Paris, meine toten Freunde, Kirschen in China,
sie erscheinen mir noch, während ich hier schweige, wache und sterbe,
und kalt, wie ein Klotz, auf der Asche liege.
Nur, dies sind nicht mehr wir, das Leben, Sterne,
sondern Ungeheuer, Delphine, Polypen,
die sich über uns wälzen und reiten und treiben,
und heulen: “Staub, Asche, Tod.”
(Miloš Crnjanski: Klagelied über Belgrad)
Belgrad, diese wüste Agglomeration, macht es einem nicht leicht; Bewohnern nicht und Besuchern nicht. Dabei ist das “Tor zum Balkan” eigentlich herrlich am Zusammenfluß von Donau und Save gelegen. Ein Stück weit fließen das dunklere und klarere grüne Wasser der Save und das bräunlich-trübere der Donau noch im selben Bett unvermischt nebeneinander. Mit unfehlbarem Blick haben schon die römischen Militärs die überragende strategische Bedeutung dieser Brückenkopflage erkannt und bei ihrer Ostexpansion aus einem kleinen keltischen Dorf ein stark befestigtes Legionslager gemacht. Obwohl in der Völkerwanderung mehrmals von Hunnen, Sarmaten und Goten gestürmt und geplündert, beeindruckten die steinernen Bauten des oströmischen Singidunum die im 7. Jahrhundert landnehmend eindringenden Slawen so sehr, daß sie es Belgrad, die Weiße Stadt, nannten. Grenzstadt ist es durch die Jahrhunderte geblieben. Die Byzantiner befestigten es erneut gegen die Ungarn, und nachdem die türkischen Osmanen 1521 Belgrad eroberten, verlief an der Save für 350 Jahre die schwer zu überschreitende Grenze zwischen Okzident und Orient.
Belgrad gegenüber lag am sumpfigen Nordufer der Save als österreichisch-ungarische Grenzstadt Semlin (heute als Zemun Stadtteil von Neu-Belgrad).
“Die zwei Grenzstädte sind weniger als einen Gewehrschuß voneinander entfernt, doch ihre Bevölkerung hat keinen Umgang”, hielt der englische Reisende Alexander Kinglake auf seiner Tour in den Orient 1834 fest. “Nachdem wir mit einem Geschöpf oder Gegenstand, die zum Ottomanischen Reich gehörten, in Kontakt gekommen sein würden, würde es uns unmöglich sein, auf österreichisches Territorium zurückzukehren. [Der “aussätzige” Beamte am Fähranleger] fragte noch einmal, ob wir mit der zivilisierten Welt abgeschlossen hätten.” (Kinglake, Eothen).
Victor Hugo dichtete um dieselbe Zeit:
Semlin, deine schwarzen Türme,
Belgrad, deine Minaretts [...]
Diesen schönen Ort zur Hölle
Wandeln Kreuz und Halbmond um;
Für Koran und Evangelium
Tauscht behende Bomben ihr.
160 osmanische Stadtpalais (Serails) und mehr als zweihundert Moscheen sollen Belgrad im 17. Jahrhundert geschmückt haben. Eine einzige habe ich noch gefunden. Seit dem von den europäischen Großmächten erzwungenen Abzug der letzten türkischen Garnison 1867 wurde die Stadt von den Serben vorsätzlich vollständig “deosmanisiert”.
Einen Tag nach der Kriegserklärung nach dem Attentat von Sarajewo griff Ende Juni 1914 die österreichische Armee Belgrad an, nahm es und wurde von den Serben wieder vertrieben, eroberte die Stadt 1915 mit deutscher Unterstützung erneut.
Trotz der Kriegsschäden wuchs Belgrad nach dem Ersten Weltkrieg als Hauptstadt des Königreichs Jugoslawien, dessen Regent, Prinz Paul, nach dem Attentat kroatischer Ustascha auf König Alexander I. 1931 in Marseille sich zunehmend an Deutschland anlehnte. Doch als er auf Druck Hitlers im März 1941 den Dreimächtepakt unterzeichnete, kam es zu einem von England unterstützten Putsch von Armeeoffizieren mit Kronprinz Peter an der Spitze. Nur zwölf Tage später marschierte die Wehrmacht in Jugoslawien ein, und Belgrad wurde durch die Luftwaffe massiv bombardiert.
Was die Deutschen stehen ließen bzw. nach ihrem Plan, Belgrad zu einer die Donauübergänge sichernden “Reichsfestung” zu machen, wieder aufbauten, zerstörten über fünf Monate sich wiederholende Bombenangriffe der Alliierten im Sommer 1944.
Der anschließende sozialistische Wiederaufbau der Weißen Stadt wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens ent-titoisiert, d.h. die modernistischen Neubauten der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre verfielen oder wurden irgendwie privatisiert, was meist auf dasselbe hinauslief.
Im Frühjahr 1999 bombardierte vorläufig zuletzt die NATO in einer völkerrechtlich mehr als zweifelhaften “Operation Allied Force” Belgrad und andere Ziele in Serbien mit Marschflugkörpern und Streubomben erneut – in Kriegsphase III (“stark ausgeweitete Bombenziele”) wurden an manchen Tagen mehr als 700 Einsätze geflogen. Insgesamt wurden es in den 78 Tagen des NATO-Luftkriegs 38.000 Feindflüge, bei denen mehr als 23.000 Bomben und Raketen abgeworfen und abgefeuert wurden. Etwa 2000 Soldaten und Zivilisten fielen auf serbischer Seite, die materiellen Schäden schätzte die Belgrader Regierung auf 190 Milliarden DM. Dabei hat die NATO mit ihren “Präzisionsschlägen” an feindlichem Kriegsgerät zu eigenem Erschrecken weniger als 100 Panzer, 400 Geschütze und 500 andere Militärfahrzeuge getroffen. Und der erklärte Hauptfeind, Milošević, befand sich bei Einstellung der Kampfhandlungen noch immer im Amt.
“Der Kosovo-Krieg ist in mehrfacher Hinsicht ein Wendepunkt der internationalen Politik”, bilanzierte im Januar 2000 Spiegel-Autor Erich Follath in einem Kosovo-Dossier. “Zum ersten Mal hat das zur Verteidigung geschlossene Bündnis einen souveränen Staat angegriffen. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg waren deutsche Soldaten in solche Kampfhandlungen verwickelt. Der Krieg wurde an den Vereinten Nationen vorbei geführt und das Völkerrecht dabei außer Kraft gesetzt.
Die Verbrechen der Nazis, jahrzehntelang wichtigste Begründung für eine besondere Friedenspflicht der Deutschen, dienten nun als Beleg für die sittliche Notwendigkeit des Krieges.”
Die Ruinen der zerbombten Häuser sind im Belgrader Stadtbild heute, vierzehn Jahre danach, noch gut zu sehen. Der anhaltende wirtschaftliche Niedergang und die zunehmende Armut tun ein übriges, um Belgrad in vielen Teilen zu einer lauten und ziemlich heruntergekommenen, schmutzigen Stadt mit einem harten Antlitz und noch härteren Alltagsbedingungen zu machen.
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