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Sonntag, 26. Juli 2009
Mickes biluthyrning
Gleich beim Hafen war uns eine höchstens saunagroße, in typisch schwedischem Ochsenblutrot gestrichene Holzhütte aufgefallen, weil sie unter dem überdimensionierten Firmenschild auf ihrem Dach fast hintenüber kippte:
MICKEs BILUTHYRNING

Mit “hürnen” etwa hat das nix zu tun, allenfalls mit Signalhörnern, die gemeinhin Hupe genannt werden, denn es handelte sich um einen sehr kleinen, sehr privaten Autoverleih gebrauchter Autos.
“Geniale Geschäftsidee”, sagte die Frau vom Balkan an meiner Seite, und wir mußten uns sogleich erkundigen. Die Preise waren in der Tat höchst wettbewerbsfähig, wie man so sagt, doch hegte ich stille Zweifel, ob die dafür zu mietenden Karossen es auch waren. Die aufschlußreichen Hinweise standen nämlich nur auf Schwedisch auf kleinen, an die Hüttenwand getackerten Zetteln. Zum Beispiel, daß man die Insel mit den Autos besser nicht verlassen solle, “weil wir euch sonst im Fall einer Panne nicht zurückholen können”. Oder “Vertraut nicht der Tankanzeige! Sie könnte ungenau sein. Für den Fall, daß ihr ohne Sprit liegenbleibt, berechnen wir fürs Ausrücken und Betanken 300 Kronen extra.”
Nun ja, wir bekamen einen mindestens 15 Jahre alten Passat, der mehr als offizielle 587.000 km auf dem nicht vorhandenen Buckel hatte, und rollten aus dem Hafengelände. Rollten, denn mehr als ein Rollen kam beim “Beschleunigen” zunächst kaum zustande. Als würde man das Gaspedal in einen lockeren Hefeteig treten. (Die Hupe ging übrigens auch nicht.)
Die Herzogin sah mich kurz aus den Augenwinkeln an und meinte dann souverän: “Gotland ist ‘ne kleine Insel. Da wären wir viel zu schnell am anderen Ende, wenn du rasen könntest wie sonst. - Du brauchst auch nicht so mit dem Oberkörper zu wippen, als wolltest du ihm damit Anschwung geben. Davon wird er auch nicht schneller.”
Wo sie recht hat, hat sie recht. Einer Dekra-Umfrage zufolge, die ich neulich gelesen hatte, hält sowieso nur noch 1 von vier Befragten Männer für die besseren Autofahrer. Frage mich, warum sie mich trotzdem so häufig ans Steuer läßt. Besonders, wenn wir‘s eilig haben. Mit dem Nasenbär hier hatten wir‘s definitiv nicht eilig. Immerhin rollten wir unter meinem besinnlichen Nachsinnen schon durch die Vororte der 21745-Einwohner-Metropole Visby... und heraus auf eine schöne, von Weiden und Waldstücken gesäumte Chaussee. Der Nasenbär erreichte schon bald die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h. Im Rückspiegel tauchte ein kleiner, hellblauer Punkt auf. Er kam näher - nein, wir standen nicht -, war heranundvorbei. Ich sah vor allem eine große Heckscheibe, die solchen Projektilen einmal den Spitznamen Schneewittchensarg eingetragen hatte. Sehr viel später, nachdem ich auf den schönen, freien Landstraßen Gotlands lange von ihm geträumt und mich gefragt hatte, warum "Mickes biluthyrning" eigentlich keine Volvos, Typ P 1800 ES, verlieh, sah ich ihn auf dem Parkplatz eines Rasthauses noch einmal wieder

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Freitag, 24. Juli 2009
Vom Überwinden mittelalterlicher Mauern
Gotland, ehemals reichste Kalksteinplatte in der Ostsee. Erste große Blütezeit: die frühe Völkerwanderungszeit, gerade als auf dem Kontinent die antike Welt im Hunnensturm und der von ihm angeschobenen Invasion germanischer Völker unterging. Wieso blüht ausgerechnet da diese Insel am äußersten Rand der bekannten Welt auf? Nachgehen!
Die zweite große Epoche Gotlands reichte vom 11. Jahrhundert bis in die Zeit der Hanse, der die Inselhauptstadt Visby selbst beitrat. 1361 überfiel König Valdemar Atterdag von Dänemark das reiche Gotland, schlachtete nacheinander drei Bauernheere und plünderte Visby, das sich nie wieder erholte. Es fiel hinter seiner dreieinhalb Kilometer langen und elf Meter hohen Stadtmauer in eine Art Dornröschenschlaf, in dem die mittelalterliche Altstadt bis heute mit über zweihundert Stein- und Holzhäusern aus der Hansezeit unversehrt erhalten blieb. Ein einzigartiges Stadtensemble, das zum Weltkulturerbe gehört.


Vor einer Mauer und einem verschlossenen Tor stehen auch wir bei der Ankunft. Mitten in der historischen Altstadt gelegen, funktioniert unser B&B trotzdem vollautomatisch; oder auch nicht. Das Tor zum Hof ist elektronisch mit einem Zahlencode gesichert, und der, den wir bei der Buchung erhalten haben, funktioniert nicht. Eine Rezeption mit einem lebenden Menschen gibt es nicht mehr. Unter der Telefonnummer, die ich mir sicherheitshalber notiert habe, antwortet ein Automat. Freundliche Passanten, die unsere ratlosen Gesichter bemerken und helfen wollen, tickern irgendwelche Lottozahlen in die Türschloßtastatur. Nej, auch Tante Kajsa-Stinas Geburtsdatum ist gemeinerweise nicht das gesuchte Sesam-öffne-dich.
Nach einer ergebnislosen Viertelstunde fällt mir ein, daß der Schlüssel zu unserer Hütte “in einem Kasten hinter der Mauer gleich links vom Eingang” liegen soll. Das könnte nicht etwa schlicht der Briefkasten sein? ... Ein großherzoglich schmaler Unterarm wird trotz der inzwischen einsetzenden Abendkühle entblößt und die dazugehörige Hand mit einer Miene in den Briefschlitz eingeführt, als wäre er einer dieser steinernen Münder in Italien, in die man zur Wahrheitsprobe seine Schwurhand legen mußte. Ich halte die Klappe offen - man kann ja nie wissen, aus welchen Gründen sie vielleicht zubeißen will -, und die sensiblen Fingerspitzen der Herzogin ertasten am Grund des Briefkastens etwas... Wolliges. Eine tote Maus? Der Unterarm steckt ziemlich fest, und kann gar nicht so schnell herausgezogen werden. Iiieh! Beim zweiten Versuch klappert etwas leise metallisch. Beherzt greift die herzogliche Hand zu (tote Mäuse quietschen nicht) und fördert ein kleines Schaf aus Wolle zutage, an dem zwei Schlüssel hängen. Einer paßt aufs Tor, der zweite schließt uns das schnuckelige Gartenhäuschen auf, in dem wir unsere erste Nacht auf Gotland verbringen werden.

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Mittwoch, 22. Juli 2009
Man wird ja noch mal träumen dürfen

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Dienstag, 21. Juli 2009
Schwarzer Spiegel

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Samstag, 18. Juli 2009
Kurs Gotland

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Samstag, 18. Juli 2009

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Donnerstag, 16. Juli 2009
Söder
”Es gibt kaum eine andere Stadt mit einer so tiefreichenden und lebendigen Schilderung von Plätzen und Milieus, Nahaufnahmen von Ansichten und Alltagsleben, Mentalitäten und Denkweisen, Gepflogenheiten und Ungezogenheiten vergangener Zeiten wie Bellmans Stockholm.” (Göran Hassler)
Ein, zwei Generationen nach dem katastrophalen Zusammenbruch der schwedischen Großmacht im Nordischen Krieg war auch die zuvor so prachtvoll aufgebaute Hauptstadt samt ihren Bewohnern auf den Hund gekommen. Der Professor für Medizin Cederskjöld schrieb in einem Bericht, “die Luft ist mit ungesunden Dünsten sumpfiger Wasserläufe, riesiger Misthaufen und abfallverseuchter Rinnsteine geschwängert. Das Wasser ist verschmutzt und zur Essensbereitung unbrauchbar. Man wäscht unmittelbar neben den Latrinen.” Infektionen, Epidemien waren an der Tagesordnung, von zehn Neugeborenen starben sechs im ersten Lebensjahr. Die überlebenden imprägnierte man früh mit Alkohol. Für die rund 70.000 Einwohner damals gab es mehr als 700 Branntweinkneipen in der Stadt. Ein polnischer Geistlicher, der Stockholm besuchte, hielt entsetzt fest: “Selbst Kinder lassen selten einen Tag verstreichen, ohne sich einen Schluck zu genehmigen.” Armut zwang zur Prostitution in einem heute kaum mehr vorstellbaren Ausmaß. Auf der südlich der Altstadt gelegenen Insel Södermalm entstanden die ersten Arbeiterslums. Unternehmer errichteten dort in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr als dreißig Seidenwebereien und Spinnereien, in denen schon Fünfjährige beschäftigt wurden. In diesen Barackenslums lebte auch Bellman einige Jahre mit seiner Familie in einem kleinen Steinhaus, das heute sein Museum beherbergt. Movitz

Epistel No. 23 oder ein Soliloquium, da Fredman vor der Kneipe Kriechherein gegenüber dem Bankhaus im Rinnstein lag, in einer Sommernacht des Jahres 1768 (übersetzt von H.C. Artmann)

Ach, liebe Mutter! sag, wer dich sandte
auf meines Vaters Stroh?
Wo mir zuerst mein Lebensfunke entbrannte
Unter dem Plumeau.
Wegen dir trage
Ich Müh und Plage,
Müde wankt mein Schritt.
Du lagst auf dem Rücken,
Heiß vor Entzücken,
Da ich in dich glitt.
Also ward hingerafft
Deine Jungfernschaft.

Pfui all deinen Jungfernschwüren,
Alles Weibertrug!
Pfui jener Stunde
Im Liebesbunde,
Der du dich erfreut!
Pfui deinen Brüsten,
Die du in Lüsten
Schwellend ihm gebeut!
Oder wars an der Wand,
Wo mein Bild entstand?

Hier liege ich im Rinnstein und betrachte
Meine alten Schuh.
Recht zum Entsetzen
Hose in Fetzen,
Hemd schwarz wie Ruß,
Ohne Perücke,
Mit einer Krücke
Für den lahmen Fuß.
Mir läuft die Kleiderlaus,
ist es nicht ein Graus?...

Ich bin ein Heide, Herz, Mund und Kräfte
Preisen nur den Wein.
Arm und versoffen,
Gurgel stets offen,
Das ist meine Welt.
Selbst vor dem Tode:
Zechen was es hält.
Noch in der letzten Stund
Bleibt mein Glas am Mund.


“Söder” hat inzwischen den vielerorts üblichen Weg beschritten: vom Arbeiterstadtteil mit billigen Mietskasernen, in denen auch mittellose Künstler bezahlbaren Wohnraum fanden, über die Bildung von Künstlerzirkeln zur Entstehung eines Milieus, das dann von den Parasiten der Künstler “entdeckt” und zur “Szene” ausgebaut wurde, was den Stadtteil attraktiv machte mit den ebenfalls üblichen Folgen von steigender Nachfrage, zunehmend aufwendiger Renovierung, Bau von neuen Luxusappartments, Ansiedlung gehobener Restaurants, von “in”-Cafés und coolen Lounges, kleinen, schicken Boutiquen, teuren Galerien und Ateliers und aus all dem resultierender allgemeiner Verteuerung von Wohnraum und Lebenshaltungskosten, kurz, Söder ist seit Jahren “in”, wer von dort kommt, trägt den Sticker dezent bohèmeverruchten Stockholmer Stadtadels am Jackenaufschlag.
Natürlich pflegt man an den Rändern einen gewissen Multikulturalismus, der jedoch vor allem das Ziel hat, die kulinarische Palette um exotische Spezialitätenrestaurants zu bereichern und aus der alten Markthalle einen Delikatessentempel zu machen. Aber in Wahrheit ist es wahrscheinlich ganz toll, in Söder zu leben, wenn man nicht so von einer zunehmend misometropolitanen Abwehrhaltung mit anschließendem Fluchtreflex geschädigt ist wie ich.

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