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Mittwoch, 29. Mai 2013
Towards Another Summer

Ja, es gibt schon eigenwillige bis eigenartige Menschen unter uns, vielleicht mehr als man denkt, denn die meisten dürften ihr Leben unauffällig und ungestört in der Zurückgezogenheit des Privaten verbringen, aus der vielleicht manchmal ein bizarrer Gedanke, eine schnurrige Äußerung oder eine als inadäquat empfundene Handlung hervorbrechen.
Geschieht so etwas häufiger, werden die sie Äußernden als “sozial auffällig” betrachtet und in der Anonymität der Öffentlichkeit meist geflissentlich ignoriert, wie etwa die zunehmende Zahl von Menschen, die auf Parkbänken oder in U- und Straßenbahnen der Großstädte sitzen und mit leerem Blick scheinbar Zusammenhangloses halblaut vor sich hin leiern. (Ich meine nicht die mit dem kleinen Knopf im Ohr, bei denen ich erst nach einer Weile erkenne, daß sie mit jemandem telefonieren.)
Wird das unangepaßte Verhalten der “nicht mehr Normalen” störend, legen Angehörige Therapien und Behandlungen nahe, und die bunte Fauna der Seelenklempner aller Couleurs macht sich ans Werk, die Ver- und Gestörten wieder zu unanstößig funktionierenden Mitbürgern zu schleifen.
Bleibt das Psycho engineering samt Drogenverabreichung von Psychopharmaka erfolglos, müssen die Kranken am Ende zum Wohl der Allgemeinheit aus dem Verkehr gezogen und weggesperrt werden. Nie wieder hört man von ihnen; es sei denn sie greifen zur Feder oder zu Stift und Pinsel und artikulieren ihre Erlebnisse und Traumatisierungen auf eine so faszinierende Weise, daß sie dafür mit Kunst- oder Literaturpreisen belohnt werden und so wieder ins Licht der Öffentlichkeit zurückkehren.

Zu Hölderlins Zeiten gab es noch keine Literaturpreise, aber das Leben einer anderen Autorin ist genau so verlaufen. Ganz am unteren Ende der Welt wurde im August 1924 im tiefsten Winter im neuseeländischen Dunedin Janet Frame von der ersten promovierten Ärztin des Landes in ein nicht sehr glückliches Dasein geholt. Der Vater war ein kleiner Mechaniker bei der Eisenbahn, der mehrfach an winzige Stationen im dünn besiedelten Süden versetzt wurde, die Mutter hatte als Dienstmädchen im Haus der Familie von Katherine Mansfield gearbeitet, bevor die Kinder kamen. Janets Bruder litt an Epilepsie, ihre beiden Schwestern ertranken im Abstand von wenigen Jahren, und die heranwachsende Janet vereinsamte zunehmend. Als sie mit 19 eine Ausbildung zur Lehrerin begann, war sie im College so isoliert, daß sie ihre Freizeit zum Teil zwischen Gräbern auf dem Friedhof verbrachte.
Nach einem Selbstmordversuch wurde sie 1945 als schizophren in das Lunatic Asylum von Seacliff eingewiesen, wo man sie über zweihundertmal mit Elektroschocks behandelte. Andere Patientinnen wurden geschlagen, wenn sie nicht “kooperierten”, zwangssterilisiert oder an der Clitoris beschnitten. Acht Jahre saß Frame in Seacliff und anderen Anstalten ein, bis die Ärzte beschlossen, ihre diagnostizierte Schizophrenie durch eine Lobotomie behandeln und die Patientin damit dauerhaft “emotional ruhigstellen” zu wollen. Der amerikanische Psychiater Walter Freeman, der die Operation in den 1940er Jahren zu einer Standardtechnik der Psychiatrie entwickelte und zu Publizitätszwecken manchmal Dutzende Patienten vor laufenden Fernsehkameras operierte, hat den “Erfolg” der Methode selbst darauf zurückgeführt, daß die Operation “die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.” (In der McCarthy-Ära hat man die Operation gern vorgenommen, um homosexuelle und kommunistische Neigungen zu behandeln.)

Der Termin für Janet Frames Verstümmelung zum irreparabel geistig und emotional zerstörten menschlichen Wrack war bereits angesetzt, als ihr völlig überraschend für ihre ersten veröffentlichten Kurzgeschichten ein renommierter Literaturpreis verliehen wurde.
Die OP wurde verschoben, Frame aber erst vier Jahre später aus den Mühlen der Psychiatrie entlassen. Die folgenden beiden Jahre verbrachte sie in einer ehemaligen Armeebaracke auf dem Grundstück von Frank Sargesons Gartenhaus in einem Vorort von Auckland, wo sie ihren ersten Roman schrieb: Owls do cry (1957, letztes Jahr in einer Neuübersetzung von Karen Nölle wieder auf Deutsch erschienen: Eulen schrein). In elf weiteren Romanen, einer dreibändigen Autobiografie und zahlreichen kürzeren Texten hat sie sich ihr Leben lang an ihren Traumata abgearbeitet und dafür literarische Anerkennung bis zu mehreren Vorschlägen für den Nobelpreis erhalten. Drei Jahre nach ihrem Tod 2004 erschien posthum ein zwölfter Roman, Towards another summer, den sie schon 1963 nach einem längeren Aufenthalt in England geschrieben hat. Sein erstes Kapitel hatte mich sofort am Wickel.
“When she came to this country her body had stopped growing... her hair that once flamed ginger in the southern sun was fading and dust-coloured in the new hemisphere”, lauten die ersten Sätze.

“It snowed. For weeks the plants in the garden had a shocked grey look that made you think they’d had a stroke and would die [...] Inside, the electric fires sucked in and blew out the same tired stuffy air, the bathroom walls glittered with damp moss [...] She looked beyond the tall flats with their floating staircases, underfloor heating, nine hundred and ninety-nine years’ lease... and stood in a suddenly-summer lane, shining. Her skin grew warm [...] And that night Grace felt on the skin of her arms and legs, her breasts and belly, and even on top of her head the tiny prickling beginning of the growth of feathers. – It was a relief to discover her true identity. For so long she had felt not-human [...] now the solution had been found for her; she was a migratory bird.”

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