Nachdem Karl der Große und die Franken in einem immer wieder aufflackernden dreißigjährigen Krieg von 772 bis 804 die in nicht zentralisierten Stämmen lebenden Sachsen endlich blutig unterworfen hatten - darüber berichtet in seiner Sachsengeschichte der selbst den sächsischen Herzogsnamen tragende Mönch Widukind aus dem Kloster Corvey kaum etwas, Karls Biograph Eginhard immerhin etwas mehr: Saxones, sicut omnes fere Germaniam incolerentes nationes, et natura feroces et cultui daemonum dediti (“die Sachsen, wie fast alle Germanien bewohnenden Völker, waren von wilder Natur und verehrten Dämonen...”) - versuchte er die Beherrschung des Landes mit Hilfe christlicher Missionierungszentren wie Paderborn und anderer neu gegründeter Bistümer zu organisieren, die er durch Heerstraßen miteinander verbinden ließ. Unter anderem ließ er die seit Jahrtausenden (!) benutzte Handelsroute zwischen Rhein und Elbe, den sogenannten Hellweg, deutlich ausbauen und mit befestigten Reichshöfen sichern. Beim Königsgut Huxori, wo der Hellweg die Weser überquerte, wollte Karl ein bedeutendes Kloster anlegen, das erste in Sachsen.
Als besonders vorbildlich galten damals die Mönche des Klosters Corbie an der Somme. Sein Abt war zudem ein Vetter Karls. Zwar trat zunächst der Tod des Kaisers am 28. Januar des Jahres 814 dazwischen, doch sein Sohn und Nachfolger mit dem merowingischen Namen Chlodwig (Ludwig der Fromme) beauftragte dann 815/816 Abt Adalhard von Corbie mit der Gründung eines neuen Corvey an der Weser.
Zu den Benediktinerbrüdern, die aus dem Mutterkloster nach Corvey entsandt wurden, gehörte ein Mönch namens Ansgar, der in Corvey zunächst die Leitung der Klosterschule und der bald bedeutenden Bibliothek übernahm. 827 zog Ansgar an der Spitze einer Gruppe von Mönchen nach Jütland, um dort im Herrschaftsbereich eines zum Vasallen von König Ludwig gewordenen Kleinkönigs der heidnischen Dänen zu missionieren. Von dort fuhr Ansgar weiter nach Schweden und durfte mit Zustimmung des Svearkönigs Björn 829 auf der kleinen Insel Birka im Mälarsee, wo sich ein wichtiger Handelsort der Wikinger befand, die erste christliche Kirche in Skandinavien errichten. Von Corvey und Ansgar, der später Erzbischof von Hamburg und Bremen wurde, nahm also die Missionierung des Nordens ihren Anfang.
Vor ein paar Tagen fand in diesem Schloß Corvey etwas Wunderbares, etwas Unerhörtes statt.
Die Nachfahren jener Wikinger, die durch Ansgar erstmals mit dem Christentum in Berührung gekommen waren, zelebrierten dort in einem vier Tage dauernden Lesefest den Auftakt zu Islands Rolle als Gastland der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt.
822 hatte man in Corvey mit dem Bau einer Kirche begonnen, 873 errichtete man das Westwerk, das als einziger Bestandteil der ursprünglichen karolingischen Kirche bis heute überdauert hat. Im Verbindungsbau zwischen den beiden Türmen war nach dem Vorbild des Aachener Karlsdoms im Obergeschoss ein repräsentativer, zweistöckiger Raum eingerichtet, der nach der Beschreibung Jerusalems in der Offenbarung des Johannes (21, 12-16) gebaut war: "Die heilige Stadt Jerusalem hat eine große und hohe Mauer, sie hat zwölf Tore ... und die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine... und die Stadt bildet ein Viereck, und ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich." (Einer der Mitbegründer des Klosters, Paschasius Radbertus, hat das Gelingen von Corvey denn auch als Verheißung der Wiederkehr des himmlischen Jerusalem besungen.) Von dem mit zwölf Torbögen geschmückten, quadratischen Raum aus hatte ein Herrscher, wie in Aachen, freien Blick in die Kirche und hinab zum Altar.
Der Raum und das Westwerk wurden im gleichen Jahr 874 gebaut, in dem Wikinger aus Skandinavien erstmals die Insel Island im Atlantik entdeckt haben sollen. Und dieser Tage saß nun also der selbst an einen Wikinger erinnernde Schauspieler Hans-Martin Stier in diesem frühmittelalterlichen Kirchenraum und las uns mit tiefer Stimme die isländische Saga vom heidnischen Freyspriester Hrafnkell vor, der um eines Eids willen, den er seinem Gott geschworen hat, tötet und zu Fall kommt, sich am Ende seine Machtstellung aber erfolgreich zurückerobert. Es ist eine vollendet gebaute Geschichte, kurz, geschliffen wie ein Edelstein, der von jedem Blickwinkel, aus dem man ihn betrachtet, eine andere Ausdeutung zuläßt.
Mit großzügiger finanzieller Unterstützung der von der Finanzkrise gebeutelten Isländer ist jetzt gerade zur Buchmesse eine komplett neue Übersetzung dieser Isländersagas erschienen.
Hrafnkell verehrte keinen Gott mehr als Frey, dem er seine wertvollsten Tiere zur Hälfte schenkte. Hrafnkell nahm das ganze Tal in Besitz und überließ anderen Männern Land, wollte aber, dass sie sich ihm unterordneten, und wurde ihr Gode. Daraufhin erhielt Hrafnkell den Beinamen Freysgoði.
Er war ungerecht und gewalttätig, aber sehr fähig.
Ein Tier bedeutete Hrafnkell mehr als alle anderen: Es war ein Falbe, den er Freyfaxi nannte. Dieses Pferd schenkte er seinem Freund Frey zur Hälfte. Seine Liebe zu dem Hengst war so groß, dass er einen Schwur leistete, jeden zu töten, der ihn gegen seinen Willen reiten sollte.
»Warum bist du auf dem einen Pferd geritten, das dir verboten war, wo es genug andere gab, die dir gestattet waren? Ich würde dir diese Verfehlung durchaus verzeihen, du hast sie schließlich auch ehrlich zugegeben, wenn ich nur das Gelübde nicht so ausdrücklich abgelegt hätte. Es geht nicht gut aus, wenn Eide missachtet
werden, das glaube ich fest.«
Damit sprang er vom Pferd und schlug zu. Einar war sofort tot.
Hrafnkell nahm an, auf keinen nennenswerten Widerstand zu stoßen, und wollte den kleinen Leuten beibringen, keine Prozesse gegen ihn zu führen...
(Die Saga vom Freysgoden Hrafnkell, übersetzt von Andreas Vollmer, in: Isländersagas, Bd. 4, 2011)
So wie in Corvey gelesen wurde; tagelang, Abende lang, und immer vor vollen Rängen mit mindestens 300 Zuhörern. Die Saga von den Leuten aus dem Laxárdal allein vier Stunden lang, die Saga von Brennu-Njáll mehr als fünf Stunden lang, begleitet von Musik des Isländers Ólafur Arnalds; aber lang wurde die Zeit uns Zuhörern nie. Dafür sorgten die glänzend vorbereiteten Schauspieler, die lasen, von Angela Winkler über Matthias Habich und Michael Altmann zu Corinna Harfouch (um nur einige wenige zu nennen), die Lichtregie, die Musik (u.a. auch gespielt von dem hervorragenden Jazzbassisten Arild Andersen), vor allem aber die packenden Texte selbst. Achthundert Jahre alt und noch immer lebendig wie am ersten Tag. Ich sag’s noch einmal: Lesen! (Aber bitte nur in den neuen Übersetzungen und nicht etwa in dem alten Thule-Schwulst der zwanziger und dreißiger Jahre.)
Hier zur Untermalung noch ein Konzert von Radio Schweden vom diesjährigen Jazzfestival in Ystad, mit Arild Andersen:
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