Als ich mir die wetterharte Irrmgard auf dem Schiffsdeck so ansah, dachte ich, daß auch sie als Überlebende zu der in ihrer großen Mehrheit längst abgetretenen Generation gehört, die einmal im Geist von “zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl” erzogen wurde und durch den Krieg, die Diktatur und die "schlechte Zeit" eine heute kaum mehr anzutreffende Selbstdisziplin und Härte gegen sich selbst (und andere) entwickelt hat.
Unter dieser emotionalen Panzerung hat die Generation ihrer Kinder schwer gelitten, und dabei braucht man nicht einmal an die erst jetzt in ihrer ganzen Brutalität öffentlich bekannt werdenden Auswüchse in den Kinderheimen und Erziehungsanstalten der Fünfziger und Sechziger Jahre zu denken; dazu reicht schon die Erinnerung an das System strenger Regeln und seelischer und körperlicher Züchtigungen, das damals in ganz “normalen” Familien gang und gäbe war.
Andererseits ist die tief eingewurzelte, unhinterfragte Härte gegen sich selbst eine Eigenschaft, die den langlebigen Vertretern und Vertreterinnen dieser Generation in ihrem hohen Alter sehr förderlich ist: Sie geben sich nicht auf, lassen sich nie hängen, klagen nicht und ignorieren einfach Behinderungen und Hindernisse, vor denen viele Jüngere kapitulieren würden.
“Tante Irrmgard” (sie ist keine wirkliche Verwandte, sondern nur eine Nenntante der Familie) wollte neulich eine alte Freundin besuchen, die irgendwo abgelegen auf dem Lande lebt. Ein Auto besitzt Irrmgard schon seit vielen Jahren nicht mehr. Also bestieg sie den nächsten ICE für die weite Strecke, wußte nicht, daß diese Tiefflieger nur noch an ganz wenigen Bahnhöfen halten, und rauschte ergo ohne Möglichkeit zum Aussteigen durch den Bahnhof der von ihr anvisierten Stadt. Stieg sie halt am nächsten Großstadtbahnhof aus und nahm einen langsameren Zug zurück. In dem bekam sie aber beim Halt die Tür nicht auf, und der Zug verschleppte sie noch eine Stadt weiter in Gegenrichtung. Na und? Nahm sie eben den nächsten noch langsameren Zug wieder in die andere Richtung und gelangte so nach Stunden endlich in die Kreisstadt, wo sie lange auf den Bus warten mußte, der zwei- oder dreimal am Tag ins ländliche Umland fährt. Natürlich liegt der Bauernhof der Freundin nicht gleich an der Haltestelle, aber Irrmgard trainiert für solche Einsätze, indem sie mit ihren über 90 Jahren, steifen Beinen und krummem Rücken täglich “wenigstens die kleine Runde” von 4 Kilometern dreht, “wenn ich mich besser fühle oft auch mehr.” Tippelte sie also die Landstraße entlang und traf nach einer halben Tagesreise endlich beim Haus der Freundin ein. Die beiden tranken ein Käffchen zusammen, plauschten ein Stündchen über alte Zeiten, und dann machte sich Irrmgard auf den ebenso umständlichen Heimweg.
Im Krieg ist Irrmgard zur Medizinerin ausgebildet worden, doch zu einer eigenen Praxis hat sie es nie gebracht. Sie arbeitete bei einer Behörde als Amtsärztin, bis sie spät ihren Mann kennenlernte, einen kleinen Winzer im Rheingau. Der bildete sich vielleicht etwas darauf ein, daß er eine zwar bereits leicht ältliche Jungfer, aber doch eine Studierte ergattert hatte, verbot ihr aber natürlich sogleich nach der Heirat eine eigene Berufsausübung. Dafür hatte er in der Bundesrepublik von damals durchaus das Recht auf seiner Seite. Was wir heute ja nur noch aus der steinzeitlichen Rechtsordnung islamischer Staaten etwa zu kennen vermeinen, war damals auch bei uns geltendes Recht: Frauen brauchten im Zweifelsfall die erklärte Zustimmung ihrer Männer, wenn sie einen Beruf ausüben wollten. Von 1958 bis 1977 hieß es im BGB (§1356, Absatz 1):
„Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“
Und was damit vereinbar war, bestimmte der “Ähämann” (wie Frau Myyrätohtoriin Finnland den ihren schreibt).
Irrmgards Ähämann hielt eine Erwerbstätigkeit seiner Frau für mit ihren ehelichen Pflichten gar nicht vereinbar, und überhaupt wurden ihre zunächst attraktiven beruflichen Qualifikationen allmählich zum Bumerang im eigenen Heim. Der einfache Winzer entwickelte offenbar zunehmende Unterlegenheitsgefühle, wurde unerträglich eifersüchtig und schloß seine Frau manchmal im Haus ein, bis sie irgendwann buchstäblich bei Nacht und Nebel über die Umfassungsmauer des Anwesens türmte und sich erst eine Zeitlang bei Freunden versteckte, ehe sie schließlich zu ihrer Mutter nach Heidelberg zog.
Geschieden wurde die Ehe nie, aber fortan lebte man getrennt von Tisch und Bett, der (v)erbitterte Ähämann trank seinen Wein lieber anstatt ihn zu verkaufen, und Irrmgard machte sich auf, die Welt zu entdecken.
Auf Mallorca kaufte sie in den Siebzigern ein wertloses Stück Weideland mit einem Ziegenstall darauf, doch aus den vielleicht dahintersteckenden Auswanderungsgedanken wurde nie etwas, weil das Grundstück nicht als Bauland ausgewiesen war und Irrmgard sich bereits auf dem Weg nach Südamerika befand, wo sie glaubte, arme Indios mit ihren Medizinkünsten retten zu können. Der völlig verschrobene Eigensinn dieser selbständigen Frau kam in Bolivien voll zum Ausbruch. Auf eigene Faust “adoptierte” sie sozusagen ein kleines Dorf und startete ihr privates Entwicklungshilfeprojekt. Mehrmals flog sie hin und her, die Taschen voll mit Dingen, die den Menschen dort wirklich oder vermeintlich fehlten, alles abgespart von ihren geringen Geldmitteln, während sie selbst weiterhin ärmlichst in der kleinen und nie renovierten Zweizimmerwohnung ihrer inzwischen verstorbenen Mutter wohnte.
Mit der ihr sehr eigenen Logik kam ihr – sie stand inzwischen selbst in ihren Siebzigern – irgendwann der nächste folgerichtige Gedanke, um die Lage “ihrer” Indios nachhaltig auch über ihre eigene Lebenszeit hinaus zu verbessern: ein Nachfolger als Dorfarzt mußte her. Doch woher nehmen in einer Gegend, in der nach ihren Angaben kaum jemand überhaupt je eine Schule besucht hatte? Unsere “Tante Irrmgard” überredete eine Familie, ihr einen jungen Mann zu überlassen, der immerhin irgendwo sogar eine weiterführende Schule abgeschlossen hatte. Den wollte sie mit nach Deutschland nehmen, um ihn in Heidelberg ordentlich Medizin studieren zu lassen.
Bei der Erledigung der paar Formalitäten stellte Irrmard zu ihrer Überraschung fest, daß die Bundesrepublik anscheinend gar nicht so erpicht darauf war, Habenichtsen aus Entwicklungsländern ohne weiteres Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen und Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Irrmgard war entrüstet, daß man ihrem Gutmenschentum solche bürokratischen Hürden in den Weg stellte. Aber eine Irrmgard findet immer Mittel und Wege. Allen Ernstes verfolgte sie eine Zeitlang den Plan – ihr Mann hatte sich mittlerweile unter die Erde gesoffen –, mit zarten 75 den zwanzigjährigen Bolivianer, um ihm die Einreise zu ermöglichen, zu heiraten.
Auf dem Vollzug der Ehe hätte sie womöglich nicht bestanden, aber auch darüber hinaus brauchte es viele geduldige Gespräche, um ihr die Unhaltbarkeit eines solchen Verhältnisses allein für den armen jungen Mann auch nur halbwegs einsichtig zu machen. Für Irrmgard zählte nur, daß ihm und seinem Dorf ein derartiges Arrangement doch glänzende Zukunftsaussichten eröffnet hätte. Am Ende fand sich der Ausweg, daß sie statt einer fröhlichen Hochzeit in Weiß und mit dem Segen der Kirche für diese Sünde im Fleische lediglich eine Bürgschaft für den jungen Mann übernahm und sich verpflichtete, ihm Studien und Aufenthaltskosten zu finanzieren.
So weit ich weiß, hat der kulturgeschockte Indio ein Viertel- oder ein halbes Jahr mit ihr unter einem Dach in der Zweizimmerwohnung gehaust, bevor er in ein Studentenwohnheim reißaus nahm. Aber das bezahlte Irrmgard dann auch noch; dem Herrn Studiosus wurde dementsprechend von ihr das Taschengeld gekürzt.
Von einem Heimatbesuch nach dem Physikum brachte er seine Verlobte aus Bolivien mit nach Deutschland. Irrmgard kam auch für ihren Unterhalt auf, bis die beiden vor ein paar Jahren glücklich Deutschland und Irrmgard für immer den Rücken kehrten. Der frischgebackene Arzt arbeitete zunächst in einer kleinen Klinik in seiner Heimatprovinz, will aber nach allem, was von dort noch in Erfahrung zu bringen ist, bald eine lukrative Privatpraxis in Bogotá übernehmen, um endlich Kohle zu machen.
Irrmgard, so erzählte sie jetzt auf dem Treffen, hat den ganzen letzten Winter über in ihrer Wohnung nicht die Heizung aufgedreht. Sie muß sparen.
Am liebsten möchte sie auch noch das Gas fürs Kochen einsparen. Und ihr ist da etwas äußerst Praktisches untergekommen. Sobald in diesem “Sommer” doch einmal die Sonne zum Vorschein kommen sollte, wird Irrmgard einen bestimmten Outdoor-Laden ansteuern und dort zwei faltbare Solarmodule für den Campingurlauber käuflich erwerben. Die wird sie auf ihrem kleinen Südbalkon installieren und damit eine kleine Kochplatte betreiben. “Für das Bißchen, das ich esse, reicht das, und ich werde endlich unabhängig von diesen Stadtwerken und den privaten Gasanbietern.”
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