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Freitag, 29. Januar 2010
Auf Matsch oder auf Sand gebaut?
“Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der ist einem törichten Manne gleich, der sein Haus auf den Sand baute.
Da nun ein Platzregen fiel und kam ein Gewässer und wehten die Winde und stießen an das Haus, da fiel es und tat einen großen Fall.”
(Matth. 7, 26-27)


Rotterdam - Den Haag, Nachbarn in der südholländischen Randstad und doch zwei völlig unterschiedliche Stadtkonzepte. Ausgerechnet Rotterdam, mit sechs Metern unter dem Meeresspiegel der tiefste bewohnte Punkt der Niederlande, macht sich auf seinen schwankenden Flußsedimenten, die permanent trocken gepumpt werden müssen, um nicht die ganze Stadt absaufen zu lassen, willentlich zur Spielwiese für die Hochhausprojekte selbstverliebter Architekten. Und auch politisch gibt sich Hollands Hafen zur Welt programmatisch als città aperta, offene Stadt, die seit langem schon Zuwanderer mit offenen Armen aufnimmt. Es kamen und kommen vor allem Menschen aus den ehemaligen niederländischen Kolonien, über 50.000 Surinamer, über 20.000 aus den Niederländischen Antillen, aber auch über 40.000 Türken und 35.000 Marokkaner waren es bis 2005. So ist Rotterdam die einzige Stadt der Niederlande geworden, in der sich das Durchschnittsalter der Bevölkerung seit 2000 verjüngt hat. Demographischen Hochrechnungen zufolge sollen ab dem Jahr 2017 die Zugewanderten gegenüber den Alteingesessenen in der Stadt die Mehrheit bilden. Einen Bürgermeister mit holländischem und marokkanischem Paß hat Rotterdam seit letztem Jahr.
Die Stadtregierung hat es stets abgelehnt, für Immigranten irgendwelche Sonderregelungen oder Sondermaßnahmen zu treffen. Sie sollten sich gefälligst in die bestehenden Strukturen integrieren. Nachdem es daraufhin 1972 in dem ehemaligen Hafenarbeiterviertel Afrikaanderwijk zu Krawallen und Zusammenstößen zwischen Einheimischen und Gastarbeitern gekommen war, gründete die Stadtverwaltung erst einmal eine eigene Migrationsbehörde und vergab günstige Kredite an junge Holländer, die willens waren, in den bis dahin entstandenen Ausländervierteln Häuser und Wohnraum zu erwerben. Im Ergebnis ist Rotterdam ein multikultibunter Melting Pot geworden, mit dem niedrigsten Durchschnittseinkommen aller niederländischen Städte, mit einem der niedrigsten Bildungsniveaus (weshalb sehr viele Stellen für besser Qualifizierte mit Pendlern aus anderen Städten besetzt werden müssen), mit den höchsten Sozialausgaben und der höchsten Kriminalitätsrate in den Niederlanden. Trotzdem sind viele Rotterdamer stolz gerade auf das multikulturelle Durcheinander in ihrer Stadt und sehen voller Verachtung auf das als langweilige Verwaltungsstadt verschrieene Den Haag herab, das sie eine Stadt der stillen Apartheid schimpfen, deren Einwohner säuberlich in Hagenaars und Hageneezen unterteilt werden.
Dabei gilt auch in Den Haag fast die Hälfte aller Einwohner als “allochthon”, also zugewandert (unter ihnen stellen 50.000 Hindoestanen, das sind Surinamer indischer Herkunft, die größte Gruppe) und doch sind sie längst nicht überall in der Stadt in diesem Umfang sichtbar.
Eine Linie verläuft durch Den Haag. Heute kaum mehr erkennbar, stellt sie ursprünglich die Trennlinie zwischen den beiden Bodenarten dar, die in Holland bis heute oft auch etwas über die soziale Herkunft aussagen: Zand und Veen. Sand bezeichnet die alten Dünenrücken, die sich über die früher unbewohnbaren feuchten Sumpfniederungen (Veen) erheben. Auf der nebenstehenden Karte sind die Sandrücken und -böden gut zu sehen. Das Veen, das unter Meeresniveau liegt, ist nämlich blau überflutet dargestellt. Auf Sand geboren, das ist in Holland so etwas wie ein Synonym dafür, aus einer alteingesessenen und oft auch besser betuchten Familie zu kommen. Veen wurde erst durch die jahrhundertelangen Entwässerungsbemühungen der Holländer trockengelegt und bildete dann das Siedelland für meist ärmere Neuankömmlinge. Es ist verblüffend, aber in Den Haag ist das bis heute so. Wer etwa am prachtvollen gründerzeitlichen Scheveninger Kurhaus am Strand in eine Straßenbahn der Linie 1 steigt, kann spätestens hinter dem Stadthaus eine bis dahin nicht vorhandene, dann aber zunehmende Pigmentierung seiner Mitreisenden nicht mehr übersehen. Die Bessergestellten und Hellhäutigen wohnen auf dem alten Dünenkamm nahe dem Meer, die Ärmeren und die “Allochthonen” drängen sich in den tieferliegenden Stadtvierteln auf Veen, südöstlich des Zentrums und der Bahnlinie. Der Anteil der “Autochthonen” in diesem Little India beträgt stellenweise gerade mal 10%. Diese Form der Ghettoisierung ist es, die die Rotterdamer und andere als heimliche Apartheid bezeichnen.
Es läßt sich aber durchaus fragen, ob sie tatsächlich allein eine von der Stadtverwaltung, Mieten und Grundstückspreisen diktierte Konzentration darstellt, oder ob nicht die Hindoestanis selbst Wert darauf legen, möglichst nah beieinander zu wohnen. Nach wie vor kommen nämlich zum Beispiel Eheschließungen außerhalb der eigenen Gemeinde eher selten vor, und die soziale Kohäsion bzw. soziale Kontrolle der Familie, der Verwandten und Nachbarn soll außerordentlich hoch sein. Der Druck auf die Einzelnen entsprechend. Jahr für Jahr unternehmen vor allem junge Hindoestanis in Den Haag nicht weniger als 200 registrierte Selbstmordversuche.

Unwissentlich hatten wir das Glück, eine Wohnung “op 't zand” zu finden, und wenn ich abends einen Spaziergang durch die angrenzenden Viertel unternehme, habe ich das Gefühl, in den Auffahrten zu den Häusern steht die höchste Dichte an Jaguars, die mir je untergekommen ist. Aber das ist ja mittlerweile auch eine indische Automarke. À propos, ich habe mich doch neulich hier geoutet als jemand, der von der Bollywoodwelle in unseren Kinos nicht ganz unbeleckt geblieben ist. Nachdem das erst einmal heraus war und ich wieder einige Male Shava, Shava gesagt hatte, wollte ich gern wieder einmal in einem dieser umwerfend komisch üppig-schwülstigen Leinwandepen schwelgen. Nachsehen also, ob es etwa einen Bollywoodschmachtschinken auf DVD in der Stadtbücherei gibt. - Einen? Hunderte! Alles, was das cineastische Hinduherz begehrt. Also schön eine ganze Wunschliste aus dem Online-Katalog der Openbaren Bibliotheek im Stadthaus am Spui zusammengestellt. Am Abend jedoch kehrte die Herzogin mit leeren Händen aus der Innenstadt zurück. - Der gesamte Bollywoodbestand war ausgelagert, in eine Filiale am anderen Ende der Stadt, auf Veen.
Am nächsten Abend fuhren wir hin. An sämtlichen Benutzercomputern mit Internetzugang ausschließlich Köpfe unter glänzenden schwarzen Haaren oder schwarzen Kopftüchern, überhaupt die weitaus überwiegenden Besucher deutlich “allochtoner” Herkunft und ebenso alle MitarbeiterInnen bis auf einen müde wirkenden blonden und rosahäutigen Holländer, der uns nach unserer Frage leicht resigniert ans ausgedehnte Bollywoodregal führte. Umso mehr lächelte die junge Bibliothekarin mit den langen schwarzen Haaren an der Ausleihe, als sie unsere Auswahl sah. “Der hier ist schön”, seufzte sie leise und rollte ihre großen, dunklen Augen.

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