Schweigsam, verschlossen, ein wenig steif, unflexibel – so sind sie doch, die Finnen, oder?
Auf unserem Rundgang durch Oulu führen unsere Freunde uns durch die alten Holzhäuser im Zentrum, die Teile der Universität beherbergen, z.B. die nördlichste Architekturhochschule der Welt.
“Hier arbeitet ein Nachbar von uns. Mal sehen, ob er zufällig in seinem Büro ist.”
Ist er; aber gerade im Aufbruch: “Ich muß jetzt raus nach Leppiniemi. Wir veranstalten da eine kleine Konferenz zur Konservierung erhaltenswerter Stadtkerne aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, aber wenn ihr nichts Besseres vorhabt, kommt doch einfach mit.” Schon sitzen wir in Petris Auto und sind auf dem Weg aus der Stadt. Ohne zu wissen, was für eine kleine Perle uns erwartet. Leppiniemi. Schon mal gehört? Wir auch nicht. Petri berichtet mehr von der Konferenz. Ein Professor aus Venedig sei mit seinen Mitarbeitern angereist und werde einen Vortrag halten, ein anderer Kollege komme aus der Türkei und werde über Istanbul sprechen, mitten in den finnischen Wäldern kurz vor Lappland, denn durch die fahren wir schon wieder. Petri erzählt derweil auf Englisch, wahlweise auch auf Schwedisch, manchmal Deutsch, Ungarisch verstehen wir leider nicht. Er schon, besitzt eine kleine Wohnung in Budapest, günstig gekauft, in früheren Zeiten. “Ganz praktisch, denn man fliegt ja doch alle Nase lang nach Mitteleuropa.” Von Oulu, 200 km vor dem Polarkreis.
Bald fahren wir durch einen kleinen Ort, eine alte Holzkirche am Straßenrand, sonst nichts Auffälliges. Muhos, steht auf dem Ortsschild.
“Sagt euch das nichts?” fragt Petri.
“Muhos? Nie gehört.”
“Dabei war Muhos in meiner Jugend einmal weltberühmt. Keine Übertreibung”, sagt Petri, ohne eine Miene zu verziehen. “Hier wurde geboren und wuchs bis zu ihrer Entdeckung auf: die erste Miß Universum überhaupt, Armi Helena Kuusela, die schöne Helena aus Muhos”, lacht er. “Hört sich unglaubwürdig an, ist aber wahr. Maailman kaunein tyttö, die schönste Frau der Welt kam aus Muhos. 1952. Ist etwas her, aber sie lebt noch. Nicht hier, ich glaube in Kalifornien.”
Wir biegen in einen kleinen Waldweg, ein paar Häuschen zwischen Kiefernstämmen, Wasser blinkt irgendwo im Hintergrund, der Oulujoki und ein See. An seinem Ende scheint so etwas wie ein Fabrikgebäude zu stehen. Am hiesigen Ufer unter Bäumen eine kleine Villa. Na ja, Villa ist übertrieben, ein eher unscheinbares Häuschen unter einem niedrigen Dach.
“Wir sind da”, erklärt Petri und stellt den Wagen zwischen zwei Gruppen schlanker Birken ab. Es regnet, und wir huschen vom Auto schnell ins Haus. Drinnen laufen etwa zwanzig überwiegend junge Leute durcheinander, decken den Tisch und tragen ein Mittagessen auf. Die Italiener sind leicht zu unterscheiden, sie tragen auch im Haus Schals und Daunenjacken.
“Ah, Petri hat noch Gäste mitgebracht. Wie schön! Bitte, bedienen Sie sich, setzen Sie sich, was möchten Sie trinken? Sie sind keine Architekten? Macht gar nichts, die Vorträge könnten Sie vielleicht trotzdem interessieren, und gucken Sie sich unbedingt das Haus an, es ist ganz interessant für seine Zeit.”
Petri führt uns erst einmal ins Billardzimmer, an das große Panoramafenster zur Seeseite.
“Das große Gebäude da hinten ist das Wasserkraftwerk Pyhäkoski”, erklärt Petri, und tatsächlich läßt sich neben dem kantigen Fabriksgebäude zwischen den Bäumen eine Staumauer erkennen. “Die Häuser hier herum waren die Unterkünfte für die Arbeiter, und das hier ist das Gästehaus der Elektrizitätsgesellschaft. Alles erbaut von Aarne Ervi, einem unserer besten Architekten der Nachkriegszeit. Vor dem Krieg hat er im Büro von Alvar Aalto gearbeitet; aber das will ja nicht viel heißen.” Daß man in Finnland Aalto heute eher die inzwischen sichtbaren praktischen Mängel an seinen Bauten vorwirft, als ihn zu feiern, hatte ich schon mitbekommen.
“Sieht auf den ersten Blick sehr bescheiden und zweckmäßig, aber doch genau durchdacht und stilistisch wie aus einem Guß aus für ein Gästehaus”, stelle ich nach einem Rundgang durch die Haupträume fest.
“Das kann man wohl sagen”, grient Petri. “Aber ich muß euch noch eins der Gästezimmer zeigen.” Er geht durch einen langen Flur in den Seitenflügel und öffnet am Ende eine schlicht weiß lackierte Tür. Ein einfaches Bett unter einem schießschartenartig schmalen und niedrigen Fenster, an der Seitenwand noch ein Behelfsklappbett und eine Regalwand, in die ein kleiner Sekretär eingebaut ist. Das ist alles.
“Dasselbe Bild”, bestätige ich. “Sehr schlicht und praktisch, fast wie eine Schiffskabine.”
“Kein unpassender Vergleich”, meint Petri. “Ervi hat auch den Innenausbau von Schiffen wie der Finnhansa ausgeführt, Ende der sechziger Jahre das größte Fährschiff auf der Ostsee, und Details davon hat er in Gebäuden übernommen. Aber was ihr nicht wissen könnt: das hier ist die Präsidentensuite. Und nicht bloß dem Namen nach. Hier in dieser Kammer hat mehrmals unser damaliger Präsident Urho Kekkonen gewohnt.”
“Das waren noch Zeiten”, sage ich und versuche mir vergeblich vorzustellen, zu welchen diplomatischen Verwicklungen es garantiert führte, wenn die Finnen einen unserer Bundesaußenminister bei einem Staatsbesuch in dieser Kammer unterbringen wollten.
Der Professore aus Venezia sprach übrigens in seinem kaum verständlichen Englisch nicht über Venedig, und der türkische Professor aus Istanbul nicht über Istanbul, sondern über Sydney, aber die Vorträge waren trotzdem ganz interessant.
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