshelfer des modernen Menschen gewesen sein.”
Bei einem Augenzeugen der Pest, bei Boccaccio, findet man tatsächlich schon vernünftige Formulierungen eines Naturrechts, als dessen Begründer man gemeinhin erst im 17. Jahrhundert den Niederländer Hugo de Groot aus Delft ansieht. “Das natürliche Recht eines jeden, der auf Erden geboren ward, ist es aber, sein Leben, soviel er vermag, zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen”, erklärt etwa Pampinea zu Beginn des Decamerone, das Boccaccio 1348 in Florenz begann, während die Pest in der Stadt wütete; und mit dieser Begründung bewegt sie ihre Freundinnen und Freunde, der im Seuchenfieber brennenden Stadt mit all ihrem Leid den Rücken zu kehren und sich auf dem Land in Sicherheit zu bringen. “Worauf warten, wovon träumen wir? Hier verlassen wir niemand, vielmehr können wir umgekehrt uns verlassen nennen, da die Unsrigen, sterbend oder dem Tod entfliehend, uns in so großem Elend alleingelassen haben.” Auf einem angenehmen Landsitz mit einem hübschen Palazzo und blühenden Gärten vertreiben sie sich bekanntlich die Wartezeit auf das Ende der Pest mit Kränzeflechten, Tanzen und dem fröhlichen Erzählen ergötzlicher Geschichten.
“Die müde Aristokratie belacht ihr eigenes Ideal”, schreibt Huizinga über diese Zeit. “Nachdem sie mit all ihren Mitteln der Phantasie, der Kunstfertigkeit und des Reichtums ihren leidenschaftlichen Traum vom schönen Leben aufgeputzt, angemalt und in plastische Form gebracht hatte, besann sie sich, daß das Leben doch eigentlich nicht so schön sei, und lachte.” - Diese Menschen sahen nach der Pest vielleicht ihr ganzes Leben in Trümmern liegen und lachten? Lachten über die eigene Lebensweise? In der Tat, Ritter, die in voller Rüstung Schnecken bekämpfen, und Pfaffen, die leichtgläubige Vögelchen mit der Leimrute fangen, belegen dieses selbstironische Gelächter. Zu sehen sind solche Szenen unter anderem im kostbarsten Buch des 15. Jahrhunderts, dem Stundenbuch des Herzogs von Berry (Les Très Riches Heures du Duc de Berry), einem Prinzen aus dem Haus Valois. Seine ganzseitigen Monatsblätter zeigen jeweils Schlösser, die sich Jean le Magnifique in seinen Herzogtümern bauen ließ. Das Rathaus in Gouda könnte ihnen (in verkleinertem Maßstab) unmittelbar nachempfunden sein, und es fällt leicht, sich die auf den Stundenblättern abgebildeten Menschen auf dem Platz vor diesem Rathaus vorzustellen.
Es strahlt die gleiche verspielte Grazie aus wie sie.

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Montag, 11. Februar 2008
Rotterdamer Sprungturm


Früher hießen Hochhäuser poetisch überhöht "Wolkenkratzer", bildeten "Skylines" und waren die Speerspitze einer avantgardistischen Architektur. Dann kamen sie in einen schlechten Ruf, wurden Synonyme für Unpersönlichkeit und technische Hybris und dienten als Sprungtürme für Leute, die das alles nicht mehr aushielten. Monotonie und Unpersönlichkeit und die damit verbundenen psychologischen und soziologischen Probleme wurden eng mit der himmelstrebenden Bauweise verknüpft. Hochhäuser sind aber auch, selbst wenn es sich um Doppelhäuser handelt, Unikate. Deshalb sind sie besonders geeignet, Identität zu stiften. Ein bestimmtes Hochhaus statt einer Straße als Adresse angeben zu können, ist in Holland durchaus keine Blamage. So viel Wohnhaus auf einem Fleck prägt das örtliche Bewusstsein. Die Behauptung der Rotterdamer etwa, dass sie sich trotz verwaister Straßen, trotz dürftigen Nachtlebens, trotz ihrer nicht vorhandenen Innenstadt am Nabel Europas befänden, wird so verständlich... (Aus: POLIS, Zeitschrift für Architektur und Stadtentwicklung, 13 (2001), H. 3, S. 26-30)
Nicht vorhandene Innenstadt, dürftiges Nachtleben? Das sehen die Rotterdamer ganz anders. “Den Haag, das ist doch so eine verschlafene Bürokratenstadt, in der nichts los ist”, sagen M+W, zwei junge holländische Journalisten, und führen uns natürlich erst einmal ins Dudok, eine nach dem Stararchitekten der niederländischen Moderne benannten Brasserie, brechend voll und mit den Ausmaßen, dem Charme und dem Lärmpegel einer Bahnhofshalle ausgestattet. Tatsächlich war es einmal die Empfangshalle einer Versicherung. Aber schön hell ist es, denn die Fensterflächen sind, niederländisch-calvinistischen Anforderungen gemäß, riesig. (Eine Filiale des Dudok gibt es natürlich auch in Den Haag. Und der Apfelkuchen mit Schlagsahne ist grandios.)
Später soll es einmal an die Wilhelminapier gehen, Rotterdams geplanten Nachbau der Skyline von Manhattan. Doch das schieben wir noch ein wenig auf, denn, wie die ZEIT letztes Jahr meldete, wartet Architekt Rem Koolhaas noch immer darauf, dort endlich mit dem Bau seines Hochhauskomplexes De Rotterdam beginnen zu können. “Die Vorverkäufe für das Ensemble aus acht neben- und übereinander arrangierten Großklötzen, fast eine Skyline für sich, laufen schleppend.” Eine “Skyline” ist anscheinend etwas, das sich selbst Rotterdamer vielleicht doch lieber von außen und aus der Ferne besehen. Noch besser wäre bloß virtuell am Bildschirm.

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Donnerstag, 7. Februar 2008
Sonnenflecke an der Mauer

Stadtansichten wie diese (ja, noch einmal R'dam) rufen in mir von allein nach Gegenbildern, und ein Schlagwort wie das von der Rotterdämmerung lässt natürlich an einen alten Seelenhygieniker denken. Ein erstes kombiniertes Ergebnis sieht dann etwa so aus:

"Der freie Geist nähert sich wieder dem Leben... Wie es ihm gefällt., Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer!... Es ist eine gründliche Kur gegen allen Pessimismus."

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Dienstag, 5. Februar 2008
Rotterdämmerung II

Hier der gleiche Platz bei Tag.
Niederländer scheinen menschengerechte Architektur und Individualität ganz wichtig zu nehmen.

Dagegen eröffne ich ohne weiteren Kommentar eine lose Reihe, die ich schlicht Gegenbilder nenne

Im Zederndunkel
Stand ein Pupillenschimmer:
Ein Hirsch im Frühling.
(Robutsu)

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Montag, 4. Februar 2008
Rotterdämmerung

Der schöne Name stammt leider nicht von mir, sondern vom Internationalen Filmfestival in Rotterdam (R. toont verontrustende, verwarrende en hilarische films uit het schemerduister van de cinema), bei dem in den letzten elf Tagen mehr als 200 Filme aus aller Herren Länder von Kirgisistan bis Uruguay zu sehen waren. Wer das nicht bewältigte, konnte sich am gestrigen Sonntag von der Tageszeitung de Volkskrant an die Hand nehmen und durch eine Auswahl von fünf angeblichen Publikumsfavoriten führen lassen. So sah ich einen polnischen Film mit holländischen Untertiteln, verpasste einen dänischen Film, in dem vor allem Arabisch gesprochen wurde, sah einen flämischen Film, der keine Untertitel wert war, und mit It's Hard to Be Nice (Tesko je biti fin) schließlich einen schön erzählten bosnischen Film aus Sarajewo, in dem am Ende doch das Gute im Menschen siegt. - Bis wir versuchten, mit dem Bus nach Hause zu fahren. It's hard to be nice to a dutch busdriver.

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Freitag, 1. Februar 2008
An der Haltestelle
Der nächste Schritt führt über die Straße zur Bushaltestelle mit ihrem Wartehäuschen, das nach mitteleuropäischem Empfinden verkehrt herum, nämlich mit der Rückseite zur Fahrbahn aufgestellt ist. Wer jetzt gleich wieder denkt: Nun ja, in einem Land mit gelben Nummernschildern... wird bald lernen, dass es gerade in Rücksicht auf die Gelbenummernschildfahrer geschah. Die preschen nämlich auch dann, wenn der andauernde Regen wieder einmal die halbe Fahrbahn in eine bachbreite Pfütze verwandelt hat, mit unverminderter Geschwindigkeit vorbei, wobei sie gut drei Meter hohe Fontänen aufpflügen, gegen die die Rückwand des Wartehäuschens als notdürftiger, wenn auch höchst unzureichender Spritzschutz funktioniert. Besser, man wartet einige Meter von der Haltestelle entfernt im strömenden Regen. Und wartet. Der angeschlagene Fahrplan scheint nämlich auch im Regelfall eher als Vorschlag gemeint zu sein, an den sich zumindest die Busfahrer nicht gebunden fühlen. Dass sie im Berufsverkehr zu spät kommen, ist ihnen kaum vorzuwerfen, aber dass sie zum Ausgleich dafür spätabends alles aus ihren Kisten rausholen und auch deutlich vor der fahrplanmäßigen Zeit an den Haltestellen vorbeifahren, will mir nicht unbedingt als kundenfreundlich einleuchten. Kunden scheinen sie ohnehin nicht zu transportieren; allenfalls Stückgut oder eher noch Schüttgut. Jedenfalls wird bei jeder Haltestelle und Ampel derart brutal abgebremst und beschleunigt, dass alles, was sich nicht fest irgendwo anklammern oder auf den Sitzen verkeilen kann, gut durcheinandergeschüttelt wird. Das ist besonders deshalb äußerst wirkungsvoll, weil anscheinend fast nur kopftuchtragende Mütter mit Kinderwagen und Rentner die Busse benutzen. Der rüstigere Teil der Bevölkerung treibt derweil Sport: Pfützenfahren, in Autos mit gelben Nummernschildern.

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