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Sonntag, 25. Oktober 2009
Aibofolket oder die Küstenschweden in Estland
Von Eile also keine Spur in Haapsalu (nicht mal H0). Stillgelegt die Eisenbahn und so manches andere. Still auch das Wetter, kein Lüftchen regt sich, das Meer in der seichten Bucht spiegelglatt unbewegt. An der Promenade wird ein wenig gebaggert für die Zukunft. Vielleicht hat ein Investor Geld für eine Marina vorgeschossen. Wenn die Bucht nicht zu schnell weiter verlandet, rentiert es sich vielleicht in einigen Jahren. Da draußen im Väinameri und in den Sunden zwischen den Inseln Vormsi und Hiiuma liegt bestimmt ein schönes Segelrevier. Vormsi ist schon ein putziger Name, wie so viele estnische Wörter, wenn man sie geschrieben sieht, wie z.B. Entsüklopeedi oder das hier:
Bei Vormsi habe ich mir erst nichts weiter gedacht. Bis ich eine Karte der Insel sah. Und feststellte, daß die weit überwiegende Mehrzahl der Ortsnamen rein schwedisch klingt: Norrby, Söderby, Fällarna, Kärrslätt... Was war denn da los? Und der Name der Insel selbst? Eine ähnliche Verballhornung wie bei Eysýsla > Ösel? Dann war das -i wohl ursprünglich ein -ö, -ey und bedeutete Insel. Und die erste Silbe ging auf schwed. orm, altnordisch ormr, Wurm, Schlange zurück, also Vormsi = Schlangeninsel.
Inzwischen hatten wir den offiziellen Teil der Promenade mit Kursaal und einigen Spa-Hotels hinter uns gelassen, und niedrige, kleine Holzhäuschen bestimmten das Bild. Manche in einfacher Blockhausmanier aus massiven Balken gebaut, aber die Ecken mit sauber gefugten Schwalbenschwanzzinken verbunden; solide Handwerksarbeit. Bei einigen hatte es für Farbe nicht mehr gereicht, andere waren vielfach gestrichen worden, gern in bunten Kontrastfarben: rote Wände, minzgrüne Fensterrahmen. Es war nicht gerade die Vorzeigeecke eines Seebades, dessen Stadträte es sicher gern wieder mondän sähen wie zu den Zeiten, in denen Herr und Frau Zar samt Hofstaat hier kurten. In der geöffneten Tür eines Anbaus, der mehr einem Verschlag glich, sahen wir eine gebeugte alte Frau in mehreren geflickten Pullovern und Strickjacken unter ihrer geblümten Kittelschürze. Das Gesicht unter ihrem Kopftuch war größtenteils bandagiert wie bei Aussätzigen, mit der einen rheumatisch knotigen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, in der anderen hielt sie einen Stock am falschen Ende und fischte mit dem Griffende nach der Tür. Offenbar war sie nicht nur sehr arm, sondern auch blind. Nein, in dieser Ecke kamen keine Gelder aus EU-Struktur- und -entwicklungsfonds an.
Ein etwas größeres Holzhaus oder eher ein Konglomerat mehrerer kleiner, sauber im Ochsenblutrot aus dem schwedischen Kupferbergbau gestrichen, trug ein handgemaltes Schild über dem Eingang: Rannarootsi muuseum. Ruotsi ist doch die finnische Bezeichnung für Schweden. Und Ranna bedeutet Strand, Ufer, Küste, hatte ich im Pärnuer Strandcafé Rannakohvik gelernt.
Drinnen außer uns kein Mensch. Doch, eine ältere Frau in einer einfachen blauen Leinentunika mit einer Bernsteinkette um den Hals saß auf einem Stuhl und strickte. Ich fragte sie, ob sie Englisch spräche. Yes. Oder vielleicht Schwedisch? Ja, det går mycket bättre, kam es fließend und akzentfrei zurück. Ich fragte sie, was es mit den Küstenschweden auf sich habe, und erfuhr so erst von dieser uralten Minderheit auf den estnischen Inseln. Unsere “alte Donnerstagstante” (“wir nennen uns so, weil wir ein Zirkel von ollen Tanten sind, die sich bereit erklärt haben, jeweils Donnerstags das Museum zu hüten und alte Handarbeitstechniken vorzuführen”) war ganz offensichtlich froh, daß sich jemand dafür interessierte, ihre Geschichte zu hören, und legte los, als wollte sie uns mindestens die Hälfte aller Verse des Kalevala auf einen Sitz vortragen.
Wann die schwedischen Siedler genau gekommen waren, wußte sie nicht mit Gewißheit zu sagen. Vielleicht waren schon einige schwedische Wikinger auf den Zügen nach Ladoga, Nowgorod und Rußland hier hängengeblieben. (In den Quellen heißen sie übrigens Rus, eine Bezeichnung, die sicher mit dem finnischen ruotsi verwandt ist und Rußland den Namen gab.)
Die Küstenschweden, Aibofolket, wie sie sich selbst nennen (Aibo = Öboar = Inselbewohner), wurden schriftlich erstmals in der von den Ösel-Wieker Bischöfen 1294 ausgestellten Stadtgründungsurkunde von Haapsalu erwähnt. Vielleicht hatten die sie sogar erst ins Land geholt. Die kargen Küstenstriche Estlands waren bis dahin von den estnischen Waldbauern kaum besiedelt worden, zur Sicherung der Seewege und der neuerdings benötigten Fastenspeise Fisch war es aber von Vorteil, an der Küste verläßlich christliche Fischer anzusiedeln. Also warb man vermutlich die nächsten erreichbaren an: Schweden von der schwedischen Ostküste, aus Gotland und dem von ihnen eroberten Süden Finnlands. Damit sie kamen, mußte ihnen ihre Stellung rechtlich zugesichert werden. Die Aiboar lebten nach “schwedischem Recht”, in dem u.a. ihre persönliche Freiheit verbrieft war. Das schützte sie davor, wie die Esten im Lauf des 15. Jahrhunderts von den deutschen Ordensherrn in die Leibeigenschaft verknechtet zu werden. Allerdings blieb diese persönliche Freiheit auf ihren traditionellen Siedlungsraum entlang der Küste eingeschränkt. Ließen sie sich im Binnenland auf estnischen Höfen nieder, verloren sie ihr Privileg. Das führte natürlich dazu, daß Aibolandet jahrhundertelang ein relativ fest geschlossenes Siedlungsgebiet mit schwedischer Sprache und Kultur blieb.
Im Nordischen Siebenjährigen Krieg von 1563-70 eroberte die aufsteigende Ostseegroßmacht der schwedischen Wasa Estland. Damit kamen die Küstenschweden sozusagen “heim ins Reich” und verloren prompt in wichtigen Teilen ihren Sonderstatus. Zur Finanzierung ihrer Kriege verpfändete die schwedische Krone großflächig Land an finanzkräftige Adelsfamilien, am liebsten natürlich in den entlegensten Randgebieten. 1617 bezahlte und führte der halb französischstämmige General Jakob de la Gardie für König Gustav Adolf einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland. Dafür wurde er 1621 zum schwedischen Generalgouverneur aller Rußland abgenommenen Gebiete im Baltikum ernannt. In der Folgezeit hatten die schwedischen Bauern gegen die einfallenden adeligen Heuschrecken, die in Schwedisch-Livland Herrenhöfe mit den zu ihrer Versorgung nötigen ausgedehnten Ländereien errichteten, vielfach einen schwereren Stand als gegen die früheren deutschen und russischen Landesherrn. Wer nicht persönlich einen Privilegienbrief vorweisen konnte, mußte damit rechnen, verknechtet oder von Haus und Hof verjagt zu werden. Es folgte ein zäher Hinhaltekampf der schwedischen Bauern gegen die schwedischen Aristokraten, der einmal mehr belegt, daß nicht entlang nationaler, sondern entlang sozialer Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen die eigentlichen Grenzen verlaufen.
Das Ringen endete auch nicht mit der endgültigen Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721. Um Ruhe und Ordnung in den wiedererlangten Ostseeprovinzen zu sichern, restituierten die Zaren teils dem alten deutschbaltischen Adel seine früheren Besitzungen (Deutsch blieb auch weiterhin Amtssprache), teils bekamen die großen schwedischen Adelsdynastien sogar die Güter zurück, die ihr eigener (zwischenzeitlich erstarkter und absolutistisch regierender) König zuvor für die schwedische Krone eingezogen hatte. Den Besitzenden galten und gelten nationale Grenzen eben noch viel weniger als Hindernisse als dem einfachen Volk. Sie arrangieren sich noch mit jedem Herrscher, der ihre Besitzstände wahrt.
Das 18. Jahrhundert gilt in Estland als das Jahrhundert der Adelsherrschaft. Unter den deutschbaltischen Adelsfamilien erwarb sich auf Vormsi besonders die Familie von Stackelberg einen dauerhaften Ruf als Bauernbedrücker, die ihren Forderungen auch gern mit öffentlichen Auspeitschungen auf ihrem Gut Magnushof Nachdruck verlieh. In Talliner Archiven lagern heute noch Akten “in Klagesachen der Erbbauern unter dem Gute Magnushof auf der Insel Worms wider den Baron Wilhelm von Stackelberg betreffend ihre Freiheit und widerrechtliche Auflagen” aus den Jahren 1747-55. 1778 schrieb der Freiherr von Stackelberg über seine schwedischen Bauern: “Ich verabscheue diese Brut zutiefst und will meine ganze Macht daran setzen, sie auszulöschen.”
Erst mit der Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern und weiteren Bauerngesetzen 1856, die Gutsbesitzer verpflichteten, fünf Sechstel ihrer Ländereien zur Verpachtung freizugeben, besserte sich die Stellung auch der schwedischen Bauern in Estland. Allerdings waren sie von den zwischenzeitlich erfolgten Fortschritten im Land so weitgehend ausgeschlossen geblieben, daß ihre Siedlungsgebiete mittlerweile zu den rückständigsten im ganzen Land gehörten. Die panslawistische Russifizierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sie neuem Druck aus, rief aber auch Widerstand hervor, der zu einer bewußten Rückbesinnung auf schwedische Traditionen führte. Im 1920 erlassenen Grundgesetz des unabhängig gewordenen Estlands wurde nationalen Minderheiten kulturelle Autonomie zugesichert und an Bauern, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt hatten, vom Staat Land verteilt. Von beidem profitierten die Estlandschweden, die nun auch eigene Handelsbeziehungen nach Schweden und Finnland aufnahmen; doch schon unter den autoritären und nationalistischen Regierungen der Dreißiger Jahre verschlechterte sich ihre Lage wieder. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1938 bedeutete dann praktisch das Ende einer mindestens sechshundertjährigen schwedischen Siedlungsgeschichte in Estland.
Hitler-Deutschland, das gemäß der Aufteilung Osteuropas in deutsche und russische “Interessensgebiete” “seine” Deutsch-Balten massenweise “heim ins Reich” holte, gab auf diplomatischen Kanälen der schwedischen Regierung den Wink, dies besser auch mit ihrer Minderheit in Estland zu tun.
“Ich war damals elf Jahre und erinnere mich noch gut, wie wir mit Kisten und Koffern im Hafen von Tallinn auf das Schiff warteten, das uns nach Schweden bringen sollte”, sagt unsere Donnerstagstante und ich staune leise in mich hinein. Braungebrannt, mit ihrem weißhaarigen Pagenschnitt und die ganze Zeit ausdauernd auf ihren stämmigen Beinen stehend, hätte ich nie gedacht, daß diese rüstige Frau mit den klaren, hellblauen Augen über achtzig Jahre alt ist.
Fast 8000 von 9000 Schwedischstämmigen sind im Lauf des Zweiten Weltkriegs aus Estland emigriert - oder nach Sibirien deportiert worden. “Die wehrfähigen Männer haben sie nicht rausgelassen, die sind später in offenen Ruderbooten über die Ostsee nachgekommen.” Sofern sie nach dem Einmarsch der Russen 1941 nicht in die Rote Armee eingezogen wurden. “1984 bin ich von Stockholm auf einen kurzen Besuch nach Tallinn gefahren. Es war so schrecklich, daß ich danach nie wieder einen Fuß nach Estland setzen wollte.”
In ihre alte Heimat durften Aiboar frühestens ab 1988 besuchsweise zurück. Bis dahin galt die gesamte Küste als militärisches Sperrgebiet. “Nach der Unabhängigkeit bin ich dann 1994 doch noch einmal zurückgekommen. Da sah man schon Ansätze, daß es einmal besser werden könnte. Von da an habe ich angefangen, mich hier einzusetzen, und neue Freunde gefunden. Von den alten waren ja keine mehr da. Und jetzt verbringe ich nur noch die Winter in Stockholm und lebe den Sommer über hier. Es ist doch schön hier.”
Bei Vormsi habe ich mir erst nichts weiter gedacht. Bis ich eine Karte der Insel sah. Und feststellte, daß die weit überwiegende Mehrzahl der Ortsnamen rein schwedisch klingt: Norrby, Söderby, Fällarna, Kärrslätt... Was war denn da los? Und der Name der Insel selbst? Eine ähnliche Verballhornung wie bei Eysýsla > Ösel? Dann war das -i wohl ursprünglich ein -ö, -ey und bedeutete Insel. Und die erste Silbe ging auf schwed. orm, altnordisch ormr, Wurm, Schlange zurück, also Vormsi = Schlangeninsel.
Inzwischen hatten wir den offiziellen Teil der Promenade mit Kursaal und einigen Spa-Hotels hinter uns gelassen, und niedrige, kleine Holzhäuschen bestimmten das Bild. Manche in einfacher Blockhausmanier aus massiven Balken gebaut, aber die Ecken mit sauber gefugten Schwalbenschwanzzinken verbunden; solide Handwerksarbeit. Bei einigen hatte es für Farbe nicht mehr gereicht, andere waren vielfach gestrichen worden, gern in bunten Kontrastfarben: rote Wände, minzgrüne Fensterrahmen. Es war nicht gerade die Vorzeigeecke eines Seebades, dessen Stadträte es sicher gern wieder mondän sähen wie zu den Zeiten, in denen Herr und Frau Zar samt Hofstaat hier kurten. In der geöffneten Tür eines Anbaus, der mehr einem Verschlag glich, sahen wir eine gebeugte alte Frau in mehreren geflickten Pullovern und Strickjacken unter ihrer geblümten Kittelschürze. Das Gesicht unter ihrem Kopftuch war größtenteils bandagiert wie bei Aussätzigen, mit der einen rheumatisch knotigen Hand hielt sie sich am Türrahmen fest, in der anderen hielt sie einen Stock am falschen Ende und fischte mit dem Griffende nach der Tür. Offenbar war sie nicht nur sehr arm, sondern auch blind. Nein, in dieser Ecke kamen keine Gelder aus EU-Struktur- und -entwicklungsfonds an.
Ein etwas größeres Holzhaus oder eher ein Konglomerat mehrerer kleiner, sauber im Ochsenblutrot aus dem schwedischen Kupferbergbau gestrichen, trug ein handgemaltes Schild über dem Eingang: Rannarootsi muuseum. Ruotsi ist doch die finnische Bezeichnung für Schweden. Und Ranna bedeutet Strand, Ufer, Küste, hatte ich im Pärnuer Strandcafé Rannakohvik gelernt.
Drinnen außer uns kein Mensch. Doch, eine ältere Frau in einer einfachen blauen Leinentunika mit einer Bernsteinkette um den Hals saß auf einem Stuhl und strickte. Ich fragte sie, ob sie Englisch spräche. Yes. Oder vielleicht Schwedisch? Ja, det går mycket bättre, kam es fließend und akzentfrei zurück. Ich fragte sie, was es mit den Küstenschweden auf sich habe, und erfuhr so erst von dieser uralten Minderheit auf den estnischen Inseln. Unsere “alte Donnerstagstante” (“wir nennen uns so, weil wir ein Zirkel von ollen Tanten sind, die sich bereit erklärt haben, jeweils Donnerstags das Museum zu hüten und alte Handarbeitstechniken vorzuführen”) war ganz offensichtlich froh, daß sich jemand dafür interessierte, ihre Geschichte zu hören, und legte los, als wollte sie uns mindestens die Hälfte aller Verse des Kalevala auf einen Sitz vortragen.
Wann die schwedischen Siedler genau gekommen waren, wußte sie nicht mit Gewißheit zu sagen. Vielleicht waren schon einige schwedische Wikinger auf den Zügen nach Ladoga, Nowgorod und Rußland hier hängengeblieben. (In den Quellen heißen sie übrigens Rus, eine Bezeichnung, die sicher mit dem finnischen ruotsi verwandt ist und Rußland den Namen gab.)
Die Küstenschweden, Aibofolket, wie sie sich selbst nennen (Aibo = Öboar = Inselbewohner), wurden schriftlich erstmals in der von den Ösel-Wieker Bischöfen 1294 ausgestellten Stadtgründungsurkunde von Haapsalu erwähnt. Vielleicht hatten die sie sogar erst ins Land geholt. Die kargen Küstenstriche Estlands waren bis dahin von den estnischen Waldbauern kaum besiedelt worden, zur Sicherung der Seewege und der neuerdings benötigten Fastenspeise Fisch war es aber von Vorteil, an der Küste verläßlich christliche Fischer anzusiedeln. Also warb man vermutlich die nächsten erreichbaren an: Schweden von der schwedischen Ostküste, aus Gotland und dem von ihnen eroberten Süden Finnlands. Damit sie kamen, mußte ihnen ihre Stellung rechtlich zugesichert werden. Die Aiboar lebten nach “schwedischem Recht”, in dem u.a. ihre persönliche Freiheit verbrieft war. Das schützte sie davor, wie die Esten im Lauf des 15. Jahrhunderts von den deutschen Ordensherrn in die Leibeigenschaft verknechtet zu werden. Allerdings blieb diese persönliche Freiheit auf ihren traditionellen Siedlungsraum entlang der Küste eingeschränkt. Ließen sie sich im Binnenland auf estnischen Höfen nieder, verloren sie ihr Privileg. Das führte natürlich dazu, daß Aibolandet jahrhundertelang ein relativ fest geschlossenes Siedlungsgebiet mit schwedischer Sprache und Kultur blieb.
Im Nordischen Siebenjährigen Krieg von 1563-70 eroberte die aufsteigende Ostseegroßmacht der schwedischen Wasa Estland. Damit kamen die Küstenschweden sozusagen “heim ins Reich” und verloren prompt in wichtigen Teilen ihren Sonderstatus. Zur Finanzierung ihrer Kriege verpfändete die schwedische Krone großflächig Land an finanzkräftige Adelsfamilien, am liebsten natürlich in den entlegensten Randgebieten. 1617 bezahlte und führte der halb französischstämmige General Jakob de la Gardie für König Gustav Adolf einen erfolgreichen Krieg gegen Rußland. Dafür wurde er 1621 zum schwedischen Generalgouverneur aller Rußland abgenommenen Gebiete im Baltikum ernannt. In der Folgezeit hatten die schwedischen Bauern gegen die einfallenden adeligen Heuschrecken, die in Schwedisch-Livland Herrenhöfe mit den zu ihrer Versorgung nötigen ausgedehnten Ländereien errichteten, vielfach einen schwereren Stand als gegen die früheren deutschen und russischen Landesherrn. Wer nicht persönlich einen Privilegienbrief vorweisen konnte, mußte damit rechnen, verknechtet oder von Haus und Hof verjagt zu werden. Es folgte ein zäher Hinhaltekampf der schwedischen Bauern gegen die schwedischen Aristokraten, der einmal mehr belegt, daß nicht entlang nationaler, sondern entlang sozialer Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Klassen die eigentlichen Grenzen verlaufen.
Das Ringen endete auch nicht mit der endgültigen Niederlage Schwedens im Nordischen Krieg 1721. Um Ruhe und Ordnung in den wiedererlangten Ostseeprovinzen zu sichern, restituierten die Zaren teils dem alten deutschbaltischen Adel seine früheren Besitzungen (Deutsch blieb auch weiterhin Amtssprache), teils bekamen die großen schwedischen Adelsdynastien sogar die Güter zurück, die ihr eigener (zwischenzeitlich erstarkter und absolutistisch regierender) König zuvor für die schwedische Krone eingezogen hatte. Den Besitzenden galten und gelten nationale Grenzen eben noch viel weniger als Hindernisse als dem einfachen Volk. Sie arrangieren sich noch mit jedem Herrscher, der ihre Besitzstände wahrt.
Das 18. Jahrhundert gilt in Estland als das Jahrhundert der Adelsherrschaft. Unter den deutschbaltischen Adelsfamilien erwarb sich auf Vormsi besonders die Familie von Stackelberg einen dauerhaften Ruf als Bauernbedrücker, die ihren Forderungen auch gern mit öffentlichen Auspeitschungen auf ihrem Gut Magnushof Nachdruck verlieh. In Talliner Archiven lagern heute noch Akten “in Klagesachen der Erbbauern unter dem Gute Magnushof auf der Insel Worms wider den Baron Wilhelm von Stackelberg betreffend ihre Freiheit und widerrechtliche Auflagen” aus den Jahren 1747-55. 1778 schrieb der Freiherr von Stackelberg über seine schwedischen Bauern: “Ich verabscheue diese Brut zutiefst und will meine ganze Macht daran setzen, sie auszulöschen.”
Erst mit der Abschaffung der Leibeigenschaft der russischen Bauern und weiteren Bauerngesetzen 1856, die Gutsbesitzer verpflichteten, fünf Sechstel ihrer Ländereien zur Verpachtung freizugeben, besserte sich die Stellung auch der schwedischen Bauern in Estland. Allerdings waren sie von den zwischenzeitlich erfolgten Fortschritten im Land so weitgehend ausgeschlossen geblieben, daß ihre Siedlungsgebiete mittlerweile zu den rückständigsten im ganzen Land gehörten. Die panslawistische Russifizierungspolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sie neuem Druck aus, rief aber auch Widerstand hervor, der zu einer bewußten Rückbesinnung auf schwedische Traditionen führte. Im 1920 erlassenen Grundgesetz des unabhängig gewordenen Estlands wurde nationalen Minderheiten kulturelle Autonomie zugesichert und an Bauern, die sich am Unabhängigkeitskampf beteiligt hatten, vom Staat Land verteilt. Von beidem profitierten die Estlandschweden, die nun auch eigene Handelsbeziehungen nach Schweden und Finnland aufnahmen; doch schon unter den autoritären und nationalistischen Regierungen der Dreißiger Jahre verschlechterte sich ihre Lage wieder. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1938 bedeutete dann praktisch das Ende einer mindestens sechshundertjährigen schwedischen Siedlungsgeschichte in Estland.
Hitler-Deutschland, das gemäß der Aufteilung Osteuropas in deutsche und russische “Interessensgebiete” “seine” Deutsch-Balten massenweise “heim ins Reich” holte, gab auf diplomatischen Kanälen der schwedischen Regierung den Wink, dies besser auch mit ihrer Minderheit in Estland zu tun.
“Ich war damals elf Jahre und erinnere mich noch gut, wie wir mit Kisten und Koffern im Hafen von Tallinn auf das Schiff warteten, das uns nach Schweden bringen sollte”, sagt unsere Donnerstagstante und ich staune leise in mich hinein. Braungebrannt, mit ihrem weißhaarigen Pagenschnitt und die ganze Zeit ausdauernd auf ihren stämmigen Beinen stehend, hätte ich nie gedacht, daß diese rüstige Frau mit den klaren, hellblauen Augen über achtzig Jahre alt ist.
Fast 8000 von 9000 Schwedischstämmigen sind im Lauf des Zweiten Weltkriegs aus Estland emigriert - oder nach Sibirien deportiert worden. “Die wehrfähigen Männer haben sie nicht rausgelassen, die sind später in offenen Ruderbooten über die Ostsee nachgekommen.” Sofern sie nach dem Einmarsch der Russen 1941 nicht in die Rote Armee eingezogen wurden. “1984 bin ich von Stockholm auf einen kurzen Besuch nach Tallinn gefahren. Es war so schrecklich, daß ich danach nie wieder einen Fuß nach Estland setzen wollte.”
In ihre alte Heimat durften Aiboar frühestens ab 1988 besuchsweise zurück. Bis dahin galt die gesamte Küste als militärisches Sperrgebiet. “Nach der Unabhängigkeit bin ich dann 1994 doch noch einmal zurückgekommen. Da sah man schon Ansätze, daß es einmal besser werden könnte. Von da an habe ich angefangen, mich hier einzusetzen, und neue Freunde gefunden. Von den alten waren ja keine mehr da. Und jetzt verbringe ich nur noch die Winter in Stockholm und lebe den Sommer über hier. Es ist doch schön hier.”
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