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Donnerstag, 19. August 2010
Das Reisen und “der herzlos gefräßige Popanz des ‘Staates’”
Reisen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die vielen natürlich längst nicht so selbstverständlich wie heute. In seiner enzyklopädischen Schilderung jener Welt von gestern hielt der Wiener Stefan Zweig, der immerhin Sohn eines reichen Textilfabrikanten und einer Bankierstochter war, fest: “Während meiner ersten zwanzig Jahre habe ich so gut wie nichts von der wundervollen Umgebung Wiens gesehen”, von dem, was noch ferner lag, ganz zu schweigen. Umso ausgiebiger holte Zweig das Reisen später nach, besuchte Ceylon, Indien und Südostasien, Kanada, die USA und Kuba, alles noch vor dem Ersten Weltkrieg. Reisebeschränkungen scheinen kaum existiert zu haben, sofern man das nötige Kleingeld besaß. Zweig hatte es, und ihm waren das Privileg und die dadurch erreichbare Freiheit zumindest im Rückblick ganz bewußt:
“Wir haben mehr Freiheit im staatsbürgerlichen Sinne genossen als das heutige Geschlecht... Wir vermochten kosmopolitischer zu leben, die ganze Welt stand uns offen.”
Wir halten ja gemeinhin unsere eigene Zeit für die mit den größten Reisemöglichkeiten jemals, und im Hinblick darauf, was finanziell erreichbar ist, trifft das für die große Masse auch sicher zu. Wenn ich aber an das mittlerweile errichtete Maß an Kontrollen und Schikanen beim Reisen denke, kann ich über die Freizügigkeit damals, wie Zweig sie kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rückblickend im englischen Exil schilderte, nur fast ungläubig staunen:
“Wir konnten reisen ohne Paß und Erlaubnisschein, wohin es uns beliebte, niemand examinierte uns auf Gesinnung, auf Herkunft, Rasse und Religion. Wir hatten tatsächlich – ich leugne es keineswegs – unermeßlich mehr individuelle Freiheit”. (Die Welt von gestern, S.111)
Reisen ohne Paß – das soll man heute besser nicht versuchen, wenn man nicht aus einem Schengen-Land kommt oder den EU-Raum überschreiten will. Damals war es möglich, und auch Ernst Jünger machte Ende der Zwanziger Jahre von dieser Freiheit Gebrauch, obwohl schon zunehmend ein anderer Geist fast überall Einzug hielt. Dazu ein letztes Mal Stefan Zweig:
“Europa wird für Jahrzehnte nicht mehr sein, was es vor dem Ersten Weltkrieg gewesen... gibt es doch keine Nation in unserer kleinen Welt des Abendlandes, die nicht unermeßlich viel ihrer einstigen Lebenslust und Unbefangenheit verloren hätte... Die Russen, die Deutschen, die Spanier, sie alle, sie alle wissen nicht mehr, wieviel an Freiheit und Freude der herzlos gefräßige Popanz des ‘Staates’ ihnen aus dem Mark der innersten Seele gesogen.”
Die Kritik am modernen Staat teilte Jünger mit Zweig, auch wenn sie politisch in völlig verschiedenen Lagern standen, doch wurde Jüngers politische Publizistik zugunsten einer nationalen Revolution gegen Ende der Zwanziger Jahre stiller, er erkannte Widersprüche im rechten Lager und Unvereinbarkeiten, und er sah bereits 1929 die Machtübernahme der Nazis klar voraus. Im September dieses Jahres schrieb er einen Brief an Bruno von Salomon, damals Chefredakteur der Zeitung der schleswig-holsteinischen "Landvolkbewegung", der wenig später aber der KPD beitrat und in Spanien in den Internationalen Brigaden gegen Franco und für die Republik kämpfen sollte. Ihm schrieb Jünger am 10.9.29: “Es ist sehr gut, daß die Gegensätze bereits sichtbar werden, die den Nationalismus in unserem Sinne von der extremen Rechten trennen. Ohne Zweifel wird diese einmal ans Ruder kommen”.
Nein, es hieße den Bogen überspannen, wenn man behauptete, Jünger sei aus Gründen politischer Frustration auf Reisen gegangen, aber Elemente eines Rückzugs aus dem politischen Engagement und einen Weg zu erhöhter Reflexion und Selbstbesinnung enthalten seine ersten Reisen durchaus, und es ist wohl auch keine rein zufällige Koinzidenz, daß er gerade in und seit jenem Jahr ‘29 häufiger ins Ausland reiste, 1929 nach Frankreich und nach Italien und Sizilien, 1931 auf die Balearen, 1932 nach Jugoslawien, 1935 nach Norwegen, 1936 zu Schiff über Marokko und die Kanaren nach Brasilien, 1938 Rhodos.
Zuhause in Deutschland geriet er während dieser Zeit immer mehr in Gegensatz zu den Nationalsozialisten, weil er sich expressis verbis weigerte, sich von Goebbels Propagandamaschine vereinnahmen zu lassen. Kaum hatte die NSDAP die Regierungsgewalt übernommen, veranstaltete die Polizei in Jüngers Berliner Wohnung eine Durchsuchung. “Es war eine wohltätige Impfung, eigentlich mehr ein acte de présence der neuen Autorität”, spielte Jünger sein Erschrecken herunter, doch anschließend verbrannte er sicherheitshalber “Tagebücher seit 1919, Gedichte, Briefwechsel... Man mußte Ballast abwerfen.”
Anfang Dezember ‘33 verließen die Jüngers Berlin und tauchten nach Goslar in die tiefste Provinz ab. “Ich habe augenblicklich ein hohes Stadium der Langeweile erreicht”, notierte er dort in seinem Briefjournal. “Im übrigen fand ich Berlin so amüsant wie die Residenz des Königs Pest.” Doch auch im langweiligen Goslar ließ ihn das Regime nicht in Ruhe, 1934 fand auch dort eine Hausdurchsuchung statt, eine dritte 1940 in Kirchhorst. Wie von ihm nicht anders zu erwarten, ließ sich Jünger aber nicht einschüchtern. Als das Parteiblatt der regierenden Nazis, der mächtige Völkische Beobachter, einen Text von ihm ohne seine Genehmigung abdruckte, schrieb er an die Redaktion: “Es muß der Eindruck entstehen, daß ich Ihrem Blatte als Mitarbeiter angehöre. Dies ist keineswegs der Fall... Mein Bestreben läuft nicht darauf hinaus, in der Presse möglichst oft genannt zu werden, sondern darauf, daß über die Art meiner politischen Substanz auch nicht die Spur einer Unklarheit entsteht.”
Das war mehr als deutlich. Und in den Neubearbeitungen seiner bereits erschienenen Schriften war die Tendenz nicht weniger eindeutig. In einer Neuauflage der Stahlgewitter 1934 hat Jünger u.a. den früher enthaltenen Satz: “Deutschland lebt, und Deutschland soll nicht untergehen” und weitere dieser Art gestrichen. Er kommentierte die Streichungen 1940 in einem Brief an einen Freund aus seinem Bunker am Westwall: “Mein Ehrgeiz, soweit er sich auf militärische Dinge richtet, ist heute erloschen; und damit lebe ich in einem Zustande der Selbstgenügsamkeit. Ich bin zufrieden, wenn man mich weder bedrückt noch auszeichnet, und fechte aus einem Bedürfnis nach Sauberkeit. Wo gefochten wird, darf man noch hoffen, am wenigsten jenen Menschen zu begegnen, deren Nähe mir so widrig ist. Ich habe schon das Wort ‘deutsch’ aus allen meinen Büchern gestrichen, damit ich es nicht mit jenen teilen muß.”
Am 14. Februar 1933 schloß der neue preußische Kultusminister Rust (NSDAP) Heinrich Mann und Käthe Kollwitz aus der Preußischen Akademie der Künste aus, weil sie einen Wahlkampfaufruf für ein Zusammengehen von SPD und KPD unterzeichnet hatten. Am 28. Februar 1933 brannte in Berlin der Reichstag. Noch am gleichen Tag erließ die gerade gewählte Regierung Hitler eine “Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Akte”, in der die Grundrechte der Weimarer Republik weitgehend aufgehoben wurden. Am 23. März folgte das Ermächtigungs-“Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich”, am 31. desselben Monats verabschiedete die Regierung das 1. Gleichschschaltungsgesetz, das auch gleich für eine deutliche Nazifizierung der Preußischen Akademie genutzt wurde. Wer von den Mitgliedern keine Erklärung unterschrieb, der Akademie „unter Anerkennung der veränderten Lage“ zur Verfügung zu stehen, wurde zum Austritt gedrängt. Anfang November ‘33 wählte eine sogenannte “neue Garde” von Akademie- und Parteimitgliedern Ernst Jünger in die Akademie. Mit seiner Antwort auf die erfreute Mitteilung ließ er sich eine Woche Zeit. Am 16. November ‘33 teilte er dann schriftlich mit: “Ich beehre mich Ihnen mitzuteilen, daß ich die Wahl in die Deutsche Akademie der Dichtung nicht annehmen kann... Im besonderen fühle ich mich verpflichtet, meine Anschauung über das Verhältnis zwischen Rüstung und Kultur, die ich im 59. Kapitel meines Werkes über den Arbeiter niedergelegt habe, auch in meiner persönlichen Haltung zum Ausdruck zu bringen.”
Die betreffende Stelle im Arbeiter lautet: “Wie weit man auch zurückgehen möge, man wird schwerlich auf eine so peinliche Mischung von Abgedroschenheit und Überhebung stoßen, wie sie in den offiziellen Staatsansprachen mit ihrer unvermeidlichen Berufung auf die deutsche Kultur üblich geworden ist.”

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