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Dienstag, 15. Dezember 2009
35 Jahre Hölderlin-Gedächtnis-Lauf
Gönnen wir Presidente Berlusconi seine Zeit im Krankenhaus. Vielleicht kommt er außer zur Genesung auch, obwohl wenig Hoffnung ist, einmal zur Besinnung.
Wie kriege ich nun aber die Kurve zurück zu meinem Briefroman in Fortsetzungen aus der deutschen Klassik? Am besten über einen tagesaktuellen Gedenktag: Heute vor 35 Jahren lief Werner Herzog in Paris ein. Zu Fuß nach einer dreiwöchigen Wanderung durch ein verregnetes und manchmal auch verschneites winterliches Deutschland und Frankreich. Am Abend des ersten Wandertages, dem 23. November 1974, hatte er schon in seinem Notizbuch festgehalten: "Nach diesen wenigen Kilometern zu Fuß weiß ich, daß ich nicht bei Troste bin, das Wissen kommt von den Sohlen."
In München aufgebrochen, erreichte er nach fünf Tagen die Donau, nach weiteren fünf Tagen, in denen er den tief verschneiten Schwarzwald überquerte, den Rhein. Noch viele Tage, an denen er bis zur Erschöpfung lief, folgten. "Was heute eine Extremform des medialen Spaziergehens ist, umweht hier der Hauch der Lenzschen Verwirrung", hieß es dazu vor zwei Jahren in der ZEIT. Und wozu das Ganze? War es wieder nur eine dieser verrückten Aktionen wie die in seinen Filmen, für die Herzog so berühmt ist? Er selbst sagt, es steckte mehr dahinter. Es war eine magische Handlung, eine Art schamanistischer Zauberheilung.
"Ende November 1974 rief mich ein Freund aus Paris an und sagte mir, Lotte Eisner sei schwer krank und werde wahrscheinlich sterben. Ich sagte, das darf nicht sein, sie wird nicht sterben, ich erlaube das nicht. - Meine Schritte gehen fest. Und jetzt zittert die Erde. Wehe! Sie darf nicht. Sie wird nicht. Wenn ich in Paris bin, lebt sie."
Drei Wochen später und nach rund 800 zu Fuß zurückgelegten Kilometern sollte er Recht behalten, bei seinem Eintreffen in Paris war Lotte Eisner, die wichtige Filmkritikerin, "der einzige noch lebende Mensch auf dieser Erde, der das Kino von seiner Geburtsstunde an kennt, jeden, der jemals seit Beginn des Films Bedeutung hatte, auch persönlich", noch am Leben. (Sie sollte erst neun Jahre später sterben.)
Freitag, 13.12. 1974. Am Morgen hatte ich den Rand von Paris erreicht, aber bis zu den Champs Elysees war es noch einmal ein halber Tag, ich ging bis dort hin, auf Füßen, die so müde waren, daß ich keine Besinnung mehr hatte.
Samstag, 14.12. Im nachhinein noch dieses: ich ging zur Eisnerin, sie war noch immer müde und von der Krankheit gezeichnet. Irgendwer mußte ihr wohl am Telefon gesagt haben, daß ich zu Fuß gekommen war, ich wollte es nicht sagen. Ich war verlegen und legte meine wehen Beine auf einen zweiten Sessel hoch, den sie mir hinschob. In der Verlegenheit ging mir ein Wort durch den Kopf, und da die Situation ohnedies seltsam war, sagte ich es ihr. Zusammen, sagte ich, werden wir Feuer kochen und Fische anhalten. Da sah sie mich an und lächelte ganz fein und weil sie wußte, daß ich einer zu Fuß war und daher ungeschützt, verstand sie mich. Einen feinen, kurzen Moment lang ging etwas Mildes durch meinen todmüden Körper hindurch. Ich sagte, öffnen Sie das Fenster, seit einigen Tagen kann ich fliegen."
Für seinen, im Positiven, verrückten Einfall kannte Herzog vielleicht ein historisches Vorbild: Im Dezember 1801 verließ Friedrich Hölderlin Deutschland und wanderte zu Fuß von Nürtingen über den Hochschwarzwald und durch Frankreich ("auf den gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis...") mehr als 1000 Kilometer bis nach Bordeaux, wo er eine neue Stelle als Hofmeister antrat. Mitte Mai 1802 geht er schon wieder zurück. Am 7. Juni überschreitet er bei Kehl den Rhein. "Doch erst drei bis vier Wochen später" wundert sich Bertaux, "taucht er in der schwäbischen Heimat auf" ("leichenblaß, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler", heißt es in den zeitgenössischen Berichten). "Doch seit vierzig Jahren", fährt Bertaux fort, "drängt sich mir eine von der Hölderlin-Forschung nie in Betracht gezogene Hypothese immer zwingender auf: Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux, sein drei- bis vierwöchiges Verschwundensein... sowie sein verwirrtes Auftauchen in der Heimat könnten mit dem Tode von Susette Gontard zu tun haben. - Diese Hypothese ist von Adolf Beck zurückgewiesen worden, jedoch ohne stringente Begründung... Allerdings ist hier der Angelpunkt des gesamten Problems; hier entscheidet sich in erster Instanz, ob Hölderlin geisteskrank gewesen ist oder nicht."

Heute vor 35 Jahren beendete Werner Herzog, erfolgreich und keineswegs geisteskrank, seine lange Wanderung in den Spuren Hölderlins.

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aktuell:
Wir unterbrechen unsere laufende Weimarer Klassik-Soap für eine aktuelle Meldung.

War es der halbwegs vernünftig gebliebenen Hälfte des italienischen Wahlvolks nicht seit längerem zu wünschen, daß einmal ein Beato Campochiaro, eine italienische Ausgabe von Beate Klarsfeld, die Bühne Berlusconis stürmen würde? Jetzt ist es passiert. Halb Italien freut sich (und nicht nur halb Italien), und daß Massimo Tartaglia aus Mailand ein Geistesgestörter sein soll, dürfte in meinen Augen entweder eine Schutzbehauptung oder die übliche Diffarmierungsreaktion aus dem Berlusconi-Lager sein.



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