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Mittwoch, 28. Januar 2015
Von Savannen und Schlangen

500 Kilometer vom nächsten Ort entfernt, saßen wir im Outback der Kimberleys mit dem Rücken zu einem Eukalyptuswäldchen unter dem weit ausladenden Schirm einer einzelnen Akazie und betrachteten die offene Landschaft im Nachmittagslicht mit dem hohen, trockenen Gras, vereinzelt in dieser Savanne stehenden Bäumen und einem zerklüfteten, niedrigen Sandsteinkliff, an dessen Fuß sich Wasser in einem Billabong gesammelt hatte. Wir waren uns sofort einig gewesen, daß wir an diesem Ort unter diesem Baum den Abend und die Nacht verbringen wollten. Ich hatte den Hilux so gestellt, daß er auf einer möglichst ebenen Stelle mit der linken oder Küchenseite nach Westen stand, die Sonnenmarkise ausgezogen und mit den dünnen Aluminiumzeltstangen gestützt, die Schublade mit dem Zweiflammenkocher aus der Außenwand gezerrt, die Gasflasche angeschlossen und den Nachmittagstee gekocht, saß an den Baumstamm gelehnt mit einem Becher Tee neben mir und einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien, während sich die Herzogin schon an die Vorbereitungen fürs Abendessen machte. Es sollte ein schön scharfes Curry geben.
‟Thai oder indisch?”, fragte sie.
‟Heute Thai”, sagte ich und wußte, daß sie auch mit den begrenzten Vorräten und Möglichkeiten unserer Bordküche wieder etwas sehr Leckeres auf den Campingtisch zaubern würde. ‟Soll ich dir, während Du kochst, vorlesen, warum wir uns an diesem fremden und völlig verlassenen Ort in der Einöde so wohl und angeheimelt fühlen?”
‟Abgesehen davon, daß wir zu zweit gut miteinander auskommen, meinst Du?”, fragte sie zurück.
‟Das ist ja relativ ortsunabhängig der Fall”, gab ich zurück und bekam einen Kuß für die galante Antwort.
‟Na, dann zergliedere und analysiere mal das schöne Gefühl und die schöne Stimmung hier”, sagte sie. ‟Aber laß noch etwas von beidem übrig.”
‟Aber es ist doch interessant, zu wissen, warum wir beide auf die Pampa hier überhaupt mit diesem positiven Gefühl reagieren.”
‟Ist doch ganz einfach: Du hast mich im Lauf unseres Zusammenlebens allmählich mit deinem Spleen für leere Landschaften infiziert.”
‟Erstens ist die Landschaft hier nicht leer, und zweitens sind wir der Evolutionsbiologie zufolge alle schon vor der Geburt mit diesem Spleen infiziert.”
‟Du machst mich neugierig. Was liest’n da?”
‟Gordon Orians: Snakes, Sunrises, and Shakespeare.”
‟Netter Titel für einen Evolutionsbiologen. Fast poetisch.”
‟Mit Alliteration fängt man Literaturliebhaber.”
‟Nun fang schon an!”, sagte sie und knotete die Tüte mit Galgant und Kaffirlimettenblättern auf.

‟Wenn Menschen auf etwas emotional stark reagieren, so wie wir hier, dann ist es wahrscheinlich im Lauf der Evolution unserer Art einmal sehr wichtig, möglicherweise überlebenswichtig für uns gewesen, behauptet die Evolutionsbiologie.
Bestimmte Erfahrungen zu machen, wie etwa mit der Ungenießbarkeit von unbekannten Früchten oder der Überlegenheit bestimmter Raubtiere, kann ein Individuum teuer zu stehen kommen. Es ist darum nützlich für das Fortbestehen der Art, solche Erfahrungen als Information aufzubewahren und an andere weiterzugeben, damit nicht jedes Individuum immer alles am eigenen Leib ausprobieren muß. Doch Lernen ist teuer, und zwar nicht nur im Hinblick auf die möglicherweise fatalen Folgen des Ausprobierens.”
‟Riech mal, sind die Shrimps noch gut?”
‟Ja. Wußtest Du, daß unser zentrales Nervensystem, also Gehirn plus Rückenmark, nur zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, aber zwanzig Prozent unserer Stoffwechselaktivitäten verbraucht?
‟Das von Männern oder das von Frauen?”
‟Ich nehme an, gemittelt. Wenn man allerdings differenzieren und gegen zwei Prozent vom durchschnittlichen Gewicht eines männlichen Körpers zwei Prozent vom Durchschnittsgewicht der Frauen aufwiegen wollte...”
‟Chauvi!”
‟Hirnaktivität kostet uns alle viel Energie”, lenkte ich versöhnlich ein. ‟Um kostbare Energie zu sparen, so hat der Evolutionsbiologe George C. Williams (Adaptation and Natural Selection) schon in den Sechziger Jahren behauptet, speichern wir Elemente unseres Verhaltens, die wir ohne bewußte Verstandesaktivität erledigen können, in unseren Genen. Wenn Individuen einer Art in ihrer Umwelt oft genug mit einem bestimmten Reiz konfrontiert werden, kann ihre adäquate Reaktion auf diesen Reiz gewissermaßen einen Abdruck in ihrem Erbgut hinterlassen.
Wir kommen bei unserer Geburt nicht mit einem leeren Hirn, einer Tabula rasa, zur Welt. Unser kleinkindliches Gehirn besitzt ein genetisch weitergegebenes Gedächtnis, angeborenes Wissen über die Welt. Schon bevor wir uns selbsttätig in einem Raum bewegen können, scheinen wir etwa über intuitive Vorstellungen von Raum, Zeit und Kausalität zu verfügen. Und nicht nur wir. Forscher haben aufgezeichnet, welche Hirnareale in erwachsenen Ratten aktiv sind, wenn sie sich in einem Raum orientieren. Setzt man ganz junge Ratten zum ersten Mal in ihrem Leben in ein Labyrinth, beginnen in ihnen sofort die gleichen Hirnbereiche zu arbeiten. D.h. die Gehirne von Ratten sind von Geburt an darauf programmiert, räumliche Dimensionen zu erkennen.
Ein Wesen mit einem Zentralnervensystem, das schon bei der Geburt Modelle über die Welt oder bestimmte Erwartungshaltungen mitbringt, kann neue Informationen besser verarbeiten und beurteilen und sich so auch in ihm unbekannten Situationen gleich angemessen verhalten. So wie die Flossen eines Fischs schon zum Schwimmen eingerichtet sind, bevor er schlüpft, ist unser Gehirn schon vor unserer Geburt bis zu einem gewissen Grad an die Welt angepaßt.
In den Genen ist auch die Entwicklung unserer fünf Sinne festgelegt; so können wir im Gegensatz zu manchen Tieren kein ultraviolettes Licht sehen und keinen Ultraschall hören. Wir reagieren in der Regel kaum auf vorhandene Gerüche im Hintergrund, aber sehr stark auf plötzliche Geruchsveränderungen. Als Primaten verlassen wir uns aber vor allem auf unsere Augen, um Objekte zu lokalisieren und zu erkennen, wenn sie sich bewegen. In Kombination mit einem Programm in unserem Gehirn, das auch ohne unsere bewußte Aufmerksamkeit ständig Informationen aufnimmt und verarbeitet und das selbst schlecht definierte Umrißlinien und unvollständige Objekte ergänzen und blitzschnell zu bestimmten realen Objekten vervollständigen kann, sind wir besonders fix darin, Fremdes zu identifizieren und einzuschätzen und seine Körpersprache zu verstehen.”
‟Sagt dir meine Körpersprache, daß du mir mal die Dose Ananas hier öffnen könntest?”
‟Gib her! Der Primat in mir reißt dir die Dose mit bloßen Händen auf. Zumal sie mit diesem praktischen Ring dazu versehen ist. – Kultivierung von Pflanzen übrigens, Ackerbau und Domestizierung von Nutztieren sind in der Evolutionsgeschichte des Menschen relativ junge Neuerungen; Verhaltensweisen, die wir in der langen Zeit davor auf der Kulturstufe von Jägern und Sammlern entwickelten, haben uns über einen viel längeren Zeitraum zu überleben geholfen.”
‟Aber du hast heute wieder kein Känguru erbeutet.”
‟Das Goanna, das ich vorhin zwischen den Felsen aufgespürt habe, mochtest du nicht.”
‟Igitt, die sind doch giftig!”
‟Die Reaktion unserer Vorfahren auf Dinge, die ihnen in ihrer Umwelt begegneten, bestimmt unsere gefühlsmäßigen Reaktionen bis heute. Sie begannen, das zu mögen, was für ihr Überleben gut war, und entwickelten Abneigung und Widerwillen gegen Dinge und Phänomene, die ihnen gefährlich werden konnten.”
‟Sag ich doch.”

‟Diese Vorlieben und Abneigungen sind bis heute in uns gespeichert. Wir mögen oder verabscheuen Dinge ‘instinktiv’. So scheuen wir instinktiv vor verwesendem Fleisch oder dem Zersetzungsgeruch anderer verrottender Nahrung zurück, obwohl wir erst vor kurzer Zeit erforschen konnten, daß dieser Geruch von Mikroorganismen verursacht wird, die uns schädlich oder gar gefährlich werden können.
Oder nimm nur meine alberne Angst davor, hier im Busch einen dürren Zweig beiseite streifen zu wollen, der sich dann unversehens als Taipan herausstellt, oder im Gras auf eine Todesotter zu treten.”
‟Ts”, machte die Herzogin bloß.
‟Schlange!”, sagte ich.
Sie guckte wie Ka und züngelte.
‟Schön, du hast dich eben schon weitgehend an den Asphaltdschungel angepaßt, während ich immer noch mit den angeborenen Ängsten aller Primaten mit Ausnahme der Lemuren auf Madagaskar, wo es keine Giftschlangen gibt, herumlaufe.”
‟Dann stamme ich anscheinend von diesen Lemuren ab, oder mir fehlt einfach ein Teil deiner Phantasie”, erklärte sie.
‟Ist nicht nur reine Phantasie”, entgegnete ich. ‟Laut Evolutionsbiologie haben viele Säugetiere, wir eingeschlossen, im Amygdala einen neuronalen Schaltkreis der Angst, der von nur ganz wenigen und selbst peripher wahrgenommen Signalen alarmiert wird. Dazu gehören ganz speziell die Körperform, die typischen Farbmuster und die Fortbewegungsweise von Schlangen. Denn Schlangen können nun einmal unter bestimmten Bedingungen eine tödliche Gefahr für uns darstellen. Neue Fallstudien widersprechen übrigens der allgemeinen WHO-Statistik, der zufolge nur wenig mehr als 100.000 Menschen pro Jahr an Schlangenbissen sterben sollen. In den ärmeren Ländern gelangen nämlich nur die wenigsten Opfer in die Behandlung von Ärzten und damit in die Statistik. Allein in Indien sollen diesen neuen Erhebungen zufolge jedes Jahr 46.000 Menschen an Schlangenbissen sterben. In Bangladesch werden in jedem Jahr 700.000 Menschen von Schlangen gebissen. Die Fähigkeit, sie frühzeitig zu erkennen, bedeutet in einem Habitat, in dem auch Schlangen auf Jagd gehen, also einen klaren Überlebensvorteil. Und den haben wir uns als Art angeeignet, haben Neurophysiologen festgestellt. Unser Zentralnervensystem reagiert selektiv auf bestimmte Winkel und Kanten in Farbverläufen und Mustern, und ganz besonders schnell springt es auf mosaikartige oder diamantförmige Rautenmuster an, wie sie in der Natur vor allem die Färbung von Schlangen aufweist. Der schwedische Psychologe Arne Öhman hat wiederholt Tests durchgeführt, bei denen Versuchspersonen Bilder gezeigt wurden, dazwischen für höchstens 30 Millisekunden, also unterhalb unserer bewußten Wahrnehmungsschwelle, Bilder von Schlangen – und die Versuchspersonen reagierten mit heftigen spontanen Aversionen, die sich auch im Leitungswiderstand der Haut meßbar nachweisen ließen. Wir erkennen also Schlangenhaftes schon subliminal.”
‟Gilt das auch für Thainudeln?”, fragte die Herzogin.

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