Sonntag, 28. September 2014
Sandy Creek, Jowalbinna. Tief in die Traumzeit eindringen
Nach einer weiteren Viertelstunde erreichten wir die uralten Regenzeitwohnplätze am fast ausgetrockneten Sandy Creek. Von einer Felswand leuchtete uns ein fetter weißer Aal entgegen. ‟Dieser prächtige Phallus hatte früher schon die gleiche Wirkung wie heute”, erläuterte Steve. ‟Wie ein Warnzeichen. Es signalisierte den Frauen: Bleibt weg! Der Ort hier oben ist Männern vorbehalten. Dahinter kommen wir nämlich zu einer Höhle oder einem engen Felsdurchlaß, der nach Meinung meines Vaters für die Initiation von Jungen genutzt wurde.”
‟Warum aber sind an den Eingang zu diesem steinernen Geburtskanal ein Mann und eine Frau gemalt?”, fragte er, als wir vor dem schmalen Spalt standen. ‟Wir wissen es natürlich nicht mehr, aber mein Vater hatte die Vermutung, daß es mit dem kosmogonischen Zwei-Brüder-Mythos zu tun haben könnte, und dann hätten wir hier die beiden Brüder Mond und Venus abgebildet. Zu Anbeginn der Zeiten gab es nämlich noch keine Frauen. Der Mond war ein Mann, und Venus war sein Bruder. Weil aber der Mond fruchtbar sein und zeugen wollte, lockte er seinen Bruder Venus zu sich – man sieht die beiden ja manchmal in Konjunktion am Abendhimmel – und dann kastrierte er Venus und machte die erste Frau aus ihr.”
‟Der Mond ein Mann, die Venus ein Mann”, schüttelte Ulla-Lena den Kopf. ‟Das Denken der Aborigenes scheint wirklich so patriarchalisch geprägt zu sein, wie man immer liest.”
‟Yeah”, sagte ich und ahmte die Stimme von Roy nach.
‟Das Thema Fruchtbarkeit scheint hier bei vielen Bildern eine Rolle zu spielen”, fuhr Steve fort. ‟Aber das liegt ja auch nahe. Ihr müßt euch den Ort hier mal in der Regenzeit vorstellen. Dann ist der Sandy Creek ein schäumender Fluß, und es quillt hier überall von Leben. Guckt euch nur das Paar Fische hier an. Es kann natürlich auch ein Totemzeichen sein. Kann sein, daß die Barramundi-Leute von weiter unterhalb am Creek hier ihren Versammlungsplatz hatten. Eigentlich sind mein Vater und ich aber davon überzeugt, daß es hier ein Emu-Heiligtum gab. Die alten, initiierten Männer vom Emu-Clan verfügten über das größte geheime Wissen. Sie waren von allen in die meisten Geschichten aus der Traumzeit eingeweiht, und dafür hat mein Vater hier einige Anzeichen gefunden. Der Zwei-Brüder-Mythos – wenn er denn hier abgebildet ist – ist nur eins davon, der stammt nämlich gar nicht von hier, sondern gehörte eigentlich anderen Stämmen viel weiter nördlich am Kap York.”
Steve führte im Lauf dieses Tages noch häufiger seinen Vater als Zeugen ins Feld, und das ist keineswegs verwunderlich. Percy Tresize war derjenige, der in den 1960er Jahren die ersten Stätten mit den alten Felsmalereien wiederentdeckte. Nachdem er hier am Sandy Creek in drei Metern Tiefe eine Steinzeitaxt ausgegraben hatte, die sich mit einem Alter von, well, 32.000 Jahren als die älteste zurechtgeschliffene und nicht -gehauene Axt im ganzen australo-asiatischen Raum herausstellte, kaufte er die Farm, zu der das Land am Sandy Creek gehörte, nannte sie mit einem Aborigenewort in Jowalbinna um, was so viel wie Dingoohr bedeuten soll, und machte sich an die weitere Erkundung der Sandsteinfelsen auf seinem Land. Percy Tresize ist der Entdecker der Quinkan-Kunst. An einem Felsüberhang, den er ‟Early Man” nannte, fand er eingravierte Steinritzungen, die vielleicht Fußspuren von Emus symbolisieren und sich durch weitere Grabungen auf ein Alter von mindestens 13.500 Jahren datieren ließen.
‟Ihr steht hier mindestens knöcheltief in der Traumzeit, und das ist eine gewaltige Untertreibung”, sagte Percys Sohn Steve, als wir vor diesen Petroglyphen standen.
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