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Dienstag, 2. Dezember 2008
Notenbank besetzt
Ob das mit dem Ärmelaufkrempeln der Isländer klappt, bezweifelt Jean Stubenzweig in seinem Kommentar hier (vielen Dank dafür übrigens) und bekommt jetzt Zustimmung von einem der knorzigen Querdenker aus der isländischen Historikerzunft. Wie die neu gegründete isländischen Netzeitung Nei. meldet, erklärte Professor Gísli Gunnarsson von der Universität Islands kürzlich die angebliche Tüchtigkeit der Isländer zu einer bloßen Legende. In seiner unnachahmlich brummeligen Art (ich kenne ihn noch von früher) sagte er: “Jahrhundertelang haben sich die Isländer auf ihren Höfen von Januar bis April die Decke oder ein Fell über den Kopf gezogen und sind im Bett liegen geblieben. Glücklich, wer eine Tranfunzel und ein paar Bücher sein Eigen nannte oder selbst Verse schmieden konnte.”

Aber aus der Lethargie jener dunklen alten Zeiten sind die Leute dort oben nahe dem Polarkreis spätestens durch den Beinahezusammenbruch ihrer gesamten Volkswirtschaft aufgeschreckt worden. Auf den nach wie vor stattfindenden Protestversammlungen wird der Ton immer schärfer. Nach neuesten Umfragen wollen mehr als siebzig Prozent aller Isländer den Rücktritt der Regierung und sofortige Neuwahlen. Ein im Althing eingebrachtes Mißtrauensvotum hat die große Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten mit ihrer Mehrheit im Parlament letzte Woche dickfellig abgelehnt. Ministerpräsident Geir Hilmar Haarde will die tiefe Krise seiner Regierung offenbar nach dem Muster seines ihm an Statur noch überlegenen Vorbilds Helmut “Birne” Kohl “aussitzen”. Die Tüchtigkeit der Isländer wird sich daran messen lassen, ob sie es schaffen, die Regierung Haarde doch vorzeitig aus ihren Amtsräumen im ehemaligen Gefängnis am Lækjartorg zu jagen.
Letzte Woche ließen die Veranstalter der Kundgebungen vor dem Parlament eine junge Jurastudentin namens Katrín Oddsdóttir ans Mikrophon. Unter dem Jubel der Anwesenden donnerte sie aus den Lautsprechern: “Du verbietest uns nicht, zu wählen, Geir Hilmar! Wenn ihr uns daran hindern wollt, unserem Willen in der Wahlkabine Ausdruck zu verleihen, dann werden wir auf andere Weise abstimmen. Wir werden wählen, indem wir auswandern, indem wir die Gesetze brechen, die ihr im Widerspruch zur Verfassung erlassen habt, mit vielen Streiks, mit Demonstrationen und, wenn es denn nötig ist, indem wir euch aus den öffentlichen Gebäuden hinausprügeln, in denen ihr nichts mehr zu suchen habt!... Die Regierung muß zurücktreten... und dann muß gewählt werden. Friedliche Proteste eignen sich gut für friedliche Zeiten. Hier aber wurde ein Angriff auf die Grundrechte verübt, die unsere Verfassung schützt, und das ist gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an das Volk in diesem Land. Und deswegen sage ich: Die Regierung bekommt eine Woche Zeit, um Neuwahlen auszuschreiben und ihr Unvermögen zu bekennen, uns aus der Krise zu führen, in die sie uns gebracht hat. Wenn nicht, werden wir, das Volk, das Parlament besetzen, das Regierungsgebäude und die Ministerien, und wir werden die Verantwortlichen hinaus prügeln.”

Gestern hatten die Demonstranten wieder zu einer Versammlung gerufen. An einem normalen Werktag diesmal, an dem die Leute zur Arbeit müssen. Aber eben doch nicht an einem ganz normalen Arbeitstag. Am 1. Dezember 1918 nämlich haben die jungen Vorkämpfer für die Unabhängigkeit Islands der Regierung in Kopenhagen die Autonomie und Selbstverwaltung der Insel abgerungen und seine Anerkennung als eigener Teil der dänischen Krone in einer Personalunion mit dem dänischen Königshaus. Seitdem wird der 1. Dezember als eine Art halboffizieller Unabhängigkeitstag gefeiert. Gestern nun kamen weniger Menschen zur Kundgebung als am Wochenende davor, doch dafür setzte sich ein Teil der Menge spontan zur nahe gelegenen Notenbank in Bewegung, in der noch immer der inzwischen meistgehaßte Mann Islands residiert, der langjährige Regierungschef Davíð Oddson.

Offenbar wollte sie mit der von Katrín Oddsdóttir ausgerufenen Drohung Ernst machen, die Verantwortlichen nötigenfalls aus ihren Bunkern zu holen.
Die zum Objektschutz eingesetzte Polizeistaffel zog erstaunlicherweise ab, als gut 200 Demonstranten anmarschierten. Nach einer Viertelstunde nur konnte ein Teil der Menge tatsächlich ungehindert ins Foyer der Notenbank eindringen. (Ich versuche, mir Ähnliches vor der EZB in Frankfurt vorzustellen, aber irgendwie will es mir nicht gelingen.) In der Zwischenzeit hatte drinnen, hinter einer Trennscheibe, eine weitere Neuerung in Island Stellung bezogen: schwer gepanzerte Bürgerkriegspolizei. Als sie den Einsatz von Tränengas androhte, hoben die Leute die Hände und setzten sich auf den Boden. Anderthalb Stunden saßen sie in dieser Pattsituation und forderten mit Sprechchören den Abgang von Davíð Oddson, der sich derweil leiseweinend durch die Tiefgarage verdrückte. Am Ende wollte die Polizei räumen lassen. Doch die Demonstranten erklärten, wenn die Polizei zuerst abzöge, würden sie die Bank freiwillig verlassen. Tatsächlich rückte die Polizei bis auf drei Beobachter ab. Die Demonstranten gingen friedlich nach Hause. - Ein Beispiel, das Schule machen sollte, nicht wahr, Herr Bundesinnenminister?

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Was ist das: Lehnt sich ein Völkchen am Rande des großen europäischen Reichs auf? Ist es die Jugend, die es anders machen möchte als die Alten, die nicht mehr im Bett liegenbleiben will und Verse schmieden?

Aber mal so herum gefragt: Wie konnte es zu diesem Staatsbankrott kommen? Hat denn niemand gemerkt, was die «Nadelstrauchdiebe des frühen 21. Jahrhunderts» da anrichteten? Waren die Medien aus- oder gleichgeschaltet? Hat das Prinzip funktioniert, nach dem man ein Volk lediglich mit Gütern ruhigzustellen braucht, auf daß es die Klappe hält? Denn von diesem Wohlstand haben letztlich – wenn ich richtig informiert bin – alle profitiert. Etwa ein gutes Jahr ist es her, daß eine frühere Freundin – man hat sich aus den Augen und den Ohren verloren – mir mitgeteilt hat, wie gut es ihnen allen gehe, man ein neues Haus gebaut habe. Nun gut, man gehört(e?) ohnehin dem gehobenen Mittelstand von Reykjavik an. Aber ob die nicht alle auch ein klein wenig mitgezockt haben ...?

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Mitgezockt, weiß ich nicht; aber mit prosperiert schon. Ist doch schön, wenn man sich eine Wohnung kauft und deren Wiederverkaufswert verdoppelt sich in zwei oder drei Jahren, weil alle immer leichter an Kredite kommen und sich auch was "Eigenes" kaufen möchten. Es war in etwa das Gegenteil von dem, was hier in den letzten Jahren ablief: statt der Austrocknung der Binnennachfrage bekamen die Isländer immer mehr Spielgeld zum Konsumieren in die Hand. Und wollen die meisten wirklich wissen, woher die ganze Kohle auf einmal kommt, wenn die Party gerade so richtig abgeht?
Wer wissen wollte, konnte durchaus erfahren, daß nicht alles Gold war, was da so glänzte. Besonders dänische Zeitungen wurden seit Jahren nicht müde, zu warnen, daß das Ganze vor allem eine aus unsoliden bis dubiosen Quellen gespeiste Blase sei, die irgendwann platzen müßte. Aber deren Bedenken fegten die Isländer leicht mit dem Einwand beiseite, daraus sprächen bloß der gekränkte Stolz und die Mißgunst der ehemaligen Kolonialherren, denen nun von den ehemals Kolonisierten das Tafelsilber weggekauft würde.
Im übrigen darf man auch nicht übersehen, daß sich fast alle meinungsbildenden Medien auf der Insel seit der Privatisierungsraserei unter Davíð Oddson im Besitz der aufsteigenden Wirtschaftstycoone befanden. Erst kürzlich habe ich von einem englischen Journalisten gelesen, der ein Porträt über einen von denen in England veröffentlichen wollte, er sei im Vereinigten Königreich nie so unter Druck gesetzt worden wie in dem Fall von den Anwälten des Isländers. Da kann man sich vorstellen, daß die Presse in der viel kleineren isländischen Gesellschaft wohl sehr viel stärker, nun, sagen wir, bevormundet wurde, als man sich das in einem freien westlichen Land so vorgestellt hat. Investigativer Journalismus ist da sowieso unbekannt, und es wurden im Ton eher stolze Artikel über den ellbogenbewehrten Unternehmergeist der modernen Wikinger verbreitet.
Die ganz üblen Spekulationen haben die "Nadelstreifenstrauchdiebe" der isländischen Banken ja auch nicht im Inland, sondern mit dem Geld ausländischer Anleger in ihren britischen, holländischen und deutschen Tochterbanken getrieben, und verständlicherweise sind die Isländer jetzt zum Überkochen wütend, daß die Herren ihre Profite längst in Luxemburg, Liechtenstein oder auf den (ehemals dänischen) Jungferninseln in Sicherheit gebracht haben und jetzt schlicht irgendwo im Ausland untergetaucht sind, während das geprellte Volk auf Generationen deren Schulden abstottern soll.

Hier noch der Link zu einem ganz gut zusammenfassenden Artikel auf n-tv:
"Der Zorn der Isländer"

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So was ähnliches habe ich mir fast gedacht. Danke!

Der n-tv-Link funktioniert leider nicht.

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