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Sonntag, 15. August 2010
Das abenteuerliche Herz
Schuchowturm, Moskau 1922 Jenseits der Grenzen der Klarheit auf die Suche nach dem Wunderbaren gehen. Das nenne ich ein Programm, aus dem ein spannendes Buch hervorgehen kann. “Gegenstücke des Magnetbergs” will es finden, “geistige Zentren von so abweisender Kraft, daß sie dem gewöhnlichen Sinn unnahbarer und unbekannter als die Rückseite des Mondes sind”, und zu denen dem Erzähler ein alter Lehrer einst die Wege zeigte. Doch unbekannt sind viele Jahre später der Lehrer und die Wege zu ihm.
“Daß ich ihn fast ganz vergaß, liegt daran, daß er hinter sich die Spur zu löschen liebte wie ein Tier, das im innersten Dickicht haust... Auch Schuttplätze waren in das Viertel eingesprengt, in deren Zäune der bittersüße Nachtschatten seine Ranken flocht, während auf ihren Halden der Flughafer gilbte und der Stechapfel die weißen Kelchfähnchen im Abendwinde schaukelte. Noch waren hier weder Laternen noch Straßenschilder angebracht, und so kam es wohl, daß ich oft in die Irre ging. In der Erinnerung nun vergrößern sich diese Irrwege auf unentwirrbare Art, so daß es mir fast scheint, als ob er inmitten eines Archipels auf einer Insel gewohnt hätte, und zwar auf einer solchen, der kein Schiff sich zu nähern vermag, weil die Abweichung allen Berechnungen trotzt.”
(Wenn das keine schöne, rhythmische Prosa ist.)
“Unter der Schleife verstand er eine höhere Art, sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen. So betrachtete er die Welt als einen Saal mit vielen Türen, die jeder benützt, und mit anderen, die nur wenigen sichtbar sind... Sie gleichen Fugen im groben Bau der Welt, die nur das feinste Vermögen zu durchgleiten vermag, und alle, die sie je durchschritten, erkennen sich an Zeichen von geheimer Art. Wer so die Schleife zu beschreiben weiß, genießt inmitten der riesigen Städte die herrliche Windstille der Einsamkeit. – Hier wird leichter gedacht; im unfaßbaren Augenblick erntet der Geist Früchte ein, die er sonst durch jahrelange Arbeit nicht gewinnt... Hier findet der Mensch die rechten Maße, an denen er sich zu prüfen hat, wenn er am Scheidewege steht.”
Ich denke, die Lage ist klar: da ist jemand auf dem Weg, weg aus der Alltagswirklichkeit seiner Gegenwart, und will sich gerade “den empirischen Verhältnissen” entziehen.
Wie er die Gegenwart damals empfand, hat Jünger gleich in mehreren seiner dunklen Capriccios im Abenteuerlichen Herzen beschrieben (“nächtliche Scherze, die der Geist ohne Regung wie in einer einsamen Loge, und nicht ohne Gefährdung genießt.”)
“Ich trat in ein üppiges Schlemmergeschäft ein, weil eine im Schaufenster ausgestellte, ganz besondere violette Art von Endivien mir aufgefallen war. Es überraschte mich nicht, daß der Verkäufer mir erklärte, die einzige Sorte Fleisch, für die dieses Gericht als Zukost in Frage käme, sei Menschenfleisch...
Es entspann sich eine lange Unterhaltung über die Art der Zubereitung, dann stiegen wir in die Kühlräume hinab... Die Hände, Füße und Köpfe waren in besonderen Schüsseln ausgestellt und mit kleinen Preistäfelchen besteckt. Als wir die Treppe wieder hinaufstiegen, machte ich die Bemerkung: ‘Ich wußte nicht, daß die Zivilisation in dieser Stadt schon so weit fortgeschritten ist‘.”
Zivilisation – damals nicht nur bei Jünger keineswegs positiv besetztes Wort, sondern in Deutschland seit Kant und besonders bei Spengler programmatisch negativer Gegenbegriff zu Kultur: Zivilisationen „sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit […] Sie sind ein Ende” (Untergang des Abendlands), das Ende der Kultur. Zivilisation, darunter verstand man in Deutschland besonders die äußerlichen Errungenschaften von Fortschritt und Technik, die mit den Menschen etwas ganz anderes anstellten, als sie zu Freiheit und Kultur zu bringen. “Wie eine rasende Pest hatte die Mechanisierung des Menschen Europa zur Wüste gewandelt”, brachte Jünger bereits 1923 in seiner Erzählung Sturm sein Fazit der Moderne und ihres Kulminationspunkts, des Weltkriegs, auf den Punkt. 1932 beschrieb er in einem seltsam befremdlichen Essay mit dem Titel Der Arbeiter die Lebensbedingungen von Menschen, die entindivualisiert und zu Teilen von Maschinen zugerichtet worden waren: “Typen”. Im Abenteuerlichen Herzen kehren ähnliche Gedanken in literarischem Gewand als Nachtstücke wieder. Man lese darin nur einmal In den Wirtschaftsräumen, in denen ein Rad “mit langsamen, ruckartigen Drehungen” Treibriemen und Blasebälge antreibt, die Feuer in Schmiedeessen fachen, während Menschen vor der Folterung stehen. Oder das Lied der Maschinen:
“Hier empfand ich wieder, was man hinter dem Triebwerk des Flugzeugs empfindet, wenn die Faust den Gashebel nach vorne stößt und das schreckliche Gebrüll der Kraft, die der Erde entfliehen will, sich erhebt; oder wenn man nächtlich sich durch zyklopische Landschaften stürzt, während die glühenden Flammenhauben der Hochöfen das Dunkel zerreißen und inmitten der rasenden Bewegung dem Gemüte kein Atom mehr möglich scheint, das nicht in Arbeit ist. Hoch über den Wolken und tief im Inneren der funkelnden Schiffe, wenn die Kraft die silbernen Flügel und eisernen Rippen durchströmt, ergreift uns ein stolzes und schmerzliches Gefühl – das Gefühl, im Ernstfall zu stehen. Das Bild dieses Ernstfalles ist schwer zu fassen, weil die Einsamkeit zu seinen Bedingungen gehört, und stärker noch wird es verschleiert durch den kollektiven Charakter unserer Zeit.”
Schuchowturm Das erinnert nicht von ungefähr an Marinettis zwanzig Jahre älteres Futuristisches Manifest: “Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.
Wir wollen den Mann besingen, der das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt.”


Aber Jünger steht der Entgrenzung der Technik alles andere als begeistert optimistisch gegenüber, er ist viel ambivalenter, denn Jünger und Marinetti trennt die Erfahrung des Weltkriegs. Gerade Kriegserlebnisse wie die Stille “unmittelbar nach der Erstürmung des ersten Grabens” beschreibt Jünger als Geburtsmomente eines “anschaulichen Skeptizismus”, der viel gefährlicher sei als der theoretische der Philosophen. Die Grundstimmung der oft surrealistischen Träume Jüngers ist düster, als äußerste “Schleife”, die jedem offenstehe, wird der Freitod genannt – “Und doch gibt es Augenblicke, in denen das Lied der Maschinen, das feine Summen der elektrischen Ströme, das Beben der Turbinen, die in den Katarakten stehen, und die rhythmische Explosion der Motore uns mit einem geheimeren Stolze als mit dem des Siegers ergreift.”

Als Jünger in den Zwanziger Jahren an der ersten Fassung des Abenteuerlichen Herzens schrieb, bastelte zeitgleich in Jüngers Heimatstadt Hannover Schwitters an seinem Merzbau, und Wladimir Schuchow konstruierte in Moskau seinen ersten, ohne Vorbild dastehenden hyperboloiden Radiosendeturm. Die Welt befand sich nach den katastrophalen Zusammenbrüchen im Gefolge des Ersten Weltkriegs in vielen Bereichen im Umbruch, in der Phase der Revolution, der Experimente. Das Alte war als morsch, brüchig und überlebt in sich zusammengefallen oder weggefegt worden, Aufbruch war das Gebot der Stunde, in der Entwicklung von Technik ebenso wie im Gesellschaftlichen, ohne daß die Menschen im einzelnen schon genau wußten, wo es nun langgehen sollte, und fast chaotisch alle möglichen Richtungen ausprobierten.
“In unserer Epoche des großen Kampfes um die neue Kunst streiten wir als ›Wilde‹, nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die gefürchteten Waffen der ›Wilden‹ sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen, was für unzerbrechlich galt.”
So hatte Franz Marc schon vor dem Krieg in seinem Almanach Der Blaue Reiter ganz repräsentativ für viele Zweifelnde und Denkende und für seine Zeit geschrieben und die Hoffnung formuliert, “daß abseits all dieser im Vordergrunde stehenden Gruppen der ›Wilden‹ manche stille Kraft in Deutschland um dieselben fernen und hohen Ziele ringt, und Gedanken irgendwo im stillen reifen, von denen die Rufer im Streite nichts wissen.” Jünger darf man im Bereich der Literatur durchaus zu den Wilden der Epoche zwischen den Weltkriegen zählen. “Der Abenteurer ist ein Kontrast des Lebens; wir atmen schneller, der Tod rückt näher”, schrieb er damals.
Doch weil ihm die Veränderungen nicht schnell genug oder bald in die falsche Richtung zu gehen schienen, tat er, was man in solchen Situationen tut, er zog sich aus dem aktiven politischen Leben zurück und machte sich auf die Suche, zog mehrfach um, ging auf Reisen, auf die Reisen eines abenteuerlichen Herzens.

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