"Mann, ist das 2007!” – Der Ausruf ist in Island nach dem Kollaps von 2008 zur festen Redewendung geworden für alles, was noch den neureichen Schick aus dem Vorkrisenjahr erkennen läßt. Und jetzt will eine deutliche Mehrheit des isländischen Wahlvolks offensichtlich am liebsten wieder Monopoly spielen: Gehe zurück auf Los! Nur fünf Jahre nach dem katastrophalen Platzen der Wirtschaftsblase schickt sie die neuen Politiker, die ihre Topfdeckelrevolution an die Macht gebracht hat, um den Saustall des verfilzten alten Establishments aus Bankstern, Wirtschaftsbossen und konservativen Politikern auszumisten, in die kalte Wüste zurück und wählt sich eine Regierung aus genau den beiden alten Parteien, die den neoliberalen Ruin angerichtet haben. Die in den letzten Jahren den Karren aus dem Dreck ziehende Koalition aus Sozialdemokraten und Linken-Grünen verliert 27 Prozent der Stimmen, die Zahl der Abgeordneten von Linken-Grünen wird sogar von 14 auf 7 halbiert.
Die Isländer sind für ihre kurzen Nasen bekannt, ihr Gedächtnis ist noch kürzer. Mann, ist das 2008.
Ein Grund für die Wiederwahl des rechten bürgerlichen Lagers ist die Europaskepsis der meisten Isländer. Als die Wirtschaft der Insel zusammenbrach, sah die Mehrheit dort auf einmal die EU und den Euro als rettenden Hafen, und die an die Regierung gewählte sozialdemokratische Partei von Jóhanna Sigurðardóttir begann Sondierungen für Beitrittsverhandlungen. Inzwischen hat sich auch diese Meinung gründlich gedreht, 60 bis 70 Prozent der Isländer sprechen sich in Umfragen regelmäßig gegen einen Beitritt Islands zur EU aus, und wer will ihnen das verdenken?
Jüngstes Beispiel für das Demokratieverständnis der Eurokraten droht jetzt das europäische Bürgerbegehren gegen eine Privatisierung unseres Trinkwassers zu werden. Die hohe Latte von einer Million Unterschriften, die erforderlich ist, damit die EU-Kommission sich wenigstens einmal mit einem Thema befassen muß, wurde von der Initiative “Wasser ist ein Menschenrecht” (Right 2 Water) im ersten Anlauf spielend genommen. Bald werden mehr als anderthalb Millionen EU-Bürger ihr Ziel mit ihrer Unterschrift unterstützt haben, und noch ist bis September Zeit, sich in die Listen einzutragen (man braucht nur den nebenstehenden Knopf anzuklicken), es könnten also gut auch zwei Millionen und damit das Doppelte des erforderlichen Quorums werden. Aber jetzt melden Medien, mit einer weiteren formalen Hürde könne die Kommission das Begehren trotzdem scheitern lassen, weil sie nämlich in den Statuten der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) auch festgeschrieben hat, daß die Unterstützerstimmen (jeweils zu einem bestimmten Prozentsatz) aus mindestens einem Viertel der Mitgliedsstaaten kommen müssen; bislang sind es statt der demnach erforderlichen sieben aber erst fünf Länder, in denen die erforderliche Unterschriftenzahl gesammelt wurden: Belgien, Deutschland, Österreich, die Slowakei und Slowenien. “Von den knapp 30 vorgeschlagenen Bürgerinitiativen haben sich nur 14 erfolgreich angemeldet”, haben die Deutschen Wirtschaftsnachrichten recherchiert. “In keinem einzigen Fall ist ein Bürgerbegehren bisher erfolgreich gewesen.”
Ergebnis solch “bürgernaher” Politik der EU-Kommission: eine von Eurobarometer, ihrem eigenen Meinungsforschungsinstitut, durchgeführte und am Mittwoch u.a. im Guardian (und der Süddeutschen) veröffentlichte Umfrage in den sechs größten EU-Ländern brachte als Ergebnis “a nightmare for Europe's leaders”. Überall tendiert eine deutliche Mehrheit dazu, der EU als Institution nicht (mehr) zu trauen. In Spanien äußerte 2007 nur einer von vier Befragten Mißtrauen gegenüber der EU, heute tun es drei von vier. In Deutschland mißtraut eine klare Mehrheit von 60% mittlerweile dem “europäischen Traum” der Großbanken und Großunternehmer und ihrer politischen Marionetten in Brüssel und Straßburg.
Gerade kam es zur Gründung der ersten expliziten Anti-Euro-Partei in Deutschland, die vor allem eins will: raus aus der Gemeinschaftswährung. Natürlich wurde sie, fest eingeübte Routine in solchen Fällen, erst einmal als unbedeutende Splittergruppe von weltfremden Spinnern beiseite geschoben, denn der Euro ist ja von unanfechtbarer Instanz, der Kanzlerin, für “alternativlos”, also sakrosankt erklärt worden: “Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.”
Letzten Montag veröffentlichte das Handelsblatt eine Umfrage nach den Wahlaussichten der neuen Partei, Alternative für Deutschland. Ergebnis: mehr als 19% der Befragten erklärten sich bereit, im Herbst die neue Partei zu wählen.
Nur einen Tag später erschien in der Welt ein Interview mit dem Vorsitzenden des Wissenschaftsbeirats beim Bundesfinanzministerium, Kai Konrad, einem direkten Berater Schäubles und der Kanzlerin also, und der schlug darin bis dato aus Regierungskreisen so ungehörte Töne an, daß man sich ungläubig die Ohren putzte.
“Die Länder sollten die Freiheit haben, sich so zu verschulden, wie sie es möchten – unter der Bedingung, dass sie für diese Schulden auch allein die Verantwortung tragen”, erklärte Konrad. Ungläubig hakte die Welt nach: “Sie plädieren damit für eine Rückkehr zum Nationalstaat.”
Darauf Konrad: “Sagen wir es so: Europa ist mir wichtig. Der Euro nicht. Und dem Euro gebe ich mittelfristig nur eine begrenzte Überlebenschance... fünf Jahre klingen realistisch.”
Seitdem wird gerätselt, was dieses Interview bedeutet. Läßt Merkel hier diskret eine komplette Kehrtwendung ihrer Europapolitik ankündigen, die am Ende doch zum Scheitern ihres €uropas führt, oder ist es ein Wahlkampfmanöver, um der neuen Anti-Euro-Partei ihr Kernthema und potentielle Wähler wegzunehmen? So oder so, das Denkverbot zum Euro ist nicht mehr alternativlos.
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