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Sonntag, 21. Juli 2013
Viminacium

Wir verließen Belgrad frühmorgens Richtung Südosten.
Damit stießen wir nicht nur tiefer in den Balkan vor, sondern reisten zugleich auch weit in der Zeit zurück. Weiter noch als Ernest Gellner 1994 in seinem Buch On Civil Society prophezeite, als er den Balkan zu einer dritten Zeitzone Europas erklärte, die sich auf dem Abstieg zu einem Dritte-Welt-Niveau in Europa befinde.
Anfangs war noch alles sehr neuzeitlich, der Autoput frisch asphaltiert und nahezu leer, danach auch die Landstraße in gutem Zustand, abgesehen von der Beschilderung, die auf der weiteren Reise durch Serbien und Montenegro von “lückenhaft” über “irreführend” zu “nicht vorhanden” abnehmen sollte. Die Landschaft war offen, überwiegend flach und grün, bis sie sich plötzlich zu einem klaffenden, dunklen Schlund öffnete, einem Riesenmaul mit gestuften Randlippen: Braunkohletagebau.
In den Tiefen der dunklen Flöze sind die Bagger auf eine ganze Herde von Mammuts gestoßen. 2009 gruben sie 27 Meter unter der Erde das nahezu vollständige Skelett einer bei ihrem Herzinfarkt 50 bis 60 Jahre alten Mammutdame aus, und letztes Jahr fanden Archäologen in derselben Grube an einem einzigen Tag Skelette von fünf weiteren Mammuts. – Und noch etwas: direkt neben den Schloten des Kraftwerks, das die Kohle verstromt, liegen die Reste des römischen Legionslagers Viminacium über ein Areal von 450 Hektar verstreut.

Volle zwei Legionen sicherten hier 400 Jahre lang die Donaugrenze des Imperiums zuerst gegen die Daker, später gegen die Goten und zuletzt gegen die Hunnen, die Lager und Stadt bei einem Einfall 441 vollkommen zerstörten. Mehr als 13.000 Gräber wurden in 25 Jahren Grabungsarbeiten gefunden. Viminacium war also kein kleines municipium, sondern die recht große Hauptstadt der Provinz Obermösien an der Via diagonalis. Die sechs Meter breite Heerstraße verlief von Konstantinopel diagonal über die Balkanhalbinsel nach Nordwesten bis zur pannonischen Provinzhauptstadt Sirmium und verband unterwegs alle größeren römischen Orte. Für Viminacium sind etliche Aufenthalte amtierender Kaiser belegt, es besaß einen Hafen für die römische Donauflotte, viele Handwerksbetriebe, Handelshäuser und Werkstätten.
Als die Hunnen über die Donau setzten, hatte Viminacium bereits eine so lange kontinuierliche Siedlungsgeschichte aufzuweisen wie heute die älteste englische Siedlungsgründung Nordamerikas, Jamestown. Man stelle sich vor, morgen kämen die Krieger der Powhatan-Konföderation den James River herabgeritten und würden Jamestown mitsamt dem nahen Williamsburg dem Erdboden gleichmachen und alle Einwohner töten oder in die Sklaverei verschleppen. – Dann wäre aber was los im amerikanischen Imperium!

Im römischen Imperium damals war auch was los, nur konnten die Römer Attila und seiner asymmetrischen Kriegführung noch zehn Jahre lang nicht wirklich beikommen. Theodosius, der Kaiser Ostroms, mußte ihm hohe Schutzgelder und Tribute zahlen, und dennoch brannten Attilas Krieger immer weiter römische Städte auf dem Balkan nieder, darunter Serdica (Sofia) und Singidunum (Belgrad).
Erst als die Balkanprovinzen des Ostreichs ausgeblutet waren, fielen die auf weitere Beute versessenen Hunnen in die Provinzen des weströmischen Reichs ein, wo Attila in Gestalt des de-facto-Regenten des Westreichs, dem Heermeister Aëtius, auf einen überlegenen Feind traf, der den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug der Attila-Hunnen im April des Jahres 451 auf den Katalaunischen Feldern zum Stehen brachte. Die lagen mehr als 1700 Kilometer von Viminacium entfernt in der heutigen Champagne. Und von dort kamen vermutlich einige der modernen (nicht nur mit Hanf gedopten) Hunnen auf ihren drahtigen Eseln, die auf ihrer Tour de Serbie unseren Weg kreuzten. Seltsame Vergleiche kommen einem dieser Tage in den Sinn.

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