"Was'n Wort: Norden."
Arno Schmidt
So ganz vertrauen wohl selbst die Finnen ihrem Norden (Pohjola) nicht, zumindest zeigt er neben einer zahnstummelfletschend lachenden Grimasse an einer Hauswand auf der Aleksanderinkatu in Helsinki auch noch ein sehr grimmiges Gesicht.
Wenn man sich von Helsinkis Haupteinkaufsstraße nordwärts in die ewig singenden Wälder schlägt und mit etlichen Umfahrungen diverser Seen einen ziemlich genauen Nordkurs hält, kommt man zirka 600 Kilometer weiter nur wenig vom Polarkreis entfernt an der Küste des Bottnischen Meerbusens aus diesen Wäldern auch einmal wieder heraus – nachdem man sich unterwegs den Bauch mit Unmengen von frischen Pfifferlingen direkt aus dem Waldboden und einigen Eimern Beeren, darunter vor allem weit im Norden auch die legendäre Lakka oder Multebeere, vollgeschlagen hat.
Finnischen Tango gibt’s natürlich auch noch, aber um diese Jahreszeit nicht mehr auf den kleinen Holzbühnen an Seeufern mitten in den Wäldern. “The seasons closing concert” fand für diese Saison am 28. September im Agricola-klubi in Helsinki statt:
“Tango is deeper and more soulful than ever when Tanguedia Quintet and Angelika Klas perform new arrangements of classical finnish tangos such as Kotkan Ruusu and Hiljainen Kylätie and new concert tango from Kirmo Lintinen, Jukka Linkola and Kari Ikonen...”
Zum Glück also liegt der finnische Tango nicht mehr überwiegend in den Händen von Numminen, dessen Masche mir am Ende ebenso nervtötend vorkam wie die Paasilinnas in seinen Büchern. Dem Marschtritt aber ist der Tango in Finnland weitgehend treu geblieben, weshalb sich argentinische Schmachtlappen denn auch mit leicht gekräuseltem Menjoubärtchen angewidert abwenden und ihre Damen zu langgezogenem weltschmerzenden Bandoneongewinsel rückwärts gebeugt übers Knie legen, während die derart verbogene Dame dem schmieriggegeelten Latino auch noch mit ihrer Schuhspitze vermeintlich lasziv die Wade auf und ab streicht.
Obwohl Atheist (was denn sonst?) steckt doch noch immer so viel protestantische Prägung in mir, daß mir die nordische Geradlinigkeit da lieber ist als das südlich-katholische Geschlängel. Aber ich tanze ja auch keinen Tango (mehr).
Tja, dann rollt man nach Hunderten von Kilometern also irgendwann aus dem finnischen Endloswald mit ganz vereinzelten Holzhäusern neben denen die Sauna raucht und mitten hinein in die nördlichste Großstadt der EU, die seit dem Neuaufbau nach einem Großbrand im Jahr 1822 womöglich noch unmotivierter an der Mündung des Oulujoki liegt als früher. Einst war der Fluß der wichtigste Verkehrsweg ins Hinterland und Haupttransportroute für Teer und Holz, das auf ihm in rauhen Mengen zum Meer geflößt wurde. Heute ist er vor allem Stromlieferant und wird von etlichen Wasserkraftwerken gestaut, bis kaum mehr Strömung zu sehen ist. Das macht es immerhin etwas weniger lebensgefährlich, wenn einige von den ganz harten Finnen mitten im Winter ein schwimmbeckengroßes Rechteck aus dem dicken Eis auf dem Fluß sägen und dort todesverachtend das letzte wärmende Textil abwerfen und in das eisige Wasser steigen. Als ich das letzte Mal in Oulu war, ist mir schon beim Zusehen fast das Herz stehen geblieben.
Die Mortalitätsrate beim Eisschwimmen muß hier aber vergleichsweise gering ausfallen, denn die Einwohnerzahl der Stadt ist – Wirtschaftskrisen hin oder her – allein im letzten Jahrzehnt von 120.000 kontinuierlich auf über 140.000 angewachsen. Noch einmal zehn Jahre zurück hatte sie gerade die 100.000er-Marke überschritten. Von Überalterung keine Spur. Die Universität bietet attraktive neue und kreative Studiengänge an, innovative finnische High-Tech-Unternehmen bieten gut bezahlte Jobs mit Zukunftsperspektiven, und längst ist die Stadt nicht mehr weit vom Schuß: Flüge zurück nach Helsinki zu sehr günstigen Preisen heben fast im Stundentakt ab.
... link (0 Kommentare) ... comment