Die zum Wochenende angekündigte Rückkehr des Winters mit Regen und Temperatursturz blieb erstaunlicherweise aus, über dem Frühdunst blaute es zusehends, und eine blanke, wenn auch noch etwas blasse Frühlingssonne stieg am Himmel auf. Wir beschlossen, daß es ein Tag wie geschaffen für einen Sonntagsausflug nach Amsterdam sei und machten uns auf den Weg. Zu früh für viele andere Ausflügler, die Autobahn Richtung Norden sowie der Ring um Amsterdam waren noch einigermaßen frei. Amsterdamer Freunde hatten uns einen Tip gegeben, und ohne Probleme fanden wir die neue, riesige Tiefgarage auf dem Oosterdokseiland gleich unter der neuen Openbaren Biblioteek nahe dem Hauptbahnhof, die den aberwitzigen Parkkosten in Amsterdam einen Kampfpreis entgegensetzt: Wer länger als fünf Stunden parkt, bezahlt für den Tag nicht mehr als 10 Euro. Außerdem ist sie mit mehr als 1300 Plätzen riesig, aufgeräumt, und die einzelnen Einstellplätze sind im Gegensatz zu vielen anderen holländischen Parkhäusern nicht nur für Smarts bemessen. Eine echte Empfehlung, sofern man sich traut, sein Auto unter dem Meeresspiegel abzustellen.
Oben an der Oberfläche blendete grell die Sonne und reflektierte zusätzlich noch von den zahllosen Fensterscheiben der Neubaufassaden, zwischen denen wie so oft in Amsterdam ein ziemlich kühler Wind über die offenen Wasserflächen heranstrich. Wir schlenderten los, die ersten Hausbootbesitzer frühstückten auf ihren schwimmenden Terrassen, ein paar junge Männer kamen aus einem der Treppengiebelhäuser, verabschiedeten sich von Freunden, die barfuß und im Bademantel auf dem Treppenabsatz standen, und stiegen in ein Auto mit französischen Nummernschildern. Das Ganze hätte einen für Amsterdam ungewöhnlich ruhigen und friedlichen Eindruck machen können, wenn nicht in dem Moment vor und hinter uns zugleich Polizeisirenen aufgeheult hätten. Ein Streifenwagen sperrte vor uns die schmale Fahrbahn, zwei andere schossen hinten in die enge Straße an der Gracht, hielten, ein Überfallkommando in schwarzen Uniformen sprang heraus und hielt den jungen Franzosen Pistolen an die Köpfe. Sie wurden gefesselt, in die Streifenwagen gesteckt und abtransportiert. Ein ruhiger, friedlicher Sonntagmorgen in Amsterdam.
Wir gingen weiter und warfen einen Blick in das frühere Zentrum der niederländischen Macht, in den Innenhof des Oost-Indisch Huis am Kloveniersburgwal, der im Mittelalter einen Abschnitt des Stadtgrabens um das alte Amsterdam bildete. An Stelle des ehemaligen Sint-Paulusbroederkloosters für fromme Bürger errichtete die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) hier 1606 ihren ersten eigenen Verwaltungsbau im sehr repräsentativen Baustil der Amsterdamer Renaissance. Darin tagte das oberste Gremium der Gesellschaft, de Heeren XVII, und traf seine Entscheidungen und Anweisungen für das weltumspannende Handels- und Kolonialimperium der Kompanie, die, von der niederländischen Regierung per Privileg ermächtigt, in den überseeischen Besitzungen schalten und walten und sogar Krieg führen durfte wie ein eigener Staat, obwohl sie nicht mehr war als eine, nein, die erste Aktiengesellschaft der Weltgeschichte.
Ein Jahr nach dem Bau des Ostindienhauses segelte der Kaufmann Jan Pieterszoon Coen mit einer Flotte der VOC nach Südostasien, um dort die begehrtesten Gewürze der Welt einzuhandeln. Einer seiner Vorgänger hatte 1599 von der zweiten niederländischen Expedition nach Indonesien 600.000 Pfund Pfeffer, 250.000 Pfund Gewürznelken und 20.000 Pfund Muskatnüsse mitgebracht und einen geradezu sagenhaften Erlös erzielt: Nach Rückzahlung des gesamten Investitionskapitals an die Anteilseigner blieben noch 265% Reingewinn übrig. Allein die Muskatnüsse, die damals ausschließlich auf den zu den Molukken gehörenden Banda-Inseln wuchsen, konnten mit einem Preisaufschlag von 32.000 Prozent gegenüber dem Einkaufspreis verkauft werden! Kein Wunder also, daß die VOC derart erfolgreiche Unternehmungen zu wiederholen wünschte. Coen erledigte das so erfolgreich für sie, daß die Heeren XVII ihn 1618 zum Gouverneur-generaal für alle Besitzungen der Kompanie außerhalb der Niederlande ernannten.
Als früher Merkantilist wollte Coen der VOC unbedingt ein alleiniges Handelsmonopol auf die nicht mit Gold aufzuwiegenden Gewürze verschaffen und vor allem auf den Molukken die Portugiesen und die englische East India Company vom Markt verdrängen. Doch mit wirtschaftlichen Maßnahmen oder Verträgen ließ sich die reiche Oberschicht der einheimischen Clanchefs und Händler (Orang Kaya = ‟reiche Männer”) nicht dazu überreden, nur noch exklusiv mit den Holländern Handel zu treiben. Darum schickte Coen 1621 vom neu angelegten Hauptstützpunkt Batavia seine ostindische Flotte zu den Banda-Inseln. In einer Strafaktion köpften seine Soldaten zunächst die gesamte Führungsschicht der Inseln, verschleppten etwa 800 Molukker als Geiseln nach Java und führten einen Aushungerungs- und Zermürbungskrieg gegen die gesamte Inselbevölkerung, bis von den ursprünglich rund 15.000 Menschen dort kaum mehr 1000 am Leben waren, die sich unter den Schutz der Engländer gerettet hatten. Es war ein von dem strenggläubigen Calvinisten Coen mit äußerster Berechnung geplanter und durchgeführter lupenreiner Völkermord.
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