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Freitag, 30. Juli 2010
"Die Sehnsucht nach der großen Gefahr"
“Paris, 27. Mai 1944
Alarme, Überfliegungen. Vom Dache des Raphael sah ich zweimal in Richtung von Saint-Germain gewaltige Sprengwolken aufsteigen... Beim zweiten Mal, bei Sonnenuntergang, hielt ich ein Glas Burgunder, in dem Erdbeeren schwammen, in der Hand. Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln lag in gewaltiger Schönheit, gleich einem Kelche, der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird.”
(Am nächsten Morgen, dem Pfingstsonntag, beendete er “die erste Gesamtlesung der Bibel, mit der ich am 3. September 1941 begann.”) Jüngers selbst noch in den Tagebüchern in kristallinen Granit gemeißelte Prosa hinterläßt manchmal den Eindruck, er habe auch beim Schreiben die Uniform oder Gehrock und Vatermörder nicht ausgezogen, aber ich glaube, zumindest für den Jünger vor dem Zweiten Weltkrieg gilt, daß ihm seine stets formvollendet perfekte, kalt brillierende Sprache ein notwendiges Korsett, eine für den wild funkelnden Kristall seines Geistes notwendige Fassung gewesen ist. Denn im Grunde seines Herzens war (und blieb) Jünger ein aufbegehrender (später sich entziehender) Rebell und Abenteurer.
Schon als Junge entwickelte er sich aus Widerwillen gegen das autoritäre, Kadavergehorsam verlangende preußisch-wilhelminische Schulwesen zu einem verstockten, schlechten Schüler, den die Eltern mehrfach gezwungenermaßen von der Schule nahmen, die er selbst nur als “Presse” bezeichnete. Über die gnadenlose Anpassungs- und Unterdrückungsmaschinerie des Schulwesens seiner Kindheit schrieb er noch mit über achtzig Jahren den Erziehungsroman Die Zwille, in dem sich Kapitel mit Überschriften wie “Die Daumenschraube” finden.
Diese Prägung durch die preußischen Schulanstalten bestimmten zum Teil auch das Bild, das er sich von seinem die Familie patriarchalisch streng regierenden Vater machte. Mit 17 erfolgte der Ausbruch. Von dem Kost- und Schulgeld für ein halbes Jahr kaufte er sich einen Revolver, Stanleys Geheimnisse des dunklen Erdteils und eine Eisenbahnfahrkarte nach Frankreich. In Verdun meldete er sich zur Fremdenlegion. Von Marseille erfolgte die Verschiffung nach Oran und der Weitermarsch zum Ausbildungslager in Siddi-Bel-Abbès. Von dort versuchte Jünger zu desertieren, um auf eigene Faust ins “wilde Afrika” zu entkommen, doch wurde er geschnappt und eingebunkert. Der Vater bat unter Hinweis auf die Minderjährigkeit des Sohnes das Auswärtige Amt um eine diplomatische Intervention, und einen Monat nach dessen Flucht telegraphierte er:
“Franzoesische Regierung hat deine Entlaszung verfuegt. Lasz dich photographieren.”

Der nächste Ausbruch erfolgte kein Jahr später, doch teilte Jünger ihn diesmal mit sehr, sehr vielen jungen Männern seiner Generation: “Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr”, hielt er in den Stahlgewittern das Motiv vieler fest, die sich wie er bei den Mobilmachungen zum Ersten Weltkrieg freiwillig meldeten. “Ein rascher Ausflug ins Romantische sollte es sein”, gab Stefan Zweig in der Welt von Gestern die anfängliche Stimmung wieder. Herausgehoben haben Jünger aus den Millionen Kriegsfreiwilliger sein unbestreitbarer persönlicher Mut als Stoßtruppführer in den Schützengräben und die Kaltblütigkeit, mit der er noch in den vordersten Linien stets seine Notizbücher führte. “Ich glaubte ins Herz getroffen zu sein”, beschreibt er eine seiner eigenen Verwundungen.
“Im Stürzen sah ich die weißen, glatten Kiesel im Lehm der Straße; ihre Anordnung war sinnvoll, notwendig wie die der Sterne und verkündete große Geheimnisse. Das war vertraut und wichtiger als das Gemetzel, das mich umgab.”
Er überlebte diese Verwundung ebenso wie etliche weitere, als letzte einen Lungenschuß, den er im August 1918 erhielt. “In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es immerhin erreicht, daß elf von diesen Geschossen auf mich persönlich gezielt waren”, zog er in den Tagebüchern bei Kriegsende eigenwillig Bilanz.
Daß ein Mann, der so aus den “Stahlgewittern” des Weltkriegs hervorging, auch später unerschrocken blieb, kann man sich vorstellen; und so ließ er sich auch von aufsteigenden politischen Gewalthabern nicht leicht ins Bockshorn jagen. Wie er sich die Nazigrößen vom Leib hielt und sich von ihnen trotz anfänglich zum Teil in gleiche Stoßrichtung zielender Einstellungen nicht vereinnahmen ließ, nachdem er einmal ihre Schuftigkeit erkannt hatte, gehört meiner Meinung nach zu seinem mutigsten Verhalten.
Ebenfalls Mut erforderten seine teils abrupten Wendungen als Schriftsteller. Zunächst einmal die Entscheidung, statt einer gesicherten Laufbahn als Berufsoffizier plötzlich auf die ungesicherte Existenz eines freiberuflichen Schriftstellers umzusatteln. Immerhin hatte er sich bereits einen gewissen Namen als Kriegsschriftsteller gemacht, doch mit seinem ersten literarischen Werk stieß er sehenden Auges genau diese Leserschaft provozierend vor den Kopf. Programmatisch sein Titel:


Leser, die es aufschlugen, fanden darin statt einer weiteren Fortsetzung kriegerischer Abenteuer auf einmal ganze Kapitel über “Das Rotschwänzchen” oder “Violette Endivien” und seitenlange, glühende Beschreibungen von Zinnien und anderen Zimmerpflanzen.
“Den tiefsten Eindruck erwecken diese Blumen dort, wo sie die Farben glühender Metalle nachahmen, und das vor allem bei jenen Arten, die sich zu Kolben ausstrecken. Zwar fehlt ihnen das Grelle, Raketenhafte, das manche Hyazinthen, und vor allem die Kniphofia, auszeichnet, doch dafür prägen sich die späten Formen der Glut in ihnen aus, bei denen die Wärme das Licht überwiegt. Dann scheint sie ein glühender Rausch zu umzittern, oder es geht das bunte Glosten frisch gegossener Metallkerne von ihnen aus. In mannigfaltigen Spielarten spinnt sich das Motiv des langsam erkaltenden Erzes aus, indem helle Randfarben konzentrisch abdunkeln. Dergleichen Anblicke rufen eine lebhafte und fast schmerzliche Freude hervor, indem das Herz durch glühende Berührung an die Verwandtschaft mit der Erde erinnert wird.”
Fast mystisch glüht der kühle Kriegsberichterstatter in solch rauschhaften Blütenträumen auf, und sein Biograph hat das ganze Büchlein als “Generalangriff auf das cartesianische Denken” bezeichnet. Jünger selbst beschrieb, was ihn damals ritt, in einem Sizilischen Brief an den Mann im Mond so: “Wer vom Zweifel geschmeckt hat, dem ist bestimmt, nicht diesseits, sondern jenseits der Grenzen der Klarheit nach dem Wunderbaren auf Suche zu gehen.” – Ein Grenzgänger, einer, der Grenzerfahrungen suchte, ist Jünger in vielem sein Leben lang geblieben; am augenfälligsten vielleicht in seinen Drogenexperimenten, in denen er noch als Endfünfziger mit dem Erfinder des LSD auf ein paar Trips ging.

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