Mittwoch, 25. April 2012
Theodor Strehlow und die Traumpfade
Unter den Kindern, die hier nachts in die Schlafsäle eingesperrt wurden, bewegte sich tagsüber auch Strehlows jüngster Sohn Theodor. (Seine fünf älteren Geschwister hatten die Eltern zur Erziehung nach Deutschland geschickt.) Seine Muttersprache war Deutsch, doch seine zweite Sprache Aranda (Englisch seine dritte). Der Vater nahm Erziehung und Unterricht seines Jüngsten selbst in die Hand und unterwies ihn auch in klassischen Fächern wie Latein und Griechisch so gut, daß Theodor nach dem frühen Tod des Vaters 1922 mit Auszeichnung die höhere Schule und anschließend die Universität in Adelaide absolvierte. Auf Vermittlung seiner Mentoren dort erhielt er ein Stipendium zur Erforschung der Aranda-Kultur und kehrte nach Hermannsburg zurück.
Dort erwarb er sich das Vertrauen der Eingeborenen, die ihn von früher kannten und deren Sprache er beherrschte. Der letzte Ingkata oder Ceremonial chief eines Klans führte Strehlow 1933 in eine Runde von Stammesältesten ein, die alle befürchteten, ihr geheimes Wissen werde mit ihnen aussterben, weil die Jungen dessen nicht würdig oder unter dem Einfluß der Missionare desinteressiert seien. In den folgenden beiden Jahren ließen die Ältesten Strehlow an mehr als 160 geheimen Ritualen ihres Volkes teilnehmen.
1936 übernahm er den Posten eines Patrol Officers für seinen Heimatdistrikt, um weiter Informationen über die Kultur der Aborigenes sammeln zu können. Viele Weiße nahmen ihn nicht ernst, doch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs schlug die Belustigung oft in Anfeindungen wegen seiner deutschen Herkunft um. Immerhin wurde Strehlow so weit geachtet, daß man ihn nicht internierte, und 1942 trat er in die australische Armee ein. Erst weit nach Kriegsende und nachdem alle seine eingeborenen Gewährsleute gestorben waren, publizierte er 1947 seine Studie über Aranda Traditions. – Mehr offizielle Anerkennung erhielt er für seine linguistischen Arbeiten über die Sprache der Aranda, die ihm eine Stelle an der Adelaider Universität eintrugen.
An seinem eigentlichen magnum opus arbeitete Strehlow lange und hielt es noch länger zurück. 1971 veröffentlichte er in einer kleinen Auflage von 1000 Exemplaren Songs of Central Australia. Da hatten Interessierte womöglich schon von “Songlines” bei den Eingeborenenstämmen im Landesinneren gehört. 1956 etwa hatte sich die amerikanische Ethnologin Nancy D. Munn ein Jahr lang bei den Warlpiri in Yuendumu aufgehalten, um Zusammenhänge zwischen ihren Bildern, Erzählungen und Gesängen zu erforschen. Sie erfuhr, die Ahnen hätten ihren Träumen konkrete Form in Gestalt von (a) Spuren in der Landschaft und (b) Gesängen gegeben, die diese Spuren lokalisierten und benannten. Zu jedem von den Vorvätern bezeichneten Ort mit Spuren aus der Traumzeit gebe es einen überlieferten Gesang. Dem Weg, den die Vorväter durchs Land genommen hatten, könne man anhand einer bestimmten Abfolge dieser Gesänge folgen. Das Warlpiriwort für Gesang, yiri, bedeutet auch Name und Spur. Eine bestimmte Abfolge von yiris bezeichneten die Warlpiri als “Songline”.
Die Ergebnisse ihrer Forschungen veröffentlichte Munn erst 1973 (Walbiri Iconography); da lag im Prinzip auch Ted Strehlows Buch über die Songs of Central Australia vor, doch zunächst interessierte sich in Australien niemand dafür. Erst Jahre später bezeichnete Adolphus Elkin, die emeritierte Eminenz der australischen Anthropologie, Strehlows Buch als eines der drei wichtigsten ethnologischen Werke, die je über Australien geschrieben worden seien. Strehlow hatte so gut wie nichts von diesem Lob. Die weiße Gesellschaft las und beachtete sein Buch nicht, mit den Aborigenes hatte Strehlow selbst eine Fehde begonnen, indem er ihnen vorwarf, durch Aufgabe ihrer traditionellen Lebensweise ihre eigene Kultur und ihr Land selbst zu verraten. Solche Vorwürfe kamen der gerade erst aufkeimenden Landrechtebewegung natürlich quer, und sie warf Strehlow ihrerseits vor, sich fälschlich anzumaßen, mehr über ihre alte Kultur wissen zu wollen als die Aborigenes selbst. Besonders lauten Widerspruch rief es hervor, als bekannt wurde, daß Strehlow in seinem Haus in Adelaide eine Sammlung geheimer Zeremonialgegenstände aufbewahrte, darunter viele Tjurungas, mit Magie aufgeladene heilige Steine oder hölzerne Artefakte, die allein von initiierten Eingeborenen überhaupt angesehen werden dürften. Vier Monate nach seinem 70. Geburtstag und nachdem er der deutschen Illustrierten Stern Fotoaufnahmen von geheimen Initiationszeremonien verkauft hatte, starb Ted Strehlow an den Folgen eines Herzinfarkts. Vielleicht rührte er aber auch von der Aufregung von der für denselben Tag geplanten Eröffnung einer Strehlow-Forschungsgesellschaft her. Nach der Beerdigung stellte sich heraus, daß der Verstorbene seine Frau Kath als Treuhänderin seiner ethnografischen Sammlung eingesetzt hatte, was die Aborigenes noch mehr erbitterte, denn eine Frau durfte die Tjuringas schon gar nicht zu Gesicht bekommen! Knapp fünf Jahre nach Strehlows Tod klopfte ein Mann von Anfang vierzig in Khakishorts und weißen Socken, mit einem Lederrucksack über der Schulter bei Kath Strehlow an. Telefonisch hatte er sich als begeisterter Leser von Theodor Strehlows Aranda Traditions ausgegeben. Sein Name war Bruce Chatwin.
Chatwins neustes Buch, On the Black Hill, erklomm zwar gerade die Bestsellerlisten auch in Australien und wurde sogar von Berühmtheiten wie John Updike positiv besprochen, persönlich aber steckte er in einer tiefen Krise und war aus zweierlei Gründen von England nach Australien geflogen. Zum ersten mußte er sich noch von einer Operation erholen, über deren Ursache er sich nicht äußern wollte. Diana Melly, die Frau von Jazzsänger George Melly, in deren Haus in Wales er die ersten Wochen nach dem Eingriff verbracht hatte, erklärte seinem Biografen Nicholas Shakespeare: “It was something genital and he did not want to talk about it.”
Der zweite Grund war nicht körperlicher Natur. Nach der Vollendung von On the Black Hill bekannte er seiner Frau Elizabeth “tremendous difficulty dreaming up what to do next.” Chatwin steckte auch in einer Schreibkrise. Im Dezember ‘82 hatte er schließlich den Zettelkasten mit den Notizen zu seinem ewig unvollendeten Buch über “Die nomadische Alternative” eingepackt und war damit nach Australien geflogen. Nach einem anscheinend recht wilden Aufenthalt in Sydney und am Bondi Beach (“the surfers so unbelievably elegant”) verfiel er auf den Gedanken, sich mit seinem Manuskript “in the most abstract desert I could think of” zurückzuziehen, und dort eine “ausführliche Meditation über die Wüste” zu schreiben.
Am 28. Januar 1983 landete er bei Kath Strehlow in Adelaide zwischen, um mehr über die von ihrem Mann beschriebenen “Tjuringa Lines”, auch “Dreaming tracks” oder “Songlines” genannt, zu erfahren und möglichst ein Exemplar der Songs of Central Australia zu ergattern. Sie gab ihm ein ungebundenes Probeexemplar und eine Landkarte und legte noch Strehlows Tagebuch dazu. Die nächsten Stunden, so Shakespeare, wurden für Chatwins nächste vier Jahre entscheidend.
“I sat down, only for a morning”, erzählte Chatwin seinem Schriftstellerkollegen Colin Thubron, “and I suddenly realised everything that I rather hoped these songlines would be, just were.”
1987 erschienen Bruce Chatwins Songlines, auf deutsch: Traumpfade.
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