Wenn sich in München in den letzten fünf Jahren etwas buchstäblich quer gestellt hat, dann ist es die neue Sündagoge am Jakobsplatz. Ein imponierender, ja, monumentaler, aber auch in sich widersprüchlicher Bau. Oben luftig wie das Zelt Jakobs, der Sockel unten wuchtig wie die Klagemauer in Jerusalem, auf die die groben, hellen Steinblöcke ohne jede Fensteröffnung deutlich anspielen. Der helle Quader mitten auf dem Platz ist ein monumentaler Blickfang, doch hat er zugleich auch etwas schroff Abweisendes an sich, von dem sich nicht entscheiden läßt, ob es die Normalsterblichen draußen ausschließt oder die drinnen befindlichen Erwählten einmauert.
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Aber egal, was du trägst, der Blick des Münchners und der Münchnerin wandert von ihrem Wirtshausstuhl grundsätzlich erst einmal wie ein Scanner von unten, den Schuhen, bis ganz nach oben und zurück, und dabei wird sofort überschlägig geschätzt, was die Klamotten in etwa gekostet haben, die du am Leib trägst. Das Ergebnis kannst du unmittelbar an den Mundwinkeln ablesen.
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Nachdem Karl der Große und die Franken in einem immer wieder aufflackernden dreißigjährigen Krieg von 772 bis 804 die in nicht zentralisierten Stämmen lebenden Sachsen endlich blutig unterworfen hatten - darüber berichtet in seiner Sachsengeschichte der selbst den sächsischen Herzogsnamen tragende Mönch Widukind aus dem Kloster Corvey kaum etwas, Karls Biograph Eginhard immerhin etwas mehr: Saxones, sicut omnes fere Germaniam incolerentes nationes, et natura feroces et cultui daemonum dediti (“die Sachsen, wie fast alle Germanien bewohnenden Völker, waren von wilder Natur und verehrten Dämonen...”) - versuchte er die Beherrschung des Landes mit Hilfe christlicher Missionierungszentren wie Paderborn und anderer neu gegründeter Bistümer zu organisieren, die er durch Heerstraßen miteinander verbinden ließ. Unter anderem ließ er die seit Jahrtausenden (!) benutzte Handelsroute zwischen Rhein und Elbe, den sogenannten Hellweg, deutlich ausbauen und mit befestigten Reichshöfen sichern. Beim Königsgut Huxori, wo der Hellweg die Weser überquerte, wollte Karl ein bedeutendes Kloster anlegen, das erste in Sachsen.
Als besonders vorbildlich galten damals die Mönche des Klosters Corbie an der Somme. Sein Abt war zudem ein Vetter Karls. Zwar trat zunächst der Tod des Kaisers am 28. Januar des Jahres 814 dazwischen, doch sein Sohn und Nachfolger mit dem merowingischen Namen Chlodwig (Ludwig der Fromme) beauftragte dann 815/816 Abt Adalhard von Corbie mit der Gründung eines neuen Corvey an der Weser.
Zu den Benediktinerbrüdern, die aus dem Mutterkloster nach Corvey entsandt wurden, gehörte ein Mönch namens Ansgar, der in Corvey zunächst die Leitung der Klosterschule und der bald bedeutenden Bibliothek übernahm. 827 zog Ansgar an der Spitze einer Gruppe von Mönchen nach Jütland, um dort im Herrschaftsbereich eines zum Vasallen von König Ludwig gewordenen Kleinkönigs der heidnischen Dänen zu missionieren. Von dort fuhr Ansgar weiter nach Schweden und durfte mit Zustimmung des Svearkönigs Björn 829 auf der kleinen Insel Birka im Mälarsee, wo sich ein wichtiger Handelsort der Wikinger befand, die erste christliche Kirche in Skandinavien errichten. Von Corvey und Ansgar, der später Erzbischof von Hamburg und Bremen wurde, nahm also die Missionierung des Nordens ihren Anfang.
Vor ein paar Tagen fand in diesem Schloß Corvey etwas Wunderbares, etwas Unerhörtes statt.
Die Nachfahren jener Wikinger, die durch Ansgar erstmals mit dem Christentum in Berührung gekommen waren, zelebrierten dort in einem vier Tage dauernden Lesefest den Auftakt zu Islands Rolle als Gastland der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt.
822 hatte man in Corvey mit dem Bau einer Kirche begonnen, 873 errichtete man das Westwerk, das als einziger Bestandteil der ursprünglichen karolingischen Kirche bis heute überdauert hat. Im Verbindungsbau zwischen den beiden Türmen war nach dem Vorbild des Aachener Karlsdoms im Obergeschoss ein repräsentativer, zweistöckiger Raum eingerichtet, der nach der Beschreibung Jerusalems in der Offenbarung des Johannes (21, 12-16) gebaut war: "Die heilige Stadt Jerusalem hat eine große und hohe Mauer, sie hat zwölf Tore ... und die Mauer der Stadt hat zwölf Grundsteine... und die Stadt bildet ein Viereck, und ihre Länge, Breite und Höhe sind gleich." (Einer der Mitbegründer des Klosters, Paschasius Radbertus, hat das Gelingen von Corvey denn auch als Verheißung der Wiederkehr des himmlischen Jerusalem besungen.) Von dem mit zwölf Torbögen geschmückten, quadratischen Raum aus hatte ein Herrscher, wie in Aachen, freien Blick in die Kirche und hinab zum Altar.
Der Raum und das Westwerk wurden im gleichen Jahr 874 gebaut, in dem Wikinger aus Skandinavien erstmals die Insel Island im Atlantik entdeckt haben sollen. Und dieser Tage saß nun also der selbst an einen Wikinger erinnernde Schauspieler Hans-Martin Stier in diesem frühmittelalterlichen Kirchenraum und las uns mit tiefer Stimme die isländische Saga vom heidnischen Freyspriester Hrafnkell vor, der um eines Eids willen, den er seinem Gott geschworen hat, tötet und zu Fall kommt, sich am Ende seine Machtstellung aber erfolgreich zurückerobert. Es ist eine vollendet gebaute Geschichte, kurz, geschliffen wie ein Edelstein, der von jedem Blickwinkel, aus dem man ihn betrachtet, eine andere Ausdeutung zuläßt.
Mit großzügiger finanzieller Unterstützung der von der Finanzkrise gebeutelten Isländer ist jetzt gerade zur Buchmesse eine komplett neue Übersetzung dieser Isländersagas erschienen.
Hrafnkell verehrte keinen Gott mehr als Frey, dem er seine wertvollsten Tiere zur Hälfte schenkte. Hrafnkell nahm das ganze Tal in Besitz und überließ anderen Männern Land, wollte aber, dass sie sich ihm unterordneten, und wurde ihr Gode. Daraufhin erhielt Hrafnkell den Beinamen Freysgoði.
Er war ungerecht und gewalttätig, aber sehr fähig.
Ein Tier bedeutete Hrafnkell mehr als alle anderen: Es war ein Falbe, den er Freyfaxi nannte. Dieses Pferd schenkte er seinem Freund Frey zur Hälfte. Seine Liebe zu dem Hengst war so groß, dass er einen Schwur leistete, jeden zu töten, der ihn gegen seinen Willen reiten sollte.
»Warum bist du auf dem einen Pferd geritten, das dir verboten war, wo es genug andere gab, die dir gestattet waren? Ich würde dir diese Verfehlung durchaus verzeihen, du hast sie schließlich auch ehrlich zugegeben, wenn ich nur das Gelübde nicht so ausdrücklich abgelegt hätte. Es geht nicht gut aus, wenn Eide missachtet
werden, das glaube ich fest.«
Damit sprang er vom Pferd und schlug zu. Einar war sofort tot.
Hrafnkell nahm an, auf keinen nennenswerten Widerstand zu stoßen, und wollte den kleinen Leuten beibringen, keine Prozesse gegen ihn zu führen...
(Die Saga vom Freysgoden Hrafnkell, übersetzt von Andreas Vollmer, in: Isländersagas, Bd. 4, 2011)
So wie in Corvey gelesen wurde; tagelang, Abende lang, und immer vor vollen Rängen mit mindestens 300 Zuhörern. Die Saga von den Leuten aus dem Laxárdal allein vier Stunden lang, die Saga von Brennu-Njáll mehr als fünf Stunden lang, begleitet von Musik des Isländers Ólafur Arnalds; aber lang wurde die Zeit uns Zuhörern nie. Dafür sorgten die glänzend vorbereiteten Schauspieler, die lasen, von Angela Winkler über Matthias Habich und Michael Altmann zu Corinna Harfouch (um nur einige wenige zu nennen), die Lichtregie, die Musik (u.a. auch gespielt von dem hervorragenden Jazzbassisten Arild Andersen), vor allem aber die packenden Texte selbst. Achthundert Jahre alt und noch immer lebendig wie am ersten Tag. Ich sag’s noch einmal: Lesen! (Aber bitte nur in den neuen Übersetzungen und nicht etwa in dem alten Thule-Schwulst der zwanziger und dreißiger Jahre.)
Hier zur Untermalung noch ein Konzert von Radio Schweden vom diesjährigen Jazzfestival in Ystad, mit Arild Andersen:
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Die Ähnlichkeit der Westwerke in Bursfelde und Corvey ist unverkennbar, nur daß das kleinere, im Geist der Hirsauer Reform erbaute Hauskloster der Northeimer nicht so hoch in den Himmel ragt wie das zwei Jahrhunderte ältere, von Vettern Karls des Großen gegründete erste Kloster in Sachsen, sondern bescheidener zwischen den hohen alten Bäumen am Weserufer steht.
Ein Wolf streift sogar seit zwei, drei Jahren wieder durch die Wälder rechts und links der Weser. (Den Fluß zu durchschwimmen, ist für ihn kein Problem.) Zugewandert wohl aus dem Rudel in Sachsen oder aus Polen. Bei Bursfelde wurde er gesichtet, bei Hemeln riß er ein Schaf, im Solling, im Bram- und im Reinhardswald wird er sich schon das eine oder andere Reh geholt haben. Mal sehen, wie lange die Jäger ihn leben lassen. Aber vielleicht folgt ihm auch bald eine Wölfin, und sie gründen nach 150 Jahren erstmals wieder ein Rudel in den wunderschönen alten Wäldern des Weserberglands, aus denen die Brüder Grimm ihre Märchen schöpften: Rotkäppchen und der Wolf.
Tief im Reinhardswald steht, umgeben von einem ausgedehnten Wildpark mit steinalten Eichen und Buchen, die Sababurg, das Schloß, in dem Dornröschen sich mit der Spindel in den Finger stach und in einen hundertjährigen Schlaf fiel. Als ich vor Jahren einmal einen Besucher aus Island dorthin führte, lief er wie traumverloren dort herum. “Es ist ganz anders, als ich mir als Kind in Island die Burg von Þyrnirós vorstellen konnte, aber es ist unglaublich, jetzt wirklich an dem Ort zu stehen, von dem die wichtigsten Märchen meiner Kindheit ausgingen. Ich bin mitten im Herzen Deutschlands angekommen.”
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Nachdem ich nun durch den Nordosten Deutschlands gefahren bin, kann ich sagen, es gibt fernab vom Meer wohl kaum eine schönere deutsche Landschaft als die des Weserberglands.
Es ist ebenfalls eine Abwanderungsregion, wirkt aber nicht desolat. Im Gegenteil, der ruhig dahinfließende Fluß in seinem Tal mit vielen Obstwiesen, auf denen die Bäume gerade voll reifer Äpfel hängen, und mit seinen schön gewölbten Hängen, deren dichte Wälder gerade den ersten Anflug von Herbstrost im üppiggrünen Laub zeigen, all das tritt zum Bild einer friedvoll vollendeten Naturlandschaft zusammen, in der zu viel Besiedlung nur stören würde. Es reicht vollkommen, wenn man um eine Flußschleife biegt, eine alte romanische Abtei mit ihrer Domäne inmitten der Wiesen am Fluß liegen zu sehen, wie die von Bursfelde; gegründet vor bald 1000 Jahren vom damals noch mächtigen Northeimer Grafen und bemannt mit Mönchen aus dem flußab gelegenen Kloster Corvey, das noch viel älter ist.
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Johannstorf
Prütz
Stralsund
Ein Klima, das Radikalismus ermöglicht. Das höhnische Wort von den “blühenden Landschaften”, für das sein Versprecher mittlerweile im Rollstuhl büßt, mag man angesichts solcher Aussichten nicht einmal mehr sarkastisch zitieren. Wir werden uns in den kommenden Jahren zunehmend an den Anblick aufgegebener, verlassener und verfallender, in Zerbröckeln und Zusammenbruch übergehender Häuser in einigen Gegenden Deutschlands gewöhnen müssen. Darüber berichtete unlängst auch die Märkische Oderzeitung (via geschuetteltundgeruehrt). Dafür sorgen schon allein die demografische Entwicklung und unser Wirtschaftssystem mit seiner Diktatur des Arbeitsmarkts.
Wie schrieb Böll im Irischen Tagebuch: “Moos ist die Pflanze der Resignation.”
Da bin ich persönlich nur froh, daß ich schon seit langem mit einem Sinn für die melancholische Schönheit solchen “Rückbaus” und daher auch mit einer gewissen Freude beobachten kann, wie sich die Natur allmählich überbautes, versiegeltes, denaturiertes Gelände zurückholt.
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Noch einmal zum Film Das weiße Band, der z.T. auf diesem Hof gedreht wurde. Regisseur Michael Haneke, seit Jahrzehnten auf der Suche nach den Wurzeln gesellschaftlicher Unterdrückung und Repression, ist diesmal in einem norddeutschen Dorf am Vorabend des Ersten Weltkriegs fündig geworden, schreibt das Wiener Stadtmagazin Falter zu einem Interview mit ihm.
“Womit ich nicht gerechnet habe, war, dass dieser Gutshof so schwer zu finden sein würde. Ein Ensemble, wo das Haupthaus und die Wirtschaftsgebäude noch intakt sind, aber nicht restauriert – davon gab’s ein einziges. Und das war in einem Zustand, das kann man sich gar nicht vorstellen!”
“Überall, wo es Unterdrückung, Demütigung, Unglück und Leid gibt, ist der Boden bereitet für jede Art von Ideologie. Es geht um ein gesellschaftliches Klima, das den Radikalismus ermöglicht.”
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