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Donnerstag, 17. September 2009
Lettland, 23. August 2009

Es ist noch früh am Sonntagmorgen, als wir Riga von West nach Ost noch einmal durchqueren. Die Stadt schläft noch, oder die Einwohner sind in der Kirche. (In Jurmala sahen wir, wie sie sich in die kleine, türkisblau gestrichene Holzkirche der Orthodoxen schoben.) Kemeri haben wir uns noch angesehen, wegen seiner schwefelsauern Mineralquellen war es einst ebenfalls ein Kurort. Die Holzschlößchen aus der Zarenzeit schlummern im melancholischen Nieselregen leise modernd vor sich hin, ihre Farben sind längst verwittert. Zwei sowjetische “Kraft durch Freude”-Bunker wurden nie fertiggestellt, die Renovierungsarbeiten am großen Sanatorium aus der Zwischenkriegszeit scheinen im jüngsten Crash steckengeblieben zu sein. Ein deprimierender Anblick. Schwer vorzustellen, daß Kemeri einmal wieder so auf die Beine kommen könnte wie Jurmala, das immerhin mit einem breiten Sandstrand direkt am Meer liegt.

Unser erstes Ziel an diesem Tag ist die Gauja. Das lettische Wort soll in etwa “groß” oder “viel” bedeuten. In der finnougrischen Sprache der Liven hieß der Fluß Koivo, “heiliger Fluß der Birken”. Damals, in vorchristlicher Zeit, war er der Grenzfluß zwischen Latgallen und Livland. Nicht weniger als 18 ehemalige Hügelburgen hat man an seinen Ufern bislang lokalisiert. “The Livonian lands were the first, that experienced German aggression in the Baltic”, heißt es auf einer Anschlagtafel am Flußufer. “Already in the 12th century the first preachers of the Christianity appeared.” Heute leben kaum mehr als 1000 Angehörige dieses seit mehr als 3000 Jahren hier ansässigen Volkes in ein paar unauffälligen kleinen Fischerdörfern an der Küste (die wir uns am Vortag angesehen haben). Es heißt, daß nicht mehr als vielleicht zwei Dutzend Menschen noch die alte livische Sprache beherrschen. Sie gilt damit als praktisch ausgestorben.
1973 wurde ein Teil des Flußlaufs zum ersten lettischen Nationalpark erklärt, denn am Ende der letzten Eiszeit hat sich die Gauja mit ihren Schmelzwasserströmen bis zu 85 Meter tief in ockerroten Sandstein gegraben und Lettland so seine einzige nennenswerte Felsschlucht beschert. Dieser “old red Sandstone”, wie ihn Geologen nennen, entstand, nachdem vor rund 400 Millionen Jahren die Urkontinente Laurentia und Baltica zusammenstießen und im “Zeitalter der Fische”, dem Devon, den Kontinent Laurussia (oder Euramerika) bildeten.
Auf staubenden Schotterstraßen durch sehr hohe, alte Kiefernwälder erreichen wir den Fluß bei den Katarakten von Kuku. Im Frühjahr soll die Gauja hier wahrhaft herabtosen; jetzt gluckert ein moorbraunes Wässerchen harmlos um die Steine der leicht verblockten Stelle. Sogar für Teichrosen ist das Wasser ruhig genug. Wir stehen auf einer Sandbank am Ufer und freuen uns gerade an der großen Stille, in der man jeden Vogelruf aus dem Wald und das Schnappen der Fische im Wasser hört, als ein großes Floß um die oberhalb liegende Biegung treibt. Etwa zwanzig junge Leute darauf, mit Ghettoblaster, rauchendem Grill und der roten lettischen Nationalflagge aufgepflanzt. Ziemlich unkoordiniert mit Paddeln stochernd kreiseln sie durch die Stromschnellen und treiben dann stolz und johlend an uns vorüber.
Als wir über ein paar wunderschöne Lindenalleen bei Karlj wieder die Hauptstraße erreichen, werden wir bald an einer Absperrung gestoppt, an der sich eine kleine Menschenmenge versammelt hat. Sie bildet ein breites Spalier, und bald taucht ein Pulk Läufer auf. Ihm folgt ein zweiter, ein dritter. Wir sind in einem Volkslauf gelandet. Auffällig ist nur, daß jede Gruppe an ausgestreckten Armen über den Köpfen das lettische Banner flattern läßt. Ist das der unvermeidliche Nationalismus einer Nation, die vor wenigen Jahren erst zum zweiten Mal in ihrer Geschichte die Unabhängigkeit errungen hat?


Dann geht uns auf, heute ist Sonntag, nicht irgendein Sonntag, sondern der 23. August 2009, der siebzigste Jahrestag des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrags, bei uns üblicherweise Hitler-Stalin-Pakt genannt und in seiner Wahrnehmung heutzutage deutlich hinter dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September ‘39 zurückstehend. In den Ländern, die von diesem Pakt betroffen wurden, ist das anders. Für die Balten steht der Molotow-Ribbentrop-Pakt, wie sie ihn nennen, und das Datum des 23. August 1939 (damals war es ein Samstag) für den Auftakt zur Aufteilung, Besetzung und Unterdrückung ihrer Länder, für Verschleppung und Ermordung großer Teile ihrer Bevölkerung sowohl durch Russen wie durch Deutsche. Die Existenz eines mit dem Pakt unterzeichneten Geheimen Zusatzprotokolls wurde seit dem Krieg von offizieller sowjetischer Seite stets geleugnet, bis es der estnische Historiker Heino Arumäe 1988 in vollem Wortlaut veröffentlichte. Sein erster Punkt lautete:
“ Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland und Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphäre Deutschlands und der UdSSR.”

Hitler empfängt strahlend Ribbentrop nach dessen Rückkehr aus Moskau im August '39

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