Am nächsten Morgen lag kalter Rauch über der Stadt. Dennoch machte Reims atmosphärisch einen warmen und zugleich aufgeräumten Eindruck auf uns. Dazu trug vor allem der helle, gelbliche Sandstein der Champagne an den älteren Häusern in der Innenstadt bei. Im Ersten Weltkrieg ist sie durch Artilleriegranaten zu mehr als der Hälfte zerstört worden. Dazu wurde die Zivilbevölkerung im März 1918 fast vollständig evakuiert, als das Deutsche Heer seine letzte erfolglose Frühjahrsoffensive an der Westfront begann. Bei Kriegsende war Reims eine weitgehend zerstörte und menschenleere Ruinenstadt. Selbst die Kathedrale war weder von deutschem noch von französischem Beschuß verschont worden. Doch nach dem Krieg bauten die Reimser ihre “Märtyrerstadt” (Poincaré) über zehn Jahre hinweg teils neu (mit Elementen von Art déco), teils rekonstruierend wieder auf. Die Erinnerung an diesen großen Einsatz (überall an Plaketten an den Hauswänden) hat bis heute die Errichtung größerer moderner und postmoderner Bausünden in der Innenstadt verhindern können.
Reims und seine Kathedrale sind für Frankreich mindestens so symbolträchtig wie Aachen und sein Kaiserdom für Deutschland. Schon die Römer haben die Civitas Remorum (eines belgischen Keltenstamms) nach ihrer Einnahme durch Caesar zum Hauptort ihrer Provinz Gallia Belgica secunda erhoben, und früh, im 4. Jahrhundert, wurde sie Bischofssitz, was ihr im zerfallenden römischen Imperium der Spätantike Kontinuität, Wohlstand und wachsende Bedeutung bescherte. 451 fiel Attila mit seinen Hunnen in die Stadt ein, und 486 eroberten salische Franken unter ihrem merowingischen König Chlodwig das gallorömische Restreich des Syagrius mit Reims. Vielleicht durch das Vorbild Kaiser Konstantins inspiriert, berichtete der fränkische Chronist Gregor von Tours fast hundert Jahre später, der Heide Chlodwig, der mit einer sehr katholischen Prinzessin der Burgunder verheiratet war, habe vor einer Schlacht gegen die Alemannen gelobt, zum Gott seiner Frau überzutreten, wenn dieser ihm den Sieg verleihe. Um 497 ließ sich Chlodwig in den behaglich temperierten römischen Badeanlagen von Reims vom amtierenden Bischof Remigius taufen.
Ende des 9. Jahrhunderts erfand dann Erzbischof Hinkmar von Reims die Legende, der zufolge Remigius das Öl für die christliche Weihe und Salbung des Frankenkönigs nach biblischem Vorbild durch eine Taube geradewegs vom Himmel zugetragen worden sei. Die Ampulle mit dem Salböl wird bis heute im Reimser Kirchenschatz aufbewahrt, denn sie war das Unterpfand für den maßgeblichen Einfluß der katholischen Kirche auf das französische Königtum. 816 ließ sich Kaiser Karls Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme nach seiner Krönung in Aachen in Reims vom Papst ein zweites Mal salben, und seit den ersten Kapetingern ist jeder König Frankreichs in der Kathedrale von Reims gekrönt und gesalbt worden. Entsprechend prachtvoll ist sie im Lauf ihrer langen Geschichte aus- und umgebaut worden. Nach einem Brand im Jahr 1210 erfolgte ihre grundlegende Umgestaltung zu einer der berühmtesten gotischen Kathedralen Frankreichs.
Eine Kirche von solch überragender symbolischer Bedeutung für ein ganzes Land darf sie meinetwegen gern auch in ihrem Erscheinungsbild zum Ausdruck bringen, aber ich persönlich kann zum einen generell selten Gefallen an Gotik finden. Man darf mir vorwerfen, daß ich die theologischen Grundlagen gotischer Kathedralen sträflich reduziere und mißachte: der Bau als “Abbild des Himmels” bzw. eines eschatologischen himmlischen Jerusalems und einer ecclesia spiritualis, deren Fundament Christus, deren Säulen die Apostel und deren Bausteine die Gläubigen sein sollen, seine Geometrie und seine in Zahlen ausgedrückte Harmonie als Hinweis auf die vollkommene göttliche Ordnung des Kosmos, das Ganze als dem Irdischen weitgehend entrücktes Gehäuse der darin vollzogenen Liturgie, mit der es zusammenwirkend die Gläubigen geistig zum Reich Gottes hinführen soll – geschenkt. Sedlmayer (Die Entstehung der Kathedralen) nennt die gotischen Kirchen, ausgehend von ihrer Konstruktion, “Illusionsarchitektur”, doch in der übersteigerten Form, in der ihre Elemente und Formen in und an der Reimser Kathedrale vor einem aufragen, empfinde ich sie mehr noch als ein Stück Überwältigungsarchitektur.
Das geht schon allein von der Größe und Masse des Baukörpers und der schieren Wucht seiner achtzig Meter hohen Türme über dem Haupteingang im Westwerk aus, auch wenn sie durch hohe Maßwerklanzetten geöffnet wurden und Kunsthistorikern zufolge angeblich leicht und schwebend wirken sollen. Bei mir levitiert da wenig, schon gar nicht die großkopferten Skulpturen der Königsgalerie aus dem 14. Jahrhundert, die aus über vierzig Metern Höhe auf ihr Fußvolk herabblicken.
Ursprünglich sollten die Türme noch einmal vierzig Meter hohe Spitzen erhalten, doch hat man schließlich auf sie verzichtet, um ihnen bei allem filigranen Maßwerk in der Fassade ihre fast trotzige Klotzigkeit zu belassen. (Na ja, es gab gewiß auch pekuniäre Gründe dafür, denn die oberen Geschosse der Türme wurden dem Architekturhistoriker Binding zufolge in der Regel als letztes aufgesetzt, und nachdem eine Kirche erst einmal geweiht und in Betrieb genommen war, ließ die Spendenbereitschaft meist spürbar nach.)
Nein, ich kann mich auch nicht am schließlich hier in Reims erfundenen Maßwerk delektieren oder an der Zuckerbäckerei der zahllosen Tabernakel, Baldachine und Fialen mit ihren Krabben und Kreuzblumen. Ein bißchen mehr Schlichtheit hätte es auch getan und einer christlichen Idealen noch irgendwie verpflichteten Kirche besser zu Gesicht gestanden. (Anachronistisch ist eine solche moralische Meßlatte keineswegs, denn die ersten gotischen Kathedralen entstanden schließlich genau zu der Zeit, in der ein Franz von Assisi lebte, in der die Bettelorden gegründet wurden und in Frankreich die mächtige Gegenbewegung der Katharer von der Kirche verketzert und verfolgt und ihre Anhänger massenweise verbrannt wurden.)
Mein Eindruck von gotischen Kathedralen deckt sich eher mit dem Urteil Giorgio Vasaris, und der hat den Terminus Gotik schließlich erfunden. In seinen Lebensbeschreibungen heißt es über die gotischen Kirchen:
“In diesen Gebäuden, deren so viele sind, daß sie die ganze Welt verpestet haben, schmückt man die Portale mit dünnen, nach Art der Rebe gewundenen Säulen, welche keine Kraft haben, ein Gewicht zu tragen. Und so machte man über alle diese Fassaden und andere ornamentalen Teile hin von jenen verfluchten Tabernakelchen eins aufs andere, mit so vielen Pyramiden, Spitzen und Laub, daß sie... eher wie aus Papier als wie aus Stein oder Marmor gemacht aussehen. Auch wurden in diesen Bauten so viele Vorsprünge, Durchbrüche, Kragsteinchen und Reblinge gemacht, daß sie jede Proportion verloren.”
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