Ich weiß ja, wir schreiben nicht April 1974, sondern 2014, und die Wehrmacht Bundeswehr schickt wieder Spähoffiziere in die Ukraine.
Angesichts dessen, was in unserem zukünftigen wunderbaren US-EU-Wirtschaftsraum derzeit so alles getrieben wird, lockt es geradezu unwiderstehlich, sich still in die schönen, dunklen Eichen- und Kiefernwälder im Innern Istriens zurückzuziehen, wie es vor mir längst viele andere getan haben. Anfang der 1960er Jahre zum Beispiel hatte der damals sechsundzwanzigjährige kroatische Bildhauer und Maler Aleksandar Rukavina den von Tito der Kunst Jugoslawiens verordneten Sozialistischen Realismus satt. Er gehörte zur Gruppe der sogenannten ‟15 Jungen” an der Zagreber Kunstakademie und wollte auch abstrakt malen und modellieren dürfen. Im Sommer ‘61 ging er nach Istrien, damals ein von massiver Landflucht geprägter und vom realsozialistischen Fortschritt vergessener Winkel in der modernen Föderativen Volksrepublik Jugoslawien.
In Grožnjan auf einem Bergrücken über der Mirna, das als Grisignana den Venezianern 400 Jahre lang als wichtiger befestigter Stützpunkt und Verwaltungssitz mit Ausblick auf die Adria gedient hatte, fand er eine malerische, doch fast völlig von Menschen verlassene Stadt mit verfallenden, aber wunderbaren alten Steinhäusern aus dem 15.-18. Jahrhundert vor. Rukavina war begeistert und schlug dem zuständigen Bürgermeister im nahen Buje eine Vereinbarung vor: Gegen die Selbstverpflichtung, sie zu renovieren, durften er und Freunde mietfrei in die verlassenen Häuser von Grožnjan einziehen. Rukavina trommelte dreißig Kollegen zusammen, und gemeinsam machten sie sich daran, den Ort wieder aufzubauen.
Seitdem lebte Grožnjan als Künstlerkolonie wieder auf. Einwohnerzahl im Dorf heute: 164. Mehr als die Hälfte von ihnen gab bei der letzten Volkszählung Italienisch als Muttersprache an. Die venezianische Vergangenheit ist also noch nicht ganz vergangen, und in der Architektur lebt sie ohnehin weiter. An der Hauptstraße, der Contrada grande, steht noch die Cancellaria aus dem Jahr 1492, neben einem Stadttor aus der gleichen Zeit das ehemalige Kornhaus der Stadt mit einer venezianischen Renaissance-Loggia. Die katholische Pfarrkirche aus dem Spätmittelalter wurde zwar 1770 barock verschandelt, aber wenn man ihr den Rücken zudreht, kann man von dem baumbeschatteten Dorfplatz davor, ein Platz, wie ein Dorfplatz sein sollte, inklusive Bocciaplatz, wie von einem hohen Balkon über die grüne Hügellandschaft Istriens mit Wäldern und Weingärten bis zum silberglänzenden Meer im Westen blicken. Wahrlich kein schlechter Rückzugsort!
Hier oben bleiben und arbeiten unter lauter Menschen, die in ihren Ateliers und Werkstätten das Jahr über malen, bildhauern, töpfern, schnitzen, Wein keltern, fotografieren, musizieren, bis im Sommer im International Cultural Center of Young Musicians Nachwuchsmusiker aus aller Welt zu Workshops und Konzerten anreisen, die Maler auf den Straßen ihre jährliche Gemeinschaftsausstellung ‟ex tempore” abhalten und international bekannte Jazzmusiker der Einladung ‟Jazz is back” nach Grožnjan folgen. Mit ihnen, Musik und Wein den lebenssprühenden Sommer feiern und sich dann darauf freuen, daß in dem Felsennest oben auf dem alten Bergrücken aus beständigem Grisignana-Marmor wieder die Ruhe einkehrt, derentwegen man gekommen ist.
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