„Teeismus ist ein Kult, gegründet auf die Verehrung des Schönen inmitten der schmutzigen Tatsachen des Alltags [...] ein zarter Versuch, etwas Mögliches zu vollenden in diesem Unmöglichen, das wir Leben nennen.” So Kakuzo Okakura 1906 in seinem Book of Tea. Kult, Kultivierung des Teegenusses ist zweifellos das, was Roland Barthes hinsichtlich der Lust am Text noch mit einem Fragezeichen versehen hat: „Genüsse einer Kaste, Mandarinat?”
Die „Mandarinatspraxis” beschreibt er als eine nur von wenigen geübte Verhaltensweise unter der „gegenwärtigen Konstellation der Kräfte”. Massenverflachung heißt die andere.
„Die Opposition [...] besteht immer und überall zwischen der Ausnahme und der Regel.”
„Um der Entfremdung der gegenwärtigen Gesellschaft entgehen zu können, haben wir nur ein Mittel: die Flucht”. Und zwar die Flucht nach vorn, in etwas Neues, Anderes, denn „die Sprache, die unter dem Schutz der Macht entsteht und sich ausbreitet, ist ihrem Status nach eine Wiederholungssprache; alle offiziellen Sprachinstitutionen sind Wiederkäumaschinen: die Schule, der Sport, die Werbung, die Massenware, der Schlager, die Nachrichten sagen immer die gleiche Struktur, den gleichen Sinn, oft die gleichen Wörter: die Stereotypie ist ein politisches Faktum, die Hauptfigur der Ideologie.”
Um den vorgestanzten Schablonen zu entgehen, bleibt nur eine „marginale, exzentrische Gier nach dem Neuen”: immer wieder neue Wege gehen.
Dagegen läßt sich aus einer Überblicksperspektive natürlich einwenden, daß es in unserer Welt schon seit langem keine neuen Wege mehr gibt. Doch für den Einzelnen in seinem persönlichen Erleben existieren sie durchaus. Jedes Kleinkind entdeckt für sich die Welt neu; jeder, der nach zwanzig, dreißig Jahren des täglich gleichen Arbeitswegs kündigt und in eine andere Stadt, ein anderes Land zieht, geht für sich neue Wege. Wer alte, überlebte Beziehungen hinter sich läßt und damit auch seit langem eingespielte Verhaltens- und Denkmuster, hat die Chance, für sich geistiges Neuland zu betreten.
Es gibt Neues, nur sind wir „nicht fein genug, um den muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens zu sehen”, hat Nietzsche 1881 ausgerechnet in einem seiner Fragmente (11, 293) zur ewigen Wiederkehr des Gleichen festgehalten. „Das Bleibende ist nur vermöge unserer groben Organe da, welche zusammenfassen und auf Flächen hinlegen, was so gar nicht existirt. Der Baum ist in jedem Augenblick etwas Neues: die Form wird von uns behauptet, weil wir die feinste absolute Bewegung nicht wahrnehmen können”.
Auf der Mikroebene des Individuellen entsteht immer wieder Neues. Es müßte somit möglich sein, dort den Wiederkäumaschinen und der Massenverflachung zu entkommen (so lange es keinen kollektiven Widerstand gegen sie gibt). Raus also aus deren Ballungsräumen in Einkaufszentren, Shopping Malls, Innenstädten! Flucht nach vorn! Und die führt für mich (nach dem Teegenuß) vorläufig in die Stille der Wälder. Solling, Bramwald, Reinhardswald; auf den Spuren Heinrichs des Voglers, der dort ebenfalls seine Ruhe suchte. (Man findet tief im Wald noch Spuren alter Wallburgen aus seiner Zeit. Da träumen sie seit mehr als tausend Jahren und sinken Millimeter für Millimeter zurück ins Erdreich.)
Mandarinatspraxis also auch die Waldgänge. Ja, doch klingt das exklusiver, als es ist. Grundsätzlich stehen die Wege und die Wälder jedem offen. „Und was würde aus der schönen Waldeinsamkeit, wenn das jeder täte?” – Keine Sorge, es wird nie jeder tun. Der stereotyp gegen alles aus der Reihe Tanzende wiederholte Einwand der Spießbürger geht auch hier an der Realität vorbei ins Leere. Es wird nicht einmal jeder aus Syrien fliehen oder aus Ruanda. Oder aus den Sklavenbedingungen in den Emiraten oder aus den giftverseuchten Tagebauminen in Brasilien. Aus den stickigen, vollgepferchten Hallen der Näherinnen in Bangladesh oder aus der verstrahlten Umgebung von Fukushima. Nicht einmal von dort. Geschweige denn von hier, aus dieser saturierten Gesellschaft von Käufern und Verkäufern, Konsumenten und Kopfhörerträgern, in der noch jeder irgendwo sein Schnäppchen oder seinen Deal machen kann.
Eine der perfiden Eigenschaften von Werbung besteht darin, daß sie manchmal das vorherrschende Denken in einem einzigen Slogan erfaßt und uns den Spiegel vorhält: „Ich bin doch nicht blöd!” – Doch, genau das bist du, wenn du das glaubst und damit den Schnäppchenpreisanbietern auf den Leim gehst. Dieselbe Ramschkette hat in meinen Augen auch in diesen Jahren wieder den Zeitgeist einer Generation in eine Aussage gefaßt: „Hauptsache ihr habt Spaß!”
In dem Sinne schon mal Frohe Weihnachten!
Schnee/Misere von gestern? Falsch. "Noch nie gab es so viele Sklaven wie heute".
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„The feel of a hot dry wind on the face, the smell of a distant rain... the touch of a birds’s sharp foot on one’s outstretched palm: such encounters shape our beings and our imaginations in ways which are beyond analysis, but also beyond doubt. There is something uncomplicatedly true in the sensation of laying hands upon sun-warmed rock”.
(Robert MacFarlane: The Wild Places)
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Manchmal blitzt im Karneval ja doch noch etwas auf.
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Diesen und 20 weitere (Ab-)gesänge auf eine der verheerendsten Politikerinnen des 20. Jahrhunderts hat der serbische Radiosender B 92 zusammengestellt.
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Vorsaison
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Kürzlich unter dem Eindruck noch von Finnland und "Waldgang" als Kontrapunkt einen sehr düster eindrucksvollen russischen Film gesehen: Sibirien, Monamour. Gedreht wurde er letztes Jahr an der Mana. Sie entspringt in den Sajanbergen südwestlich des Baikalsees und mündet bei Krasnojarsk in den Jenissei. Unglaublich schöne Landschaftsaufnahmen; und obwohl kaum ein größerer Gegensatz denkbar ist, dachte ich an die dunkle Spätherbst- und Winterstimmung des Films zurück, als ich dieser Tage durch Dieffenbach-, Grimm-, Graefe- und andere Straßen am Urban durch Kreuzberg lief.
Viel schlimmer kann Krasnojarsk auch nicht sein.
"Det is Balien, wa?!" - Hansi Hinterseer und das Tiroler Echo. Und die Opas von Deep Purple als Vorgruppe zum Anheizen. Und obendrüber steht: "Wir plakatieren Kultur".
Ja, das ist Berlin, wie es singt und lacht.
Die aktuelle Novemberluft – das ist für mich die soziale Temperatur Berlins rund ums Jahr.
Kreuzberg, Du inzwischen mit deinen Fair-Trade-Läden, Bio-LPG’s und jungen Akademikerfamilien mit Bakfietsen für die Kinderschar und polnischen Putzfrauen im dritten Hinterhaus, mit scheußlicher “Britfood”, Saftläden, schwulen Backstuben, Ach-so-Alternativcafés, eurem “kleinen Italiener an der Ecke”, von Türken der dritten Generation geführt, mit Vollwert-Partyservice, aber Psychotherapeutenpraxen in jedem siebten Haus am Kanal und gelegentlich ein paar Spritzen im Hauseingang – all das stößt mich unendlich ab. Genauso dein gewursteltes Sich-Einrichten in diesem auch noch irgendwie stolz so genannten “Kiez”, in deiner pseudoheilen Parallelwelt, aus der nie ein wirkliches Miteinander wird. Es ist doch schon wikipedianotorisch, wie fein säuberlich man weiterhin auf Separation achtet:
“Im östlichen Teil der [Dieffenbach-]Straße dominiert eine türkische [sic] geprägte Bevölkerung das Straßenbild, Bewohner mit arabischem Migrationshintergrund sind selten, während westlich der Graefestraße deutsche oder westeuropäische Bewohner in der Regel unter sich sind.”
Und nicht einmal die sind sich untereinander grün. Neuerdings beschimpfen deine “Alteingesessenen”, die erst nach dem Mauerfall aus Vlotho oder Lippe-Detmold herzogen, die nach ihnen Kommenden als “Schwaben”, die nur die Mieten und Immobilienpreise ruinieren. Schöne Toleranz und Weltoffenheit! Frag sie, wann sie das letzte Mal nur allein in einem anderen Teil der Stadt wie Steglitz oder Zehlendorf waren! Ja, was soll man denn da? Der Nabel der Welt ist doch “Mitte” (mehr braucht man ja gar nicht zu sagen) und eben Kreuzberg.
Aber wieviel Verdrängungsleistung ist notwendig, um den ganzen Schmuddel und Dreck auf den Straßen und Plätzen täglich zu übersehen, vor der Häßlichkeit der taubenverschissenen Mietskasernenfassaden und Trottoirs ebenso die Augen zu verschließen wie vor allem vor den auffällig Ver- und Gestörten, den Gescheiterten mit den verheerten Gesichtszügen und den Kaputten unter den Kapuzenpullis, die einmal schwarz waren, mit den unstet ausweichenden Blicken, von denen vielleicht schon bald einer Amok läuft? Wer könnte es ihm eigentlich verdenken?
Schönen 1. Advent auch!
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Dann würde jemand das Papier erfinden und kurz darauf entdecken, dass man auf Papier Wörter und Bilder drucken kann. Die Zeitung würde entwickelt werden... Das Buch würde erfunden werden.
Was für eine Innovation! Was für eine Blätterfreundlichkeit, Ergonomie, gegenständliche Eleganz, welche Wärme des Materials! Und alles wiederverwertbar... Das Warten beim Laden von Internetseiten bliebe einem erspart. Im Gegensatz zum hektischen Online-Status folgte die einmal am Tag erscheinende Zeitung dem natürlichen, auf der Drehung der Erde um ihre Achse basierenden Rhythmus des Homo sapiens.
Auf einmal hätte die Information eine gegenständliche Gestalt, ein konkretes Gewicht, das man hören könnte, wenn die Zeitung in den Briefkasten kollert...
Man kann eine Zeitung in Teile zerlegen und auch vernichten. Es gibt zahlreiche Parallelverwendungsmöglichkeiten für sie, aber wie willst du eine Brasse von zwei Kilo in ein Internetportal einwickeln? ... Wenn der Computer abstürzt, hängt man in der Telefonschlange des Helpdesks. Wenn ein Buch abstürzt, hebt man es auf und liest weiter.
(Hannu Raittila: Gewicht und Gewichtlosigkeit, in: die horen, 232, Übersetzg. Stefan Moster)
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Da zwei Drittel der Erdoberfläche von Ozeanen bedeckt sind, gibt es gar nicht so viele direkte Antipoden, wie man denkt. Wenn z.B. hier im Haag oder auch in Hamburg Tunnel gebohrt würden, kämen sie beide südöstlich von Neuseeland östlich der Datumsgrenze mitten im Südpazifik heraus. Big Island von Hawaii mit seinen ununterbrochen quellenden Lavaströmen und das Dorf Kubu in Botswana aber sind antipodisch liegende Orte, die flechtenüberzogenen Felsen über Miraflores de la Sierra nördlich von Madrid und der weite Strand von Castle Point an der Südspitze von Neuseelands Nordinsel, das chilenische Patagonien um die atemberaubenden Torres del Paine und die Traumlandschaft um den Baikalsee. Im Überschwemmungsgebiet Entre Rios von argentinisch Patagonien leben zwei Brüder in dritter Generation als Fährleute, sie behaupten von sich selbst, daß ein streunender Hund, der bei Vorbeifahrenden auf die Ladefläche des Pickup springt, schon mehr von der Welt gesehen habe als sie in ihrem ganzen Leben. Sie haben den ihnen vorgegebenen Ort auf der Erde nie verlassen, geschweige denn in Frage gestellt. Sie sind Philosophen der Ameisen und der Frösche, der einzigen Wesen, die sie über Tage hinweg zu Gesicht bekommen. Unsterbliche Sätze: “Die Kröten spielen heute abend nicht Gitarre.” “Ich bin wie eine Waschmaschine. Jede Frau kann mich bedienen.” Und direkt unter den Füßen dieser beiden einsamen Weisen treten sich achtzehn oder zwanzig Millionen Chinesen im dichtgepackten Shanghai auf die Füße, der Atem, den sie und die Stadt ausstoßen, verdunkelt jeden Tag die Sonne. Sie quellen aus den Fabriktoren und Fähren und durch die engen Straßenschluchten wie die zähflüssige Lava auf Hawaii, ebenso alles unter sich begrabend.
Die Welt ist da schön, wo der Mensch noch in der Unterzahl ist. Und wo noch solche Mengenverhältnisse vorherrschen, liegen von hier aus die Antipoden.
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