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Freitag, 18. September 2009
Der 23. August. Gedenktag zur Rehabilitierung von Nazi-Kollaborateuren?
Im Kontrast zu den überall national gebauschten Fahnen am 23. August (wir sahen in den Abendnachrichten Ausschnitte von Gedenkfeiern in allen baltischen Ländern) sollten wir wenig später den 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs als einen fröhlich unbeschwerten Tag erleben, an dem z.B. in Trakai und Vilnius allein die Einschulung der i-Dötzchen und der allgemeine Schulbeginn nach den langen Sommerferien die Menschen zu beschäftigen schien.
Selbst wenn der Tag des Hitler-Stalin-Pakts in der Rückschau tatsächlich den Anfang vom Ende der unabhängigen baltischen Republiken markiert, so kann doch dieser friedliche Wochenendtag damals nicht halb so traumatisch erlebt worden sein wie der schwarze Freitag des 1. September ‘39, an dem das alte Linienschiff Schleswig-Holstein die Danziger Westerplatte beschoß, die Luftwaffe Wielun bombardierte und die Wehrmacht mit über 50 Divisionen und dreieinhalbtausend Panzerfahrzeugen an mehreren Stellen die Grenze nach Polen überrollte. Gerade durch die kurz zuvor im Hitler-Stalin-Pakt vorgenommene Aufteilung Osteuropas wird niemand mehr behaupten können, der deutsche Überfall auf Polen sei etwa für die Balten nicht von vitalem Interesse gewesen. Warum also diese auffällige Verschiebung des öffentlichen Gedenkens vom 1. September auf den 23. August?
Wir haben in allen drei baltischen Staaten noch eine korrelierende Beobachtung gemacht: Vom kleinen Historischen Museum in der Burg Kuressaare auf der estnischen Insel Saaremaa bis zur Gedenkstätte für die Opfer von Okkupation und Gewaltherrschaft in der litauischen Hauptstadt Vilnius legt man überall im Baltikum heute Wert darauf, neben den Opfern der Nazis fast gebetsmühlenhaft immer auch im gleichen Atemzug die der sowjetischen Besatzungszeit zu erwähnen. Die nach wie vor fragwürdige und den rassistischen Vernichtungskrieg der Nazis relativierende Gleichsetzung von “braunem und rotem Terror” ist dort offiziell und flächendeckend vollzogen.

Lokalgeschichte ist ja oft aufschlußreicher als der große welthistorische Rundumschlag. Das erwähnte kleine Museum in der Burg von Kuressaare z.B. bildet nahezu minutiös die Abfolge deutscher und russischer Besetzungen der ehemaligen Insel Ösel ab: Im Oktober 1917 erstürmten deutsche Marineeinheiten die seit 1710 russische Insel, 1939 marschierte die inzwischen Rote Armee im gerade mal zwanzig Jahre unabhängigen Estland ein, 1941 eroberte die Wehrmacht die Insel, und 1944 wurde sie in heftigen Kämpfen von den Russen zurückerobert. Die Opfer der Inselbevölkerung werden in fast allen Darstellungen nur pauschal addiert: Die Zahl der Einwohner fiel von 1939-45 von 56.000 auf 38.000, um mehr als 30%. Wie viele Esten und Deutschbalten wurden von den Sowjets nach Sibirien deportiert? Wie viele Juden haben SS und SD abtransportiert und vernichtet? Ebensowenig wird gesagt, daß sich Saaremaa und Estland in einer Art Bürgerkrieg zwischen “roten” und “weißen” bzw. braunen Esten befunden haben müssen, von denen die einen die Sowjets, die anderen die Nazis als Befreier begrüßten und jeweils mit ihnen zusammenarbeiteten.
Wie vielerorts fachte der 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs auch in Großbritannien und im britischen Guardian die Diskussion über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs heftig wieder an. Eingeleitet wurde sie mit einem einschlägigen Artikel des Harvard-Historikers Niall Ferguson: Why did the second world war begin?
Aus einem betont weltgeschichtlichen Blickwinkel stellt er darin den Überfall Nazideutschlands auf Polen als einen lediglich zweitrangigen Mosaikstein in einem Fünfzigjährigen Krieg von 1904-1953 um die Vorherrschaft im gesamten eurasischen Raum dar. “The key was the sustainability of western imperial power over the rest of the world, and most importantly over Asia [...] But with Japan's victory over Russia in the war over Manchuria that broke out in 1904, the historic tide at last began to turn. From then until the 1950s the leitmotif of history was conflict between and against the western empires over the central question of who should rule the great Eurasian landmass [...] Reflect for a moment on the sheer scale of the second world war. The best available figures indicate that around 60 million people died as a direct result of the conflict – close to 3% of the world's entire pre-war population [...] How could a German invasion of Poland lead to carnage on such a vast scale? Poland was strategically insignificant and relatively poor. The allies often claimed to be fighting for democracy, but as far as political freedom and civil rights for minorities went, Poland was little better than Germany in 1939.” - Der Satz hatte eine wütende Demarche des polnischen Botschafters in London zur Folge. Doch Ferguson relativiert die mindestens fünfzig Jahre lang festzementierte Doktrin von der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen im zwanzigsten Jahrhundert noch weiter. In seiner aggressiven Expansionspolitik sei das Deutsche Reich zunächst nur Japan und Italien gefolgt, und im Inneren seien Gewalt und Terror im revolutionären Rußland ungleich größer gewesen als in Deutschland. “Unlike in Hitler's Germany, where the targets for persecution were identifiable minorities, in Stalin's Soviet Union no one could feel safe [...] when war broke out in 1939 he was the dictator with by far the bloodiest hands. And he was as much an aggressor as Hitler. It was not just Germany that invaded Poland, after all. It was the Red Army from the east too.”
Solche Thesen passen einfach zu gut in einen (in Deutschland altbekannten) Geschichtsrevisionismus, als daß sie nicht sofort vehementen Widerspruch herausgefordert hätten. Der russische Präsident Medwedjew hatte sich schon Ende August vehement gegen eine Erklärung von OSZE-Parlamentariern gewandt, in der diese im Juli vorgeschlagen hatte, den 23. August zukünftig als einen europäischen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus zu begehen, und beschuldigte vor allem die Führer der Baltischen Staaten, ehemalige Nazi-Komplizen heute als Nationalhelden auszugeben. Im Guardian antwortete u.a. Kolumnist Seumas Milne auf Ferguson und wies dabei auf ein Motiv der heutigen baltischen Republiken hin, sich vor allen anderen an diesem Revisionismus zu beteiligen. Es gehe ihnen besonders darum, die eigenen Kollaborateure mit den Nazis zu rehabilitieren. Unsere punktuellen Eindrücke in Kuressaare und andernorts können diese Deutung nur bestätigen. Wo immer die Kollaboration mit den Nazis erwähnt wird, geschieht das nie, ohne die zuvor von den Sowjets begangenen Greuel zu schildern, sodaß die Zusammenarbeit mit den Nazischergen sogleich als verständliche und berechtigte Rache an den grausamen Besatzern dasteht. Milne legt den Finger auf die richtigen Stellen:
“The real meaning of the attempt to equate Nazi genocide with Soviet repression is clearest in the Baltic republics, where collaboration with SS death squads and direct participation in the mass murder of Jews was at its most extreme, and politicians are at pains to turn perpetrators into victims. Veterans of the Latvian Legion of the Waffen-SS now parade through Riga, Vilnius's Museum of Genocide Victims barely mentions the 200,000 Lithuanian Jews murdered in the Holocaust and Estonian parliamentarians honour those who served the Third Reich as "fighters for independence".
Most repulsively of all, while rehabilitating convicted Nazi war criminals, the state prosecutor in Lithuania – a member of the EU and Nato – last year opened a war crimes investigation into four Lithuanian Jewish resistance veterans who fought with Soviet partisans: a case only abandoned for lack of evidence.”

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