Borgå, idyllische kleine Stadt an Fluß und Küste, die früher ein so wichtiger Ort für Finnland war. Im Mittelalter drangen hier die schwedischen “Kreuzfahrer” ins Land ein, die die heidnischen Finnen und Samen christianisieren, vor allem aber kolonisieren und brandschatzen wollten, und später gingen von hier alle erjagten Pelze aus dem Binnenland über die Ostsee nach Tallinn (damals Reval) und damit in das große Ostseehandelsnetz der Hanse ein.
Borgå wurde eine so bedeutende Handelsstadt, daß sie von dänischen Piraten überfallen und von russischen Marodeuren mehrfach niedergebrannt wurde.
Nachdem 1710 Wiborg verloren war, wurde Borgå Bischofssitz mit angeschlossenem Gymnasium und der ersten öffentlichen Bibliothek des Landes, und nach der Annexion Finnlands berief Zar Alexander I. 1809 einen Landtag der Stände nach Borgå ein und legte in der Domkirche aus dem 15. Jahrhundert seinen Eid auf die Wahrung der schwedischen Gesetze, Sprache, Konfession und Stände in einem autonomen Großfürstentum Finnland ab. – Es war das erste Mal im Leben des Zaren, daß ihm Bauern aufrecht gegenüberstanden und nicht mit dem Gesicht zu Boden vor ihm auf den Knien lagen. Und anders als seinen russischen Leibeigenen gestand der Zar seinen neuen finnischen Untertanen auch aus bäuerlichem Stand den aufrechten Gang zu.
Den Zaren mit Namen Alexander bewahrt die Stadt bis heute ein dankbares Angedenken.
Im Auftrag von Nikolaus I. entwarf Carl Ludwig Engel, der auch das Stadtzentrum von Helsinki schuf, den Plan zu einem gänzlich neuen, großzügigen Stadtteil Borgås, der Empirestadt.
Eines der stattlichsten Holzhäuser dort bezog der finnische Nationaldichter Johan Ludvig Runeberg, als er 1837 den Posten eines Lateinlehrers am Gymnasium übernahm. Nach einem frühen Schlaganfall mit Ende fünfzig lebte er noch vierzehn Jahre gelähmt in diesem Haus, das sein Sohn mit allem Inventar der Stadt als Museum stiftete. Zuerst hatte Runeberg serbische Volkslieder ins Schwedische übersetzt, bevor er sich 1848 daran machte, mit “Fähnrich Stahls Erzählungen” ein sehr volkstümliches finnisches Nationalepos aus 35 Balladen und Geschichten zu schreiben. Heute ist das nationale Pathos darin völlig ungenießbar.
“Warum durfte ich nicht fallen, als so mancher Held fiel
als die mutige finnische Armee ihre hohen Stunden hielt...”
Schwamm über Runebergs Dichtungen! Heute hat die finnische Literatur weitaus Besseres zu bieten und zwei Weltkriege später auch einen sehr viel nüchterneren Blick auf die Auswirkungen von Krieg auf die finnische Seele:
“Für Birgitta war Raunio mit Sicherheit ein typischer finnischer Mann mittleren Alters, von der Wirtschaftskrise gebeutelt und auf emotionaler Ebene nicht fähig, innere und äußere Konflikte auszuhalten [...] Raunio hatte sein Dasein durch die Arbeit und den sozialen Erfolg legitimiert. Die damit verbundenen Anforderungen hatten in ihm die Freude und das Spielerische getötet, weil das etwas für Kinder war. Er repräsentierte den Persönlichkeitstyp, der den finnischen Bürgerkrieg zum blutigsten in ganz Europa gemacht hatte. Wahrscheinlich würde Raunio noch vor seinem sechzigsten Geburtstag an einem Herzinfarkt sterben.”
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In unseren Breiten wird der Oktober oft sogar zutreffend Goldener Oktober genannt. Im Finnischen bedeutet lokakuu gar nicht immer zutreffend “Drecksmonat”. Schön herbstlich kann es im lokakuu durchaus noch sein, aber auch schon ganz schön kalt, und darum mußte dringend abgesegelt werden. Die meisten Boote holt man vor dem Frost aus dem Wasser.
“Finnland hat nicht mehr als drei attraktive Landschaften”, sagte dieser Tage der Schriftsteller Johan Bargum zu mir, “aber diese drei sind auch richtig schön: einige Teile der Seenlandschaft natürlich, Lappland und – am unbekanntesten und am schönsten – die Schären vor der Südküste.”
Johan und ich trafen uns im Bootshafen von Björkholmen auf der Insel Lauttasaari westlich von Helsinki, denn er ist noch immer begeisterter Segler und Mitglied im Nyländska Jaktklubben, NJK. Obwohl in Finnland, hält man im traditionsreichen Klub nach wie vor an Schwedisch als Vereinssprache fest, denn der NJK ist der älteste in Finnland zugelassene Segelverein. 1861, als die Oberklasse in Finnland noch durchweg Schwedisch sprach, bestätigte Zar Alexander II. seine Statuten. Ihr §2 lautet bis heute: “Die Sprache des Klubs ist Schwedisch.” Und wer Mitglied werden will, muß Schwedisch zumindest mündlich beherrschen. Dabei macht die schwedischsprachige Minderheit im Land heute noch knapp sechs Prozent der Bevölkerung aus. Ein bißchen elitär ist der Verein also durchaus, doch andererseits ist Schwedisch für jeden finnischen Schüler noch obligatorische Fremdsprache, das ganze Land offiziell (d.h. theoretisch) zweisprachig.
Der letzte Törn des Jahres ging von Björkholmen um Helsinki und die Festungsinsel Suomenlinna herum die Schärenküste entlang nach Osten bis Porvoo/Borgå, der nach Turku/Åbo zweitältesten Stadt des Landes. Letztes Jahr hat Bargum ein Buch über genau diese Segeltour geschrieben, Seglats i september:
“In Lee unter Bastuhamn refften wir das Großsegel und kreuzten hinaus nach Äggskärsfjärden, wo die See immer kabbelig und seltsam unberechenbar ist. Gleich hinter Äggskär riß das Großsegel mit einem Knall, vielleicht hatte ich die Reffbändsel zu straff gespannt. Es blieb nichts anderes übrig, als mit dem Motor gegen Wind und Wellen zu fahren, die immer höher und ungemütlicher wurden. Für die elf Seemeilen bis Kajholmen brauchten wir drei Stunden...”
Der Borgå-Fluß strömte dagegen bei der Ankunft ganz gemächlich ins Meer, wie sich das für sein Alter gehört. Auf der Anhöhe an seinem östlichen Ufer legten schon schwedische Wikinger eine Befestigung mit Wall und Graben an, die den Handelsweg entlang der Küste und den Fluß hinauf landeinwärts sicherte.
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Ach was, einer geht noch; und zwar der jüngste Streich finnischer Architekten. Das hier:
Nein, es ist keine überdimensionierte Hutschachtel, obwohl seine Außenhaut tatsächlich nur aus rötlich gebeiztem Fichtenspanholz besteht. Ebenso wenig dürfte diese selbst in Helsinki nicht ganz alltägliche Kopfbedeckung als Modell gedient haben.
Für das Designhauptstadt-Programm errichtete das Architektenbüro K2S (Kimmo Lintula, Niko Sirola, Mikko Summanen) ausgerechnet auf dem belebtesten Platz von ganz Helsinki (direkt über dem zentralen Busbahnhof) eine “Kapelle der Stille”: Kampin kappeli. Eingeweiht in diesem Sommer.
Nicht nur die völlig fensterlose Außenhaut ist aus Holz, auch die Innenauskleidung besteht aus exakt formgefrästen Schwarzerlenbohlen, die den gänzlich nackten ovalen Kirchenraum im Inneren sich mit schrägen Wänden nach oben öffnen lassen wie einen Kelch, der zu dem indirekt von oben einströmenden Licht strebt. Das waagerecht geschichtete und verleimte Holz schafft ein Gegengewicht zu diesem Emporstreben und verleiht dem nur 300m² großen, aber 11,5m hohen Raum zusammen mit den zurückweichenden Wänden eine enorme Weite.
Nichts trübt die Wirkung dieses Raums.
Die Ausstattung, Kirchenbänke und Altar, sind formal aufs Äußerste reduziert: kantige, glatte Kuben aus massiver Esche. Sonst nichts. Glatt gehobelt, darüber hinaus wirkt alles Holz im Raum geradezu unbehandelt, und genau darum geht es: keine Zutaten, kein Zierrat, keine Verfeinerung, gerade dadurch höchste Verfeinerung in der Wirkung. Das Material Holz so präsent, daß man es unentwegt anfassen, darüber streichen will, und doch so hell, vielfältig schattiert und zurücktretend, als wäre kaum eine Wand da, sondern nur etwas, das sich nach oben zum Licht öffnet. Mitten in der Stadt ein wunderbarer Raum der Sammlung, der Kontemplation, der Besinnung aufs Wesentliche und der Stille.
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Ein bißchen Anschauungsmaterial zu Design aus dem Finnland der 1950er Jahre möchte ich hier gern noch zur Ansicht stellen, wie die nebenstehende Lampe von Alvar Aalto, die in verschiedenen Ausführungen die Finnlandia-Halle innen und außen erleuchtet. Bestechend schön ist auch die von allem Überflüssigen befreite Serie von Wassergläsern: Kartio, die Kaj Franck 1958 für iitala entwarf. Eine Modeaufnahme aus etwa der gleichen Zeit.
Unter dem Eindruck all der ästhetisch gestalteten Dinge auch in der Alltagskultur beginnt man sich irgendwann zu fragen, was denn eigentlich nicht Design sei im blonden Finnland.
Dann wird es langsam Zeit, den inzwischen designfixierten Blick auch einmal wieder aufzugeben.
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Nicht wegen seines eigenwilligen, patriotisch-wuchtigen Jugendstils um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ist Helsinki in diesem Jahr zur “Welthauptstadt des Designs” gekürt worden, sondern wegen seiner modernen Architektur und seiner hervorragenden Designwerkstätten und -ateliers, die Finnland bei weitem nicht nur durch Aino und Alvar Aaltos artek auf der Weltkarte des Designs ganz groß gemacht haben.
Als ich als kleiner Hosenmatz an der Hand meiner Eltern sonntags durch die Stadt meiner Kindheit bummelte, blieben wir immer vor den Schaufenstern eines Finnischen Möbel- und Einrichtungshauses stehen. Das gab es lange, bevor IKEA seinen Siegeszug antrat.
Helsinkis Architekturmuseum fand ich nun zwar etwas dürftig, aber im Designmuseum der Stadt gibt es dafür tolle Sachen vor allem aus jenem ersten Goldenen Zeitalter finnischen Designs, den Fünfziger Jahren, wie zum Beispiel die klaren Formen der fast ätherisch-transparenten Porzellanschalen, die Aune Siimes für Arabia entwarf. Oder Besteck und Geschirr aus der Hand des “Vaters der finnischen Silberschmiedekunst”, Bertel Gardberg, das selbst im Museum of Modern Art in New York zu finden ist. Gardberg arbeitete aus Überzeugung mit den Händen und für Hände.
“Between the hands and the brain lie the human heart and a love of work. We need to be faithful to the character of a material”.
Besonders gefällt mir seine Kaffeehausserie mit Kannen aus massivem Silber mit Griffen aus Palisanderholz. Funktional: keine verbrannten Pfoten, schön anzusehen und zu fühlen.
Dieser hochstehenden Kunst ästhetischer Gestaltung begegnet man in Helsinki heute auf Schritt und Tritt.
“Design often also has a social or public dimension. For example public transport, municipal and private health care, political systems or schooling would not work without proper design. But design also reaches ordinary, everyday items – cleverly made menus, comfortable coffee cups, traffic signs that are visible from far away on a dark winter’s night... This perspective – the diverse and global role of design – is the one we want to emphasize.”
Das schreibt die Koordinatorin des World Design Capital-Programms, Milla Visuri, in ihrem Geleitwort zum Führer durch die vielen Designläden der Stadt, in denen sich zahlreiche wunderschön gestaltete Dinge finden lassen.
Der Inbegriff vollendeten finnischen Designs ist für mich aber - und wie könnte es anders sein - nach wie vor der Saunahocker von Antti Nurmesniemi von 1952, ebenfalls im MOMA vertreten.
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Zurück in Helsinki. Die Außentemperatur ist in der Zwischenzeit auch hier spürbar gefallen, aber das tut der Stimmung kaum Abbruch. Ich hocke mit zwei graubärtigen Finnen im Café des Schwedischen Theaters zusammen. Wir unterhalten uns über die Veränderungen in der Stadt und über den Charakter der verschiedenen Viertel.
Ansatzlos sagt der Eine, nennen wir ihn Eero, nach einem kurzen, besinnlichen Schweigen: “Oben auf dem Felsen in Kallio, da habe ich damals meine Unschuld verloren.”
Und der Andere, Torsti, fragt augenblicklich zurück: “Und, hat’s weh getan?”
Nach einem langen Blick in die tiefschwarze Kaffeetasse fährt er dann fort: “Nachdem ich meine und einiges mehr verloren hatte, bin ich nach Kopenhagen abgehauen. In einer Bibliothek ging ich an den Regalen entlang, um etwas zu lesen zu finden. Ein Buch stand verkehrt herum, nicht mit dem Rücken nach vorn im Regal. Ich zog es heraus und schlug es auf. Der erste Satz, den ich las, lautete: »Besser gut gehängt, als schlecht verheiratet«. Ich hatte meinen Mann gefunden: Kierkegaard.”
Auch um den Preis von Eeros Unschuld ist das ehemalige Arbeiter- und Bohèmeviertel Kallio noch nicht so weit gentrifiziert, daß die Gebäude unten dort stünden. Nein, das sind reiche Bürgerhäuser aus dem südlichen Stadtteil Kaivopuisto oder Brunnsparken, den reiche Russen aus Moskau und Petersburg im 19. Jahrhundert für ihre Sommerfrische errichteten, wenn sie nicht ins Ausland gingen.
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