“Aber ja”, es sieht natürlich ganz schnuckelig aus: kleine Häuser in Toskanafarben oder mit Fensterläden in Lavendel, Lindgrün, Zarttürkis und anderen Provencetönen ziehen sich den Hang hinauf, unten schäumt ein Wildbach, oben ragt ein Kampanile mit einem sinnigen Spruch im örtlichen Patois auf: “Lou tems passo, passo lou ben, die Zeit vergeht, verbringe sie gut”. Dazwischen reihen sich an der gepflasterten Dorfstraße kleine (teure) Boutiquen, Galerien, Ateliers und vor allem Töpferstuben, aber das Ganze wirkt auf mich eben artifiziell nicht im Sinn von künstlerisch, sondern in der Bedeutung von gekünstelt; ein künstliches Paradieschen, ein Krähwinkel mit dem wie vom Stadtmarketing erdachten Namen “Gottgemacht”, Dieulefit.
Ich dachte, die Zeiten, in denen “Ein Amerikaner in Paris” gelebt haben muß, um sich zuhause in den Staaten als Künstler ausgeben zu können, wären seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich verebbt, doch als wir mit Suzanna & Bernhard am Ostersamstag zum Einkaufen in den Ort gingen, wurden die beiden gleich am Anfang der Dorfstraße von einer Frau begrüßt und beküßt, die Englisch mit einem unverkennbar amerikanischen Zungenschlag sprach. “Eine Amerikanerin, sie hat hier ein kleines Keramikatelier.”
Eine Ecke weiter der nächste Grüßer und Küsser: “Architekt aus England, retired.”
Und noch einer: “Amerikaner, lebt aber schon lange hier und hatte eine kleine Kunstgalerie, ist aber neulich leider pleite gegangen.” Und so geht es in einem fort.
Natürlich kennen die beiden jeden im Ort. So zieht sich der Einkauf ein wenig in die Länge, aber in Gottgemacht kann man es ja nicht eilig haben. Haben wir es auch nicht. Man wäre andererseits sonst auch zu schnell durch. Für die paar Meter von der katholischen Kirche am einen Ende der Hauptstraße zur kalvinistischen am anderen bräuchte man lediglich ein paar Minuten.
Ja, kalvinistisch. Bis im 18. und 19. Jahrhundert Schießpulver und schließlich Dynamit beim Straßenbau zum Einsatz kamen, lag Dieulefit derart unzugänglich hinter einer Bergbarriere, daß es in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts zum Zufluchtsort für verfolgte Hugenotten geworden war. In Erinnerung an das Schicksal der eigenen Vorfahren boten die Einwohner von Dieulefit auch später Flüchtlingen Asyl. Während der deutschen Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg fanden an die 1500 von den Deutschen Verfolgte, vor allem Juden, Aufnahme in dem kleinen Ort von heute gerade einmal 3000 Einwohnern. Unter ihnen auch etliche Künstler und Intellektuelle wie der Kommunist Louis Aragon, der ebenfalls in der Résistance aktive René Char oder der 1933 aus Nazideutschland geflohene Antifaschist und Maler Wols (Wolfgang Schulze). 2010 wurde Dieulefit für diese außergewöhnliche Hilfsbereitschaft der Titel einer “Village des justes” verliehen, und Anfang dieses Jahres gab es dazu eine Ausstellung in der deutschen Partnergemeinde Lich. Hier ein Bericht des hr dazu, und hier der Link zu einer französischen Dokumentation über das “Wunder von Dieulefit”.
Es wäre schön, wenn es viel mehr Orte gäbe, die sich in eine solche Tradition stellen könnten.
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