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Sonntag, 25. November 2007
Núpsstaður
Vor der kleinen Kirche von Núpsstaður wächst ein kräftiger, vierkantiger Stein aus dem grasigen Boden (s. Bild im vorigen Beitrag), und er steht bestimmt seit Jahrhunderten an seinem Platz. In früheren Zeiten banden die Kirchen- oder Hofbesucher ihre Pferde daran fest. Heute sitzt bei gutem Wetter manchmal ein alter Mann darauf, Filippus, der letzte lebende der Núpsstaðarbrüder. Núpsstaður war und ist der letzte Hof vor dem vierzig Kilometer breiten wüsten Skeiðarársandur mit seinen Treibsänden und unberechenbaren, kalten und reißenden Gletscherflüssen; die Bauern auf dem Hof verdienten sich früher ein Zubrot damit, Reisende über dieses gefährliche Terrain zu führen. Filippus Vater Hannes Jónsson wurde zudem als Landpostbote eine legendäre Gestalt, als er nach einem Gletscherlauf, der den Sander weithin überschwemmte, kurzerhand über die zerklüfteten Spaltenfelder der für unüberquerbar gehaltenen Gletscherzungen des Vatnajökull zu seinem Hof zurückkehrte.
Inzwischen ist auch Filippus, das jüngste von Hannes' ehemals zehn Kindern, schon weit über 90. Auf dem winzigen Friedhof hinter der Kirche liegt sein Vater und seit neuestem auch sein drei Jahre älterer Bruder Eyjólfur begraben, mit dem zusammen er sein ganzes Leben auf dem Hof verbrachte. Als man glaubte, sie seien zu alt geworden, um noch allein in dieser Einsamkeit zurechtzukommen, überredete man sie, ins Altersheim des nächstgelegenen Orts zu ziehen, doch dort hielten es die beiden, die so an die unumschränkte Weite vor ihrem Haus gewöhnt waren, nicht aus. Es war ihnen schlichtweg zu langweilig. So kehrten sie nach Núpsstaður zurück. Um sich selbst versorgen zu können, bekamen sie vom isländischen TÜV für ihren alten Willys Jeep, Baujahr 1950, eine Sonderfahrerlaubnis auf Lebenszeit, die ausschließlich für die Strecke von ihrem Hof zum nächsten Kaufladen galt. Mit Blick auf den gewaltigen Lómagnúpur, der hinter der Kirche aufragt, erzählt Filippus, bekanntlich habe bei der Entdeckung Islands ein Bergriese darin gehaust, der mit drei anderen Schutzgeistern die begehrlichen Versuche norwegischer Könige zurückschlug, Island in die Hand zu bekommen. “Du siehst ihn noch heute in unserem Staatswappen”, sagt Filippus und lächelt. “Das beweist, dass es ihn tatsächlich gegeben hat. Außerdem kannten ihn auch die Männer aus der Njáls saga. Flósi Þórðarsson, der sich an der Mordbrennerei gegen Njáll beteiligte, erschien er in einem Traum und bezeichnete ihm genau die Männer, die den Racheanschlägen nach Njáls Tod zum Opfer fallen würden. Und dass er sich darin nicht irrte, ist der stärkste Beweis für seine Existenz. Mir ist er allerdings noch nie erschienen, obwohl ich bis heute keine Brille brauche, um gut genug in die Ferne zu sehen, was ich mein Leben lang getan habe. Ohne diese Weite hier um mich herum erschiene mir das Leben eng”, sagt er zum Abschied, und lässt den Blick seiner blauen Augen wieder über den endlosen Sander bis zum weißen Schild des Öræfajökulls hinüberschweifen, aus dem Islands höchster Gipfel aufragt.
Inzwischen ist auch Filippus, das jüngste von Hannes' ehemals zehn Kindern, schon weit über 90. Auf dem winzigen Friedhof hinter der Kirche liegt sein Vater und seit neuestem auch sein drei Jahre älterer Bruder Eyjólfur begraben, mit dem zusammen er sein ganzes Leben auf dem Hof verbrachte. Als man glaubte, sie seien zu alt geworden, um noch allein in dieser Einsamkeit zurechtzukommen, überredete man sie, ins Altersheim des nächstgelegenen Orts zu ziehen, doch dort hielten es die beiden, die so an die unumschränkte Weite vor ihrem Haus gewöhnt waren, nicht aus. Es war ihnen schlichtweg zu langweilig. So kehrten sie nach Núpsstaður zurück. Um sich selbst versorgen zu können, bekamen sie vom isländischen TÜV für ihren alten Willys Jeep, Baujahr 1950, eine Sonderfahrerlaubnis auf Lebenszeit, die ausschließlich für die Strecke von ihrem Hof zum nächsten Kaufladen galt. Mit Blick auf den gewaltigen Lómagnúpur, der hinter der Kirche aufragt, erzählt Filippus, bekanntlich habe bei der Entdeckung Islands ein Bergriese darin gehaust, der mit drei anderen Schutzgeistern die begehrlichen Versuche norwegischer Könige zurückschlug, Island in die Hand zu bekommen. “Du siehst ihn noch heute in unserem Staatswappen”, sagt Filippus und lächelt. “Das beweist, dass es ihn tatsächlich gegeben hat. Außerdem kannten ihn auch die Männer aus der Njáls saga. Flósi Þórðarsson, der sich an der Mordbrennerei gegen Njáll beteiligte, erschien er in einem Traum und bezeichnete ihm genau die Männer, die den Racheanschlägen nach Njáls Tod zum Opfer fallen würden. Und dass er sich darin nicht irrte, ist der stärkste Beweis für seine Existenz. Mir ist er allerdings noch nie erschienen, obwohl ich bis heute keine Brille brauche, um gut genug in die Ferne zu sehen, was ich mein Leben lang getan habe. Ohne diese Weite hier um mich herum erschiene mir das Leben eng”, sagt er zum Abschied, und lässt den Blick seiner blauen Augen wieder über den endlosen Sander bis zum weißen Schild des Öræfajökulls hinüberschweifen, aus dem Islands höchster Gipfel aufragt.
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