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Sonntag, 20. Dezember 2009
Trigonometrie, eine berechnende Wissenschaft
Es schneit und schneit und schneit. Selbst hier in den flachen Niederlanden fällt der Schnee so dicht und von einem kräftigen Wind schräg verwirbelt, dass man kaum die nächsten Häuser sieht, geschweige denn das Meer da draußen hinter den grauweißen Vorhängen. Was kann man an einem solchen Adventssonntag besseres tun, als den Kamin anzuzünden und mit einem schönen “Courtship plot” in Jane-Austen-Manier fortzufahren?
Während also Goethe sich mit “der Kauffmann” in der Sixtinischen Kapelle die Hälse verrenkte und anschließend ermüdet “auf dem päpstlichen Stuhle einem Mittagsschlaf” nachgab, versuchte der entlaufene Regimentsphysikus und Skandalautor Friedrich Schiller unterdessen auf dem glatt gebohnerten Parkett des Duodezfürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach Fuß zu fassen und rutschte so manches Mal darauf aus, wenn nicht die Freifrau von Kalb in den Gepflogenheiten bei Hofe besser bewandert wäre. Entgegen seiner ersten Äußerung scheint es aber doch ein paar Anlaufschwierigkeiten zwischen ihnen gegeben zu haben:
Der über sein prächtiges Paar Hörner aufgeklärte Ehemann reagierte jedoch anders, als es im Sinn des verliebten Pärchens war. Weder forderte er den Beschmutzer seiner Ehre auf Pistole oder Säbel (wie man es von einem erfahrenen Soldaten vielleicht hätte gewärtigen müssen) noch überließ er dem (implizit für nicht satisfaktionsfähig erklärten) Nebenbuhler das Feld, sondern erklärte, daß er seine Frau liebe und deshalb ihr Verhältnis “notwendig durchsehen”, sprich tolerieren wolle. Ein großzügiger Mann, der Herr von Kalb auf Kalbsrieth. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Es ist bekannt, daß der Major a.D. auf der Suche nach einem neuen Offizierspatent in Soldaten- und pfälzischen Hofkreisen einen recht teuren Lebenswandel führte. Sein ebenfalls verschwenderischer Bruder, der ehemalige Weimarer Kammerpräsident Johann v. Kalb, brachte aber, nachdem ihn wegen Unfähigkeit im Amt Göthe 1782 als Finanzminister abgelöst hatte, mehr und mehr das gesamte Vermögen beider Familien durch. (Er war zufällig mit Charlottes Schwester Lore verheiratet.) Und so war Heinrich v. Kalb auf die persönliche Schatulle seiner Frau angewiesen. Da mußte er bei ihrer romantischen Affäre mit einem dahergelaufenen armen Poeten eben einmal durch die Finger sehen.
Nach dem tatsächlichen Ende dieser Affäre sollte Frau von Kalb mit Schillers Worten zunehmend “materieller” werden (was sich vielleicht mit pragmatisch übersetzen läßt), und sie scheint das eheliche Zusammenleben mit ihrem Mann eine Zeitlang gar nicht einmal so unerträglich gefunden zu haben. Jedenfalls brachte sie ihm noch einmal einige Kinder zur Welt, bevor sich die Mittdreißigerin 1797 plötzlich ebenso schwärmerisch dem jüngeren Jean Paul an den Hals werfen sollte wie “einstmals Schiller”. Darauf zog sich Ehemann Heinrich endgültig auf sein Landgut Trabelsdorf zurück und lebte dort mit seiner Köchin, die ebenfalls drei Kinder von ihm bekam, bis wirklich alles Geld aufgebraucht war. Im April 1806 jagte er sich eine Kugel durch den Kopf.
19 Jahre vorher, im Sommer 1887 aber hat er sich, ob nun aus emotionaler Gleichgültigkeit, materieller Berechnung oder wirklicher Großzügigkeit, anscheinend bereiterklärt, fortan das zu führen, was man später eine “offene Ehe” nennen wird, und seine Frau mit ihrem Geliebten zu teilen.
Kirsten Jüngling, Mitautorin des Buchs Schillers Doppelliebe, ist der Meinung, dieses Arrangement sei gar nicht einmal gegen dessen Interessen gewesen, denn immerhin sei er ja schon einmal (aus Mannheim) vor Charlotte geflohen, und so hätte der Riegel, den Heinrich von Kalb einer ernsten Verbindung Charlottes mit Schiller vorlegte, diesen keineswegs gehindert, “sich romantischen Vorstellungen von einer Dreiecksbeziehung hinzugeben, denn Herr von Kalb blieb ihm gewogen, auch noch als er von des Dichters Beziehung zu seiner Frau wusste.” (Das Parlament 13/2005) Vielleicht erhöhte es für Schiller sogar den Reiz. Bei den Damen von Wolzogen bestand das wohl überwiegend imaginäre Dreieck aus zwei Damen um einen Mann; hier nun stand eine Frau zwischen zwei Männern. Variatio delectat.
Während also Goethe sich mit “der Kauffmann” in der Sixtinischen Kapelle die Hälse verrenkte und anschließend ermüdet “auf dem päpstlichen Stuhle einem Mittagsschlaf” nachgab, versuchte der entlaufene Regimentsphysikus und Skandalautor Friedrich Schiller unterdessen auf dem glatt gebohnerten Parkett des Duodezfürstentums Sachsen-Weimar-Eisenach Fuß zu fassen und rutschte so manches Mal darauf aus, wenn nicht die Freifrau von Kalb in den Gepflogenheiten bei Hofe besser bewandert wäre. Entgegen seiner ersten Äußerung scheint es aber doch ein paar Anlaufschwierigkeiten zwischen ihnen gegeben zu haben:
“Ich habe Dir nicht geschrieben, welche sonderbare Folge meine Erscheinung auf sie [Charlotte] gehabt hat. Vieles, was sie vorbereitete kann ich jetzt auch nicht wol schreiben. Sie hat mich mit einer heftigen bangen Ungeduld erwartet. Mein letzter Brief, der ihr meine Ankunft gewiß versicherte, setzte sie in eine Unruhe, die auf ihre Gesundheit wirkte”, teilt er Körner Anfang August 1787, mit. “Ihre Seele hieng nur noch an diesem Gedanken – und als sie mich hatte war ihre Empfänglichkeit für Freude dahin. Ein langes Harren hatte sie erschöpft, und Freude wirkte bei ihr Lähmung. Sie war fünf sechs Tage nach der ersten Woche meines Hierseyns fast jedem Gefühl abgestorben, nur die Empfindung dieser Ohnmacht blieb ihr und machte sie elend. Ihr Daseyn war nur noch durch convulsivische Spannung des Augenblicks hingehalten. Du kannst urtheilen, wie mir in dieser Zeit hier zu muthe war. Ihre Krankheit, ihre Stimmung und dann die Spannung, die ich hierherbrachte. Die Aufforderung, die ich hier hatte! Jetzt fängt sie an sich zu erhohlen, ihre Gesundheit stellt sich wieder her und ihr Geist wird freier. Jetzt erst können wir einander etwas seyn. Aber noch genießen wir uns nicht in einem zweckmäßigen Lebensplan, wie ich mir versprochen hatte. Alles ist nur Zurüstung für die Zukunft. Jetzt erwarte ich mit Ungeduld eine Antwort von ihrem Mann auf einen wichtigen Brief den ich ihm geschrieben”.Zehn Tage später trifft schon die Antwort aus dem pfälzischen Zweibrücken ein: “Herr von Kalb hat mir geschrieben. Er kommt zu Ende Septembers, seine Ankunft wird das weitere mit mir bestimmen. Seine Freundschaft für mich ist unverändert, welches zu bewundern ist, da er seine Frau liebt und mein Verhältniß mit ihr nothwendig durchsehen muß.” - Schade, daß die eigentlich interessanten Briefe so oft “verloren” gehen. Was mag Schiller dem Ehemann seiner Geliebten geschrieben haben? Er selbst sagt, daß es wichtig gewesen sei, und spricht von “Zurüstung für die Zukunft” und “zweckmäßigem Lebensplan”. Das läßt fast vermuten, er habe von Kalb die Scheidung vorgeschlagen, um anschließend selbst Charlotte heiraten zu können. Zumindest muß er der Meinung gewesen sein, daß sein Verhältnis zu Frau von Kalb inzwischen ein solches Ausmaß angenommen hatte (oder ein Ausmaß an öffentlicher Bekanntheit), daß er es für angebracht hielt, den betroffenen Ehemann davon in Kenntnis zu setzen. Nein, es muß mehr gewesen sein als nur das, denn Schiller macht ja die eigene Zukunft von v. Kalbs Reaktion abhängig: “seine Ankunft wird das weitere mit mir bestimmen.”
Der über sein prächtiges Paar Hörner aufgeklärte Ehemann reagierte jedoch anders, als es im Sinn des verliebten Pärchens war. Weder forderte er den Beschmutzer seiner Ehre auf Pistole oder Säbel (wie man es von einem erfahrenen Soldaten vielleicht hätte gewärtigen müssen) noch überließ er dem (implizit für nicht satisfaktionsfähig erklärten) Nebenbuhler das Feld, sondern erklärte, daß er seine Frau liebe und deshalb ihr Verhältnis “notwendig durchsehen”, sprich tolerieren wolle. Ein großzügiger Mann, der Herr von Kalb auf Kalbsrieth. Was blieb ihm auch anderes übrig?
Es ist bekannt, daß der Major a.D. auf der Suche nach einem neuen Offizierspatent in Soldaten- und pfälzischen Hofkreisen einen recht teuren Lebenswandel führte. Sein ebenfalls verschwenderischer Bruder, der ehemalige Weimarer Kammerpräsident Johann v. Kalb, brachte aber, nachdem ihn wegen Unfähigkeit im Amt Göthe 1782 als Finanzminister abgelöst hatte, mehr und mehr das gesamte Vermögen beider Familien durch. (Er war zufällig mit Charlottes Schwester Lore verheiratet.) Und so war Heinrich v. Kalb auf die persönliche Schatulle seiner Frau angewiesen. Da mußte er bei ihrer romantischen Affäre mit einem dahergelaufenen armen Poeten eben einmal durch die Finger sehen.
Nach dem tatsächlichen Ende dieser Affäre sollte Frau von Kalb mit Schillers Worten zunehmend “materieller” werden (was sich vielleicht mit pragmatisch übersetzen läßt), und sie scheint das eheliche Zusammenleben mit ihrem Mann eine Zeitlang gar nicht einmal so unerträglich gefunden zu haben. Jedenfalls brachte sie ihm noch einmal einige Kinder zur Welt, bevor sich die Mittdreißigerin 1797 plötzlich ebenso schwärmerisch dem jüngeren Jean Paul an den Hals werfen sollte wie “einstmals Schiller”. Darauf zog sich Ehemann Heinrich endgültig auf sein Landgut Trabelsdorf zurück und lebte dort mit seiner Köchin, die ebenfalls drei Kinder von ihm bekam, bis wirklich alles Geld aufgebraucht war. Im April 1806 jagte er sich eine Kugel durch den Kopf.
19 Jahre vorher, im Sommer 1887 aber hat er sich, ob nun aus emotionaler Gleichgültigkeit, materieller Berechnung oder wirklicher Großzügigkeit, anscheinend bereiterklärt, fortan das zu führen, was man später eine “offene Ehe” nennen wird, und seine Frau mit ihrem Geliebten zu teilen.
Kirsten Jüngling, Mitautorin des Buchs Schillers Doppelliebe, ist der Meinung, dieses Arrangement sei gar nicht einmal gegen dessen Interessen gewesen, denn immerhin sei er ja schon einmal (aus Mannheim) vor Charlotte geflohen, und so hätte der Riegel, den Heinrich von Kalb einer ernsten Verbindung Charlottes mit Schiller vorlegte, diesen keineswegs gehindert, “sich romantischen Vorstellungen von einer Dreiecksbeziehung hinzugeben, denn Herr von Kalb blieb ihm gewogen, auch noch als er von des Dichters Beziehung zu seiner Frau wusste.” (Das Parlament 13/2005) Vielleicht erhöhte es für Schiller sogar den Reiz. Bei den Damen von Wolzogen bestand das wohl überwiegend imaginäre Dreieck aus zwei Damen um einen Mann; hier nun stand eine Frau zwischen zwei Männern. Variatio delectat.
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