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Sonntag, 5. Februar 2012
Nouvelle-Cythère
Der Sündenfall Tahitis läßt sich ziemlich genau auf den Mittsommertag des Jahres 1767 datieren, als der englische Kapitän Samuel Wallis als erster Europäer vor Tahiti Anker warf. An Land ging er erst Tage später, weil er und seine Mannschaft von Skorbut und anderen Krankheiten sehr geschwächt waren und von den Bewohnern der Insel auch noch feindselig empfangen wurden.

[24 June 1767] At six o’clock the next morning, we began to warp the ship up the harbor, and soon after, a great number of canoes came upon her stern. As I perceived they had hogs, fowl, and fruit on board, I ordered the gunner, and two midshipmen, to purchase them for knives, nails, beads, and other trinkets. . . . By eight o’clock, the number of canoes was greatly increased, and those that came last were double, of a very large size, with twelve or fifteen stout men in each. I observed, with some concern, that they appeared to be furnished rather for war than trade, having very little on board except round pebble stones. . . . There was a universal shout from all the canoes, which at once moved towards the ship, and a shower of stones poured into her on every side. . . When the great guns began to fire, there were not less than three hundred canoes about the ship, having on board at least two thousand men; many thousands were also upon the shore. . . . Among the canoes that were coming toward the bow, there was one which appeared to have some Chief aboard, as it was by signals made from her, that the others had been called together: it happened that a shot, fired from the guns forward, hit this canoe so full as to cut it asunder. As soon as this was observed by the rest, they dispersed with such haste that in half an hour there was not a single canoe to be seen.

So erzählt John Hawkesworth in seinem Account of the Voyages Undertaken by the Order of His Present Majesty for Making Discoveries in the Southern Hemisphere... 1773 die erste Begegnung zwischen Europäern und Tahitianern auf der Grundlage von Wallis’ Logbuch und Bericht an die Admiralität. Offenbar hielt diese Wallis’ eigenen Bericht für nicht salonfähig. Die alte Teerjacke ließ sich zwar mit einer zarten Feder in der derben Patsche am Schreibtisch porträtieren, aber lesbar schreiben konnte er wohl nicht. Es war ja auch nicht seine vordringliche Aufgabe. Hawkesworth hingegen hatte sich als Nachfolger von Samuel Johnson im Gentleman’s Magazine und Herausgeber einer Ausgabe der Werke von Swift einen Namen gemacht und wurde darum mit der literarischen Bearbeitung der Berichte von Byron, Wallis, Carteret und Cook beauftragt. Eine seiner Vorgaben besagte, daß er das lesende Publikum tunlichst mit derben und anstößigen Ereignissen verschonen sollte. Und so berichtete er getreulich, daß Wallis nach dem zurückgeschlagenen Angriff mit der um die Bucht von Matavai herrschenden Stammeskönigin Purea Frieden schloß und seiner Mannschaft anschließend einen Monat Landurlaub spendierte, damit sie sich, umsorgt von den Eingeboreninnen, von der entbehrungsreichen langen Seereise erholen und auskurieren konnte. Das “Gastgeschenk” aber, das Wallis und seine wilden Kerle den arglosen Tahitianerinnen zum Dank anhängten, brachte erst Joseph Banks zur Sprache, der zwei Jahre später mit Cook Tahiti besuchte. Er berichtet, Tahitianer gesehen zu haben, die von schwersten Verwundungen wieder genesen seien, doch “when the juices of the body are pure, and the patient is temperate, nothing more is necessary, as an aid to Nature, in the cure of the worst wound, than the keeping it clean.” Über saubere und reine Körpersäfte verfügten diese edlen Wilden also; vielmehr hatten sie darüber verfügt, bis Wallis aufgekreuzt war.

“[The natives] commerce with the inhabitants of Europe has, however, already entailed upon them that dreadful curse which avenged the inhumanities committed by the Spaniards in America, the venereal disease. As it is certain that no European vessel, besides our own, except the Dolphin, and the two that were under the command of Mons. Bougainville, ever visited this island, it must either have been brought by one of them, or by us. That it was brought by the Dolphin, Captain Wallis has demonstrated, in the account of her voyage, in the first volume, and nothing is more certain, than that when we arrived it had made most dreadful ravages in the island. One of our people contracted it within five days after we went on shore, and by the enquiries among the natives, which this occasioned, we learned, when we came to understand a little of their language, that it had been brought by the vessels which had been there about fifteen months before us, and had lain on the east side of the island. They described, in the most pathetic terms, the sufferings of the first victims to it, and told us, that it caused the hair and the nails to fall off, and the flesh to rot from the bones; that it spread an universal terror and consternation among them, so that the sick were abandoned by their nearest relations, lest the calamity should spread by contagion, and left to perish alone in such misery as till then had never been known among them.”

Ein Jahr vor Cook und kein Jahr nach Wallis richtete Louis-Antoine de Bougainville seine aristokratisch hoch getragene Nase gen Tahiti. Er hatte als Offizier aktiv an der Verteidigung Québecs und am Verlust Kanadas teilgenommen und anschließend auf eigene Faust versucht, ersatzweise die so ausgedehnten, nur von den Seemächten bis dahin unbeachteten Îles Malouines (heute Falklandinseln) für die Grande nation zu erobern, doch auf Druck Spaniens und Englands befahl ihm König Ludwig XV., sie zu räumen und an Spanien zu verkaufen. Zudem gab er Bougainville den Auftrag, von den Malwinen gleich weiterzufahren und das durch die Niederlagen im Siebenjährigen Krieg ramponierte Ansehen Frankreichs mit Hilfe einer ersten französischen Weltumsegelung wieder aufzubessern.
Bougainville war ein gebildeter Mann und ein großer Anhänger der Aufklärung. Er hatte als erster Weltumsegler einen Stab von Naturforschern an Bord (darunter übrigens, lange unerkannt als Mann verkleidet, mit Jeanne Baret die erste Frau, die die Welt umsegelte). Dank seiner umsichtigen und fortschrittlichen Maßnahmen an Bord verlor er von den 330 Mann Besatzung auf der gesamten Reise nur sieben. Ein ungeheuer günstiges Verhältnis für die damalige Zeit.

Am 4. April 1768 erreichten die Boudeuse und die Étoile Tahiti. Schon beim ersten Anblick machte die Insel einen paradiesischen Eindruck auf Bougainville. Die Bucht vor ihnen öffnete sich wie ein Amphiteater, in das sogar ein kleiner Wasserfall schäumte, und selbst die höchsten Berge dahinter wirkten nicht karg, sondern waren über und über grün bewachsen. Im Flachland an der Küste wechselten kleine Waldungen mit Weiden und Pflanzungen, dazwischen, idyllisch in das üppige Grün gebettet, die Hütten von Eingeborenen.
Die erste Annäherung verlief wie im Jahr zuvor bei Wallis. Die Inselbewohner paddelten in Auslegerbooten voller Bananen, Kokosnüssen und anderen Früchten auf die Schiffe zu, doch anders als bei Wallis unbewaffnet, und zu einem Angriff kam es nicht, dafür zu einem regen Tauschhandel. Am nächsten Tag kehrten sie zurück, “cette fois aussi, il vint dans les pirogues, quelques femmes jolies et presque nues”, diesmal also auch ein paar hübsche, fast nackte Frauen an Bord.
Bougainville war nun fest entschlossen, an Land zu gehen, und ließ von den eigenen Booten eine Passage durchs Riff ausloten.
Umgeben von zahlreichen Kanus liefen die beiden Schiffe vorsichtig in die Bucht und suchten einen geeigneten Ankerplatz, wobei die Matrosen bestimmt nicht sehr konzentriert an der Arbeit waren.

“Die Pirogen waren voller Frauen, deren schöner Körperwuchs den meisten europäischen Frauen nicht nachsteht und deren körperliche Schönheit allemal mit der von Europäerinnen mindestens wetteifern kann. Die meisten dieser Nymphen waren nackt, weil die Männer und die alten Frauen ihnen die Kleider abnahmen, in die sie sich sonst hüllen. Trotz ihrer Unschuld (naïveté) warfen sie uns von ihren Booten ein wenig verlegene Blicke zu, sei es, weil die Natur ihr Geschlecht überall mit einer angeborenen Schüchternheit ausgestattet hat, oder sei es, weil selbst in den Ländern, in denen noch die Freizügigkeit des Goldenen Zeitalters herrscht, die Frauen vorgeben, das nicht zu wollen, was sie sich am meisten wünschen (même dans les pays où règne encore la franchise de l'âge d'or, les femmes paraissent ne pas vouloir ce qu'elles désirent le plus.) Die Männer, einfacher oder freier, drückten sich eindeutiger aus: sie drängten uns, eine Frau auszusuchen und ihr an Land zu folgen, und ihre Gesten ließen keinen Zweifel daran, auf welche Weise wir dort ihre nähere Bekanntschaft machen sollten. Ich frage: Wie sollte man mitten in einem solchen Spektakel vierhundert junge, französische Seeleute wieder an die Arbeit bringen, die seit einem halben Jahr keine Frau mehr gesehen hatten? Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die wir zu treffen suchten, gelang es einem jungen Mädchen an Bord zu kommen. Sie kam aufs Achterdeck und stellte sich über eine der Luken, die wir geöffnet hatten, um den Männern unten an der Winde frische Luft zuzuleiten. Unbekümmert ließ sie das Tuch fallen, das sie bedeckte, und bot sich aller Augen so dar, wie Venus sich den phrygischen Schäfern gezeigt hatte, und sie hatte in der Tat einen himmlischen Körperbau.”

Als Bougainville am folgenden Tag an Land ging, glaubte er den Garten Eden zu betreten: “Wir schritten über Rasen, auf dem Obstbäume standen und der von mehreren kleinen Bächen durchflossen wurde, die angenehme Kühle verbreiteten. Viele Menschen saßen im Schatten von Obstbäumen und genossen die Segnungen, die die Natur so freigiebig über sie ausstreute. Überall stießen wir unter ihnen auf Gastfreundschaft, Ruhe, unschuldige Freude und alle Anzeichen des Glücks.”
Auch seinen Rousseau hatte der aufgeklärte Franzose sorgfältig gelesen:

“Obwohl die Insel in viele kleine Bezirke unter je einem unabhängigen Oberhaupt unterteilt ist, scheint es keinerlei innwärtige Kriege oder Hass zu geben. Wahrscheinlich gehen die Tahitianer stets aufrichtig und anständig miteinander um. Ob sie zu Hause sind oder nicht, ihre Hütten stehen bei Tag und Nacht immer offen. Jeder bedient sich von den Früchten des nächstbesten Baums oder in der Hütte, die er gerade betritt. Es scheint, daß sie bei allem, was zum Leben notwendig ist, kein Privateigentum kennen und daß alles allen gehört. [...] Ich vermag nicht zu sagen, ob ihre Ehen zivil geschlossen oder durch die Religion geheiligt sind, ob sie unauflöslich sind oder geschieden werden können. Wie auch immer, die Frauen unterwerfen sich ihren Männern völlig, jede Untreue ohne Zustimmung des Mannes würden sie mit ihrem Blut reinwaschen. Diese Zustimmung aber ist leicht zu erlangen. Eifersucht ist eine so unbekannte Leidenschaft bei ihnen, daß gemeinhin der Ehemann der erste ist, der seine Frau drängt, sich einem anderen hinzugeben. Auch eine unverheiratete Frau braucht sich in dieser Hinsicht keine Zurückhaltung aufzuerlegen; alles ermuntert sie, der Neigung ihres Herzens oder ihren sinnlichen Wünschen zu folgen. Öffentlicher Beifall beklatscht noch ihr Sichhingeben. Keine noch so große Zahl vorangegangener Liebhaber scheint ein Hindernis zu sein, hinterher noch einen Ehemann zu finden. Weshalb sollte sie also dem Verführerischen des Klimas, den Lockungen anderer Beispiele nicht nachgeben? Schon allein die Luft, die diese Menschen atmen, ihre Gesänge, ihre Tänze, fast immer von aufreizenden Gesten begleitet, all das erinnert jeden Augenblick an die Annehmlichkeiten der Liebe, ruft dazu auf, sich ihr hinzugeben. [...]
Jeden Tag spazierten unsere Männer allein oder in kleinen Gruppen unbewaffnet über die Insel. Man bat sie in die Häuser, dort gab man ihnen zu essen, und die Höflichkeit der Gastgeber hatte damit noch nicht ihr Bewenden, sie boten ihnen auch noch junge Frauen an. Augenblicklich füllte sich die Hütte mit neugierigen Männern und Frauen, die einen Kreis um den Gast und das junge Opfer der Gastfreundschaft bildeten. Der Boden wurde mit Blüten und Blättern bestreut, und Musiker sangen zur Begleitung von Flöten Freudenhymnen. Hier ist Venus die Göttin der Gastfreiheit, aus ihrem Kult macht man kein Geheimnis, und jede Vergnügung in ihrem Dienst ist ein Fest für das ganze Volk.”

Einen einzigen kleinen, häßlichen Makel wiesen einige der unschuldigen Naturkinder aus dem Garten Eden denn doch auf, aber wie Bougainville erfuhr, entsprang er nicht ihrem eigenen Naturzustand, sondern war von außen eingeschleppt worden:
“Von Aotourou [einem Tahitianer, der aus freien Stücken mit Bougainville nach Frankreich fahren wollte] hörte ich, daß ungefähr acht Monate vor unserer Ankunft ein englisches Schiff nach Tahiti gekommen war. Es war das unter dem Befehl von Monsieur Wallace stehende. Derselbe Zufall, der uns diese Insel entdecken ließ, hatte auch die Engländer hergeführt, während wir noch im Rio de la Plata lagen [...] Ich weiß nicht, ob die Einwohner von Tahiti, die durch die Engländer ihre erste Bekanntschaft mit Eisen machten, von ihnen nicht auch mit der venerischen Krankheit infiziert wurden, die wir bei ihnen verbreitet fanden.”
Dem Gesamtbild von Tahiti als Paradies auf Erden tat es keinen Abbruch, daß sich die Franzosen auf Tahiti die Franzosen geholt hatten. Als Bougainville 1771 in Paris seinen Reisebericht veröffentlichte, war der europäische Mythos von Tahiti geboren.

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