Cetinje – “im Herzen einer Wildnis aus Fels” – steht im Gegensatz zum heißen Podgorica oder dem hektisch zugebauten Budva unten an der Küste eher für das verwunschene Montenegro. 500 Jahre lang war es die Hauptstadt des Landes, hatte aber noch Mitte des 19. Jahrhunderts nicht viel mehr als tausend Einwohner und heute kaum mehr als 15.000. Eine Kleinstadt also wie Eutin zum Beispiel oder Uetersen. Gleichwohl eine europäische Hauptstadt eines unabhängigen Landes seit dem späten Mittelalter. Leigh Fermor nannte es zu Recht ein altes Königreich.
Als im 7. Jahrhundert im Gefolge der Awaren slawische Clans und Stämme auf den Balkan einwanderten, erkannten sie dort zwar nominell eine Oberherrschaft Ostroms an, lebten aber besonders im bergigen Landesinneren jahrhundertelang praktisch unabhängig. Byzanz beschränkte seine Präsenz allenfalls auf die Kontrolle der Küstenstriche.
Nach der verheerenden Niederlage der Byzantiner gegen die Rum-Seldschuken 1176 bei der Grenzfeste Myriokephalon in Zentralanatolien schüttelten auf dem westlichen Balkan die Serben unter eigenen Fürsten für drei Jahrhunderte auch jede formale Oberherrschaft ab. Doch rückten die Türken kontinuierlich weiter vor und eroberten unter den Osmanen den Balkan. 1455 nahmen sie die damalige serbische Hauptstadt Smederovo ein und machten Serbien zum Vasallenstaat. Auf dem unzugänglichen Gebiet des heutigen Montenegros begnügten sie sich wie vor ihnen die Byzantiner mit der Beherrschung der Küste. Der karge Rest erschien ihnen wohl keiner Mühe wert.
“Das Kerngebiet der Zeta [Montenegro und der Norden Albaniens], durch unwirtliche Gebirgs- und Karstnatur, sowie das Fehlen strategischer größerer Siedlungen gekennzeichnet, wurde politisch nie gänzlich beherrscht [...] Damit beginnt die neuere Geschichte Montenegros als Staat. Faktisch war dieser „Staat“ allerdings ein im Innern nur lose verbundenes, durch rivalisierende Clanstrukturen geprägtes Gemeinwesen, das - ohne moderne bürokratische Staatsspitze - unter der meist eher symbolischen Führung des jeweiligen Bischofs vor allem durch die äußere Bedrohung durch die Osmanen und die daraus resultierende gemeinsame Kampferfahrung zusammengehalten wurde. Ein geschickt agierender Bischof - unter dem Titel Vladika (Wladika) - konnte jedoch auch mehr als ein symbolischer Führer sein und zeitweilig geistliche und weltliche Macht - unter der Bedingung der Kooperation mit den Führern der freien montenegrinischen Bergstämme - auch faktisch vereinigen.” (Wikipedia)
Mit anderen Worten blieb Montenegro innerhalb des Osmanischen Reiches eine praktisch unabhängige christlich-orthodoxe Theokratie, das einzige nie von den Türken eroberte und besetzte Territorium auf dem Balkan. Seine Hauptstadt wurde das um ein 1482 gegründetes Marienkloster entstandene Cetinje. Das christliche Patriarchat Serbiens wurde von den Osmanen abgeschafft. Die montenegrinisch-orthodoxe Kirche aber blieb bestehen, bildete sogar die zentrale Macht im Lande und betrachtet sich bis heute als autokephal.
Seit 1697 wurde Montenegro von den Fürstbischöfen der Familie Petrović-Njegosch regiert, bis Danilo I. 1852 sein geistliches Amt aufgab und weiterhin als nur weltlicher Fürst die Macht ausübte. Für seine Modernisierungsbemühungen wurde er 1860 ermordet. Sein Neffe und Nachfolger Nikola führte die Bestrebungen, aus Montenegro einen verfaßten Staat mit Gesetzbuch, Verwaltung, regulärer Armee und einer Regierung zu machen, dennoch weiter. Nachdem es im Russisch-Türkischen Krieg als Verbündeter an der Seite des siegreichen Rußlands gestanden hatte, erkannten auch die europäischen Großmächte 1878 auf dem Berliner Kongress die Unabhängigkeit Montenegros an, und zu seinem 50-jährigen Thronjubiläum ließ sich Fürst Nikola 1910 vom Parlament zum König erheben.
Cetinje bekam Straßenbeleuchtung und städtische Wasserleitungen und sollte überhaupt zur repräsentablen Hauptstadt eines Königreichs ausgebaut werden. Den Bau eines Schlosses hatten schon Nikolas Vorgänger begonnen, doch in den Cetinjer Gründerjahren kamen nun Staatsarchiv, Museum, Krankenhaus, Schulen und vor allem ausländische Botschaften hinzu, die allesamt heute noch dastehen, in einen milden Dornröschenschlaf versunken. Denn nur zwei Jahre nach Errichtung der Monarchie erklärte das kleine, aber nun geltungssüchtige Montenegro im Bündnis mit Serbien, Bulgarien und Griechenland (und mit Rußland im Hintergrund) dem Osmanischen Reich den Krieg. Die Verbündeten schlugen die Türken mit vereinten Kräften, sodaß sie im Londoner Vertrag von 1913 auf fast all ihre europäischen Besitzungen Verzicht leisten mußten. Montenegros Staatsgebiet wurde beträchtlich vergrößert, es hatte aber auch fast ein Drittel seiner 30.000 Mann starken Armee verloren.
Dennoch trat es 1914 nach den dilettantischen Schüssen des minderjährigen Gavrilo Princip im gar nicht weit entfernten Sarajevo, die Österreich-Ungarn den Vorwand für einen Krieg gegen Serbien mit Einschluß “ernster europäischer Komplikationen” lieferten, an der Seite Serbiens und der Triple-Entente aus Großbritannien, Rußland und Frankreich in den entbrennenden Ersten Weltkrieg ein. 1916 wurde es von österreichischen Truppen besetzt und nach Kriegsende 1918 zwangsweise mit Serbien vereint. Die alte Königsherrlichkeit war dahin, der Traum Cetinjes als königlicher Hauptstadt ausgeträumt.
Doch wenn man durch seine wenigen Straßen schlendert, sieht man, daß es heute noch träumt. Vielleicht ist ihm selbst nicht ganz bewußt, wovon. Das allgemeine Tempo ist jedenfalls geradezu schlafwandlerisch. So erklärte z.B. die angerufene Zimmervermittlung am Telefon: “Ach, was soll denn der ganze Aufwand mit dem Vermitteln? Ich gebe Ihnen die Nummer der Pension, und Sie rufen einfach selbst da an.”
Mitten in der Innenstadt gibt es alte und erstaunlich schöne Parkanlagen. Vor einem kleinen Parkcafé steht unter Bäumen ein Billardtisch im Freien. Vielleicht erinnert er daran, daß die Montenegriner die Fürstenresidenz früher "Biljarda" nannten, weil der vorletzte Vladika Petar II. Petrović-Njegoš in den 1840er Jahren darin etwas so Unerhörtes wie einen Billardtisch aufstellen ließ. Heute haben die Jugendlichen Zeit, die bunten Kugeln übers grüne Tuch rollen zu lassen. Unzufrieden wirken sie nicht dabei.
Touristen? Nicht viele. Außer uns scheint eine einzige Reisegruppe in der Stadt unterwegs zu sein, aus Israel. Die Schönheit der ehemaligen Botschafterresidenzen scheint sich bis Tel Aviv rumgesprochen zu haben. Die englische z.B. öffnet sich mit der Gartenseite zu dem schattigen, alten Park, mit seinem hohen Baumbestand, die französische ist reinster Pariser Jugendstil. Die türkische steht gegenüber dem kleinen, aber edlen neoklassizistischen Theater Zetski dom von 1884. Lauter Perlen in einer sonst unbedeutenden Kreisstadt, nur dreißig Kilometer von der überfüllten, rummeligen Adriaküste entfernt, aber durch das Lovćen-Gebirge von ihr getrennt in einer anderen Welt.
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