Mag Caliban vielleicht auch die Personifizierung einer düster wilden Seite von Prosperos Psyche sein, so hat er auch als solche doch eine ganz interessante äußere Gestalt vorzuweisen.
Er selbst bezeichnet sich als ‟scheckig Wechselbalg”, Prospero nennt ihn einen ‟Erdkloß”, einen ziemlich ungeschlachten Waldschrat dürfen wir uns also vorstellen. Der Hofnarr Trinculo – und Narren dürfen ja an Feudalhöfen mehr als andere die Wahrheit aussprechen – wird am präzisesten und lacht sich ‟zu Tode über dies mopsköpfige Ungeheuer”. Was heißt das? Ist Caliban von Shakespeare als halbmenschliches Mischwesen gedacht, mit einem menschlichen Körper und einem Hundekopf? Das ergäbe schon ein ziemlich anderes Bild als das, das Robert Browning in seinem Monolog Caliban upon Setebos Mitte des 19. Jahrhunderts von Caliban als Mensch in Rousseaus Naturzustand zeichnete. Unser ehemaliger Sete-Boss Arno Schmidt hat in seiner Browning aufgreifenden Erzählung Caliban über Setebos genau hundert Jahre später außer netten Flüchen à la ‟Potz Tittsian & Pimporetto” und der Vorstellung von Bucheinbänden aus ‟patagonischen Jungfernhäutchen” wenig zum Calibanbild beizutragen; doch darum geht es ihm ja auch gar nicht. Interessant immerhin der Hinweis auf Patagonien. Wieso Patagonien? Was wußte Shakespeare von Patagonien?
Darüber wissen wir nicht viel, denn Shakespeare hat seine Quellen ja gern verschleiert. ‟He was rarely content with one narrative or dramatic source alone”, konstatierte Geoffrey Bullough in Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, und H.H. Furness seufzte schon 1892 in seiner Studie zum Sturm: ‟Seeing that no single source of the whole play has yet been discovered, we must forego the pleasure of a fortright, and be restricted to meanders”.
Aus solchen Mäandern zog der amerikanische Literaturwissenschaftler Gary Schmidgall 1986 eine neue Quelle für den ‟Sturm” ans Tageslicht, einen ursprünglich spanischen Ritterroman nach Art des Amadis: Primaleon von Griechenland von Francisco Vazquez aus dem Jahr 1521. Schmidgall, der sich sonst vornehmlich mit den Werken schwuler Autoren wie Oscar Wilde oder Walt Whitman beschäftigte, veröffentlichte seine Entdeckung im selben Jahr 1986, in dem Bruce Chatwin an Aids erkrankte und begreiflicherweise mit anderem beschäftigt war, als die Shakespeare Quarterly zu lesen. Sonst hätte er vermutlich Einspruch erhoben. Die These, daß Shakespeare den Primaleon kannte, hat Chatwin nämlich schon 1977 in seinem Patagonienbuch* veröffentlicht und natürlich eine spannende Episode draus gemacht.
(*Die folgenden Zitate nach der dt. Ausg.: In Patagonien (1984), übs. von Anna Kamp, S.129ff.)
‟Bernal Diaz berichtet, daß sich die spanischen Eroberer beim Anblick der juwelengeschmückten Städte Mexikos gefragt hätten, ob sie nicht vielleicht in eine Erzählung aus den Amadis-Romanen geraten seien oder in einen Traum”, beginnt Chatwin das 49. Kapitel seines Patagonienbuchs. ‟Ähnliches trug sich bei der Ankuft Magellans in San Julián im Jahre 1520 zu: Vom Schiff aus sahen sie, wie ein nackter Riese am Ufer tanzte [...] Magellans Chronist Pigafetta sagt [...]: Magellan habe «Ha, Patagon!» gesagt und damit ‘großer Fuß’ gemeint, weil der Indianer große Mokassins anhatte. Dieser Ursprung des Wortes ‘Patagonien’ wird im allgemeinen akzeptiert. Aber auch wenn 'pata' im Spanischen ‘Fuß’ heißt, so hat das Suffix 'gon' keine Bedeutung. Das griechische Wort 'pata???' hingegen bedeutet ‘Brüllen’ oder ‘Zähneknirschen’, und da Pigafetta von den Patagoniern behauptet, sie ‘brüllten wie Stiere’, ist es durchaus möglich, daß zur Besatzung Magellans ein griechischer, vielleicht vor den Türken geflohener Matrose gehört hatte. Ich las die Mannschaftsrollen durch, konnte aber keine Registrierung eines griechischen Matrosen finden. Dann machte mich Professor Gonzáles Diaz aus Buenos Aires auf ‘Primaleon von Griechenland’ aufmerksam, einen Ritterroman, der ebenso unglaubwürdig und ebenso beliebt war wie ‘Amadis von Gaula’.
Ritter Primaleon segelt zu einer abgelegenen Insel und triff dort auf ein grausames, häßliches Volk, das rohes Fleisch ißt und sich in Felle kleidet. Im Innern der Insel lebt ein Ungeheuer mit dem ‘Kopf einer Dogge’ und den Füßen eines Hirsches, das der ‘Große Patagon’ genannt wird, aber trotz seiner äußeren Erscheinung menschliche Regungen erkennen läßt und Frauen liebt.” – Sounds familiar, eh?
‟Das Oberhaupt der Insulaner fleht Primaleon an, sie von dem Ungeheuer zu befreien [...] Daraufhin beschließt Primaleon, die Kreatur in seine Heimat Polonia mitzunehmen, um die königliche Kuriositätensammlung zu bereichern [...] Als Magellan den Winter in San Julián verbrachte, faßte er ebenfalls den Entschluß, zwei dieser Riesen für Karl V. und seine Kaiserin zu entführen. Er legte ihnen irgendeinen Tand in die Hände, während sie von seinen Männern an den Knöcheln mit Eisenringen gefesselt wurden, und erklärte, das sei auch eine Art Schmuck. Als die Riesen begriffen, daß man ihnen eine Falle gestellt hatte, brüllten sie auf (in Richard Edens Übersetzung) ‘wie Stiere und riefen ihren Oberteufel Setebos um Hilfe’.
Shakespeares Quellen für das Stück sind Gegenstand heftigster Auseinandersetzungen. Wir wissen aber, daß er den Bericht über den üblen Trick von San Julián in Pigafettas ‘Reise’ gelesen hat”, denn so heißt es im 'Sturm': ‟Kann ich ihn wieder zurechtbringen, und ihn zahm machen, und nach Neapel mit ihm kommen, so ist er ein Präsent für den besten Kaiser, der je auf Rindsleder getreten ist.”
‟Die Frage ist nur: Kannte Shakespeare auch das Buch, das die Ereignisse von San Julián ausgelöst hat? Ich glaube, er kannte es”, meint Chatwin. ‟Beide Ungeheuer waren halb Mensch, halb Tier. Der Große Patagon war ‘gezeugt von einem Biest in den Wäldern’ und Caliban ein giftiger Sklave, vom Teufel selbst gezeugt. Beide erlernten eine fremde Sprache. Beide liebten eine weiße Prinzessin (auch wenn Caliban versuchte, Miranda zu vergewaltigen). Und beide stimmten in einem wichtigen Punkt überein: der Patagon hatte den ‘Kopf der Dogge’.”
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